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Andreas Einig: Wie im Himmel so auf Erden

Rezensiert von Prof. em. Dr. Ortfried Schäffter, 16.09.2015

Cover Andreas Einig: Wie im Himmel so auf Erden ISBN 978-3-8487-0978-6

Andreas Einig: Wie im Himmel so auf Erden. Spiritualität in der Personal- und Organisationsentwicklung. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 361 Seiten. ISBN 978-3-8487-0978-6. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR, CH: 55,90 sFr.
Reihe Diakoniewissenschaft, Diakoniemanagement, Bd. 3.

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Institutionstheoretische Ausdeutung des Themas

Die grundlagentheoretisch angelegte und hierbei dennoch praxisfeldorientierte Untersuchung entwickelt den konzeptuellen Rahmen für eine diakoniewissenschaftliche Organisationstheorie. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Überwindung der bei sogenannten „Tendenzbetrieben“ zu beobachtenden dichotomen Trennung zwischen einerseits wertgebundener Trägerschaft und andererseits einer weitgehend fachbezogenen professionellen Handlungslogik auf der nachgeordneten Einrichtungsebene sozialwirtschaftlicher Unternehmen. Eine derartige Unverbundenheit führt in konfessionellen, gewerkschaftlichen, politischen und anderweitig wertbasierten Organisationen oft genug zu Inkonsistenzen und latenten Zielkonflikten. Im besonderen Fall von Einrichtungen und Unternehmen in konfessioneller Trägerschaft gelangt dies in einem kaum überbrückbaren Spannungsverhältnis zwischen „sakraler“ Ansprüchlichkeit auf der Trägerebene und bestürzend „profaner“ Alltagswirklichkeit auf der Unternehmensebene zum Ausdruck. Für den daraus erklärlichen Legitimationsverlust kann die Tradition diakonischer Arbeit bedauerlicherweise als exemplarisches Beispiel gelten, wie die aktuelle Diskussion über institutionelle Missbrauchserfahrungen deutlich macht.

Die organisationstheoretische Sicht

Vor diesem Problemhintergrund verdient die vorliegende Untersuchung somit ein über Diakonie hinausreichendes allgemeines organisationstheoretisches Interesse. Im Kontext einer in Entwicklung befindlichen Diakoniewissenschaft und deren „Erdung“ in einem konkret ausdifferenzierten „Diakoniemanagement“ wird ein ganzheitliches Verständnis von Dienstleistungsorganisation entwickelt und unter Heranziehung relevanter Referenztheorien begründet. Bei diesem Managementformat geht es darum „die Beziehung zu Gott bewusst in den Unternehmensalltag zu integrieren“ (19). In einer institutionstheoretischen Deutung, bei der „Organisation“ nicht allein instrumentell gefasst, sondern in einen übergreifenden sinnstiftenden Bedeutungskontext eingebettet wird, beschränkt sich folglich die praktische Wirksamkeit eines Trägers nicht auf eine formale Rechtsträgerschaft, vielmehr stellt die Trägerebene einen übergreifenden Bedeutungshorizont bereit, der in seinen handlungsleitenden Prinzipien bis in die Tiefenstrukturen alltäglichen Handelns der Organisation und damit auch in die professionelle Identität der Mitarbeiterschaft hinein wirksam wird. Die Untersuchung beruht in diesem Zusammenhang auf einer mehrstufig integrierten Organisationstheorie, in der drei Operationskreise einer (1) übergreifenden normativen Ordnung mit der (2) instrumentalen Organisation auf der Ebene einer Einrichtung sowie (3) den beide Ebenen fundierenden lebensweltlichen Voraussetzungen in wechselseitigen Bezug gesetzt werden. Hierbei zeichnet sich Diakonie durch eine Besonderheit aus, die ihr einen spezifischen Problemzugang verschafft: Im Gegensatz zu den sonst bekannten Organisationstheorien, die in Praxiskontexten gesellschaftlicher Funktionssysteme wie Wirtschaft, Gesundheit, Wissenschaft, Bildung oder Sozialer Hilfe entwickelt wurden, bekommt man es in einem diakoniewissenschaftlichen Kontext mit einem Organisationsmodell zu tun, das sich konsequent im Bedeutungshorizont des Religionssystems einer Gesellschaft bewegt und somit auch theologisch, religionssoziologisch und ekklesiologisch begründet. Hierdurch sprengt der thematische Fokus der Untersuchung unter Bezugnahme auf die einschlägigen organisationstheoretischen Diskurse den anderenorts gegebenen konzeptionellen Rahmen und bietet damit einen weitgehend ungewohnten Problemzugang. Aus institutionstheoretischer Sicht gilt es daher zu beachten, dass es eine Organisationstheorie im Bedeutungskontext des Religionssystems in dem Operationskreis der einrichtungsübergreifenden Ordnung nicht mehr mit einem „mundanen“, d.h. gesellschaftlich immanenten Bezugssystem zu tun bekommt, sondern vielmehr mit einer sakralen Ordnung und folglich mit der Leitdifferenz zwischen Immanenz und Transzendenz.

Die diakoniewissenschaftliche Sicht

Eine diakoniewissenschaftlich gehaltvolle Organisationstheorie hat somit den sakralen Bedeutungshorizont mit der profanen Alltäglichkeit sozialer Dienstleistung in ein produktives Verhältnis zu setzen und managementtheoretisch mit hierfür adäquaten Verfahren der Organisations-und Personalentwicklung praktisch zu untermauern. Als theoriestrategisch zentrales Medium transzendentaler Vermittlung, das damit zugleich als spezifische Ressource diakonischer Organisation erkennbar und aktivierbar wird, erweist sich in diesem Deutungszusammenhang die Fähigkeit der Mitarbeiter/innen zur „Spiritualität“. Mit dieser, als „vornormativ“ bezeichneten Kategorie transzendentaler Bedeutungsbildung erschließt der hier vorgestellte Ansatz einer diakoniewissenschaftlich basierten Organisationstheorie eine bislang nur unzureichend verstandene und kaum operational gefasste Dimension konfessioneller Dienstleistungsorganisation. Sie bietet mit ihrer Operationalisierung von Spiritualität anhand von Elementen der Personal- und Organisationsentwicklung (PE/OE) zugleich den organisationstheoretisch verallgemeinerungsfähigen Zugang zu einem überkonfessionellen Verständnis von Spiritualität als intermediärer Relationierung bislang getrennter Dimensionen und Bedeutungshorizonte organisationalen Handelns. Metaphorisch verdichtet findet sich der hier zusammengefasste Themenkomplex in dem Titel der Arbeit wieder: „Wie im Himmel so auf Erden“ bezeichnet folglich das vertikale Spannungsfeld einer diakonischen Organisationsstruktur zwischen Trägerhorizont und Einzelunternehmen. Diese Relation wird in der Untersuchung als „Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen zur Personal- und Organisationsentwicklung (PE/OE)“ gefasst. In der kontextspezifisch theologischen Terminologie geht es ihr im thematischen Fokus darum, „die Beziehung zu Gott bewusst in den Unternehmensalltag zu integrieren“ und hierzu die bisher anderenorts entwickelten organisations- und managementtheoretischen Konzepte heranzuziehen und diakoniewissenschaftlich zu modifizieren.

Entstehungshintergrund

Bei der Untersuchung handelt es sich um die Publikation einer Dissertation am Institut für Diakoniewissenschaft und DiakonieManagement (IDM) der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel (Hochschule für Kirche und Diakonie), deren normative Leitlinien der Arbeit explizit zu Grunde gelegt werden. Exemplarisch genannt werden: – „Werteorientiert wirtschaften“ – „Normen und gesellschaftliche Wirklichkeit wahrnehmen“ – „Interdisziplinär denken lernen“ – „Theorie und Praxis verbinden“ – „kreativ arbeiten“ – „Leitplanken anbieten“.

Die Forschungsarbeit stützt sich auf praktische Erfahrungen mit Organisationsberatung und Personalentwicklung, die der Verf. im Orden der „Barmherzigen Brüder Trier e.V.“ gemacht hat. Sie lässt sich somit dem Bereich einer kontextintegrierten Praxisforschung zuordnen, der zufolge Quelle und Verwendungsbereich einer transdisziplinär angelegten Forschung auf das zu erschließende Handlungsfeld bezogen werden. Aufgrund dieser Form von theoriegenerierendem Praxisbezug beschränkt sich die Arbeit nicht allein auf eine der christlichen Konfessionen, sondern „bezieht sich gleichermaßen auf diakonische wie auf caritative Unternehmen.“ Der explizit ökomenische Zugang (19, Fußn. 1) findet auch im Rahmen der Theoriebildung auf der ekklesiologischen Ebene von Organisationsentwicklung Berücksichtigung. Aus dem Entstehungshintergrund einer diakonischen Ordensgemeinschaft begründet sich zudem der bis zuletzt durchgehaltene Selbstanspruch einer konsequenten Praxisorientierung, der zufolge die grundlagentheoretischen Klärungen bis in die Einzelelemente und Managementinstrumente einer diakoniewissenschaftlich angelegten Personal- und Organisationsentwicklung durchdekliniert werden und damit in der Tat der erwähnten Leitlinie gerecht werden, für die Diakonie „Leitplanken“ für praktisches Handeln bereitzustellen.

Teilziele und Aufbau

Aus dem vorrangigen Erkenntnisinteresse der Untersuchung, die alltägliche Praxis eines diakonischen Unternehmens aus einem alle organisationalen Teilelemente übergreifenden Bedeutungshorizont von Personal- und Organisationsentwicklung heraus in einem Modus nachhaltig gestalten zu können, der sich aus einer „christlichen Spiritualität als vornormativer Dimension“ begründet und seine institutionelle Gestaltungskraft bezieht, leiten sich Teilziele ab, die im Argumentationsverlauf in drei Schritten kleingearbeitet werden:

  • Explikation einer Grundlagentheorie zu unternehmerischer Diakonie und zu Spiritualität als Wirkfaktor von PE/OE
  • Identifizieren von Strukturelementen im Managementmodell in Form einer kritischen Würdigung vorhandener Managementmodelle in Bezug auf deren Möglichkeiten zur Integration von Spiritualität in die PE/OE in diakonischen Einrichtungen.
  • Bestimmung von Instrumenten der Personal- und Organisationsentwicklung zur Entwicklung eines Managementmodells für diakonische Unternehmen, in denen Spiritualität als integratives, zielgenerierendes Medium im Sinne einer „vornormative Dimension“ eine institutionelle Steuerungsfunktion erhält.

In ihrem gesamten Argumentationsverlauf verfolgt die Darstellung nach einer theoretischen Einführung der Zentralkategorie „Spiritualität“ leitmotivisch das Ziel, diese in den Dimensionen Person, Gemeinschaft und Organisation handlungsrelevant zu operationalisieren und hierdurch das „neue St. Gallener Managementmodell“ modifizierend in der Weise zu erweitern, dass es sich für eine Institutionalform unternehmerischer Diakonie als passförmig erweist und zur Grundlage von PE/OE in diakonischen Unternehmen genutzt werden kann. Dies kommt auch in der Kapitelfolge zum Ausdruck:

  • Nach dem Einführungskapitel 1 zu Zielen, Aufbau und Struktur werden in Kap. 2 „die theoretischen Grundlagen zu unternehmerischer Diakonie, Spiritualität sowie PE/OE dargelegt, definiert und in ihrer Bedeutung und Wirkung betrachtet. Des Weiteren werden die zugrunde gelegten Managementmodelle. -ansätze und -konzepte in Bezug auf deren mögliche Integration von Spiritualität reflektiert.“ (27f.)
  • In das 3. Kap. fließen „die daraus resultierenden Ergebnisse in Form von Grundlagen für Spiritualität als vornormative Dimension der PE/OE diakonischer Unternehmen“ ein (28). Sie werden in Form von Elementen der PE/OE in einem für diakonische Unternehmen geeigneten Managementmodell modifizierend erweitert.
  • Die Umsetzung in Veränderungs- und Entwicklungsprozessen erfordert in einem weiteren Schritt in Kap. 4 eine operationalisierende Konzeptionalisierung in Form konkreter Instrumente der PE/OE, in denen der Bezug zur Spiritualität in den Dimensionen Person, Gemeinschaft, Organisation hergestellt und mit einander prozessual verschränkt werden.

Inhaltliche Schwerpunkte und Ertrag

Aus der Perspektive einer Allgemeinen Organisationstheorie und empirischer Organisationsforschung, die über ein spezifisch diakoniewissenschaftliches Erkenntnisinteresse hinausreicht, bietet die Untersuchung grob gesehen fünf Punkte, die von allgemeiner Bedeutung sind und die kommentierend hervorgehoben werden, weil sich aus ihnen heraus die Lektüre auch für Leser jenseits diakonischer Organisation lohnen könnte. Dabei handelt es sich um:

(1) Methodologie einer praxisreflektierenden Theoriegenerierung

Unter einem forschungsmethodologischen Gesichtspunkt bietet die Untersuchung ein diskussionswürdiges Beispiel für einen gegenwärtig wissenschaftspolitisch diskutierten Typus praxisintegrierter Theoriebildung, der transdisziplinär angelegt ist. Als kennzeichnend kann für ihn gelten, dass die Forschung ihren Ausgang nicht von der Gegenstandsbestimmung und systematischen Fragestellung einer bereits etablierten Wissenschaftsdisziplin nimmt, deren Wissensbestände nun in einem Praxisfeld „Anwendung“ finden. Im Gegensatz zum tradierten Modell „angewandter Wissenschaft“ nimmt die „Wissensproduktion“ praxisfeldintegrierter Forschung ihren Ausgang in einem spezifischen „context of application“, also eines Verwendungszusammenhangs (hier: Diakonie), aus dem heraus eine praxisrelevante Problemdefinition in Form einer erkenntnisleitenden Fragestellung generiert wird. Zu ihrer theoretischen Klärung als erster Schritt zur praktischen Problemlösung wird nicht eine „Professionswissenschaft“ für allein zuständig erklärt, sondern stattdessen ein multidisziplinärer Ansatz gewählt, in dem unterschiedliche mit einander konkurrierende Referenztheorien je nach ihrer Eignung für den Verwendungszusammenhang des Praxisfeldes bestimmt und zur lösungsorientierten Theoriegenerierung herangezogen werden. In Kontrast zur externen Beobachterperspektive disziplinärer Forschung geht es um die Gewinnung einer theoretisch reflektierten „Binnenperspektive“ innerhalb eines Praxisfeldes. In der vorliegenden Untersuchung wird diese engagierte Forschungsleistung in Rückgriff auf Dietrich Bonhoeffer mit der Formel: „Cum ira et studio“ (65) gefasst. Forschung bewegt sich in diesen Zugängen somit auf einer kontextgebundenen „transdisziplinären Ebene“ von Wissenschaft. „Diakoniewissenschaft“ entwickelt sich gegenwärtig folglich nicht auf einer disziplinären, sondern auf einer praxisfeldgebundenen „transdisziplinären“ Ebene gesellschaftlicher Institutionalisierung in einer Verbindung von Praxisforschung und Lehre. Dieser noch unvertraut erscheinende „Modus“ von kontextgebundener Theoriegenerierung wird in der Organisationsforschung implizit seit jeher erfolgreich praktiziert, wird aber erst neuerdings wissenschaftstheoretisch im Rahmen eines „Re-thinking Science“ begründbar. Vor dem Hintergrund dieses internationalen Diskurses erhält der methodologische Ansatz der hier referierten Untersuchung eine exemplarisch verdeutlichende Funktion, die es über „Diakoniewissenschaft“ hinaus wahrzunehmen und in der Organisationsforschung kritisch aufzugreifen gilt.

(2) Exemplarische Analyse einer intermediären Institutionalform

Als ein grundlagentheoretisch interessanter Ertrag zu einer in Entwicklung befindlichen Diakoniewissenschaft wird bereits erkennbar, dass gerade über einen organisationsanalytischen Zugang die intermediäre Funktion der Diakonie zwischen lebensweltlicher Alltagspraxis und der Institution der Kirche als der zentralen Institutionalform des Religionssystems einer Gesellschaft mit christlicher Prägung und Traditionsbeständen zukommt. In der Untersuchung wird das Verständnis von Diakonie als ein „Akt des Dazwischengehens bzw. Vermittelns“ (31) und damit einer intermediären Instanz grundlagentheoretisch herausgearbeitet. Sie wird damit als eine intermediäre Institutionalform bestimmbar. In theologischer Deutung wird hierbei konkretisierbar, was unter „Kirche als Gemeinde“ im Sinne einer „sanctorum communio“ verstanden wird, nämlich die Gemeinschaft der Gläubigen als ein relationales Feld der Bedeutungsbildung. Die hier aufscheinende ekklesiologische Problematik zwischen einem katholischen und protestantischen Verständnis von Kirche bleibt jedoch offen. Organisationstheoretisch wird mit intermediären Instanzen eine strukturelle Scharnierstelle gesellschaftlicher Integration durch Vernetzung getrennter Bedeutungskontexte berührt, die in anderen Funktionssystemen ebenfalls hoch relevant sind und die auch dort basalen Strukturen auf einer „vor-normativen“ Ebene voraussetzen.

(3) Impulse für den organisationstheoretischen Diskurs

Als herausragender Impuls kann die Einführung und grundlagentheoretische Begründung der organisationswissenschaftlich neuartigen Kategorie der Spiritualität gelten, die zunächst befremdlich wirken muss, wenn sie nicht begrifflich geklärt und in einen organisationstheoretischen Bezugsrahmen eingebettet wird, wie es in der Untersuchung jedoch systematisch erfolgt. Eingeführt wird sie in die organisationale Struktur auf einer „vornormativen“ Ebene und somit als basale Vorbedingung von Institutionalformen des Religionssystems. Da „Spiritualität“ kategorial als reflexive Bezugnahme aller organisationalen Elemente und Handlungskontexte zu einem übergreifenden transzendentalen Wirkungszusammenhang gefasst wird, erhält sie kategorial einen überkonfessionellen, gewissermaßen strukturellen Charakter, bei dem man sich fragen kann, inwieweit sich derartig sinnkonstituierende vornormative Bedeutungshorizonte nicht auch bei Institutionalformen anderer Funktionssysteme wie Recht, Gesundheit oder Bildung identifizieren ließen. Die Untersuchung bietet gerade aufgrund der schrittweisen Einfügung von Spiritualität als organisationale Ressource der Bedeutungsbildung in die Architektur des St. Gallener Managementmodell Impulse, die weit über den diakonischen Kontext hinausweisen. Von allgemeinem Interesse ist darüber hinaus die Differenzierung zwischen den drei Dimensionen: Person – Gemeinschaft – Organisation, die als ein vertikal gestaffeltes Relationsgefüge gefasst und im Modus der Spiritualität zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. „Organisation“ stellt in einem derart institutionstheoretisch konzeptualisierten Gefüge nur eine Gestaltungsdimension eigener Logik neben den anderen dar, die in einem prozessualen Wechselverhältnis zur Personalentwicklung und zum Herausbilden einer Glaubensgemeinschaft steht. Die Anschlußfähigkeit an den organisationstheoretischen Diskurs wird durch eine explizite Bezugnahme auf das St. Gallener Konzept gewährleistet, das als Rahmen für die diakoniewissenschaftlich erweiternde Modifikation herangezogen und genutzt wird. Inwieweit beides miteinander kompatibel ist, wird leider nicht diskutiert.

(4) Einführung in die Spiritualitätsforschung

Vor einem möglichen Rezeptionshindernis sollte an dieser Stelle gewarnt werden: Die für diakoniewissenschaftliche Organisationstheorie zentrale Kategorie der Spiritualität hat nichts mit der Begrifflichkeit esoterischer Modeströmungen der Postmoderne gemein und sollte daher keinesfalls mit ihr in einen Topf geworfen werden. Die Qualität der Untersuchung besteht vielmehr in einer interdisziplinären Kategorialanalyse von dem, was im Zusammenhang von PE/OE unter „Spiritualität“ als einer zusätzlichen organisationalen Ressource verstanden werden kann. Zur Klärung wird ausführlich auf einschlägige Theoreme und religionswissenschaftliche Diskurse zurückgegriffen, die sich unter „Spiritualitätsforschung“ subsumieren ließen (Kap.2.2). Allein diese grundlagentheoretische Einführung, die leitmotivisch das Buch durchzieht und sich sowohl in den Dimensionen Person, Gemeinschaft und Organisation als auch in den unterschiedlichen Ebenen und Instrumenten von PE/OE konkretisiert, erschließt eine bislang ungewohnte und innovative Sicht auf Organisation.

Aus relationstheoretisch säkularisierter Sicht handelt es sich demzufolge bei Spiritualität um die reflexive Bezugnahme und produktive Auseinandersetzung einer Person, (Glaubens)Gemeinschaft oder Organisation auf die ihnen jeweils konstitutiv vorausgesetzten Bedingungen ihrer Existenz und dies unter Anerkennung ihrer prinzipiellen Unverfügbarkeit. Gerade die Unverfügbarkeit der je eigenen Konstitutionsbedingungen macht die strukturelle Leitdifferenz zwischen Immanenz und Transzendenz aus (59). Der Verf. betont, „dass in der PE/OE diakonischer Unternehmen ein Raum geschaffen werden [muss], in dem man sich mit diesen Fragen sowohl immanent als auch transzendent auseinandersetzen kann.“ (63). Allgemein gesprochen lässt sich Spiritualität somit definieren als Kompetenz zur produktiven Beziehungsaufnahme zwischen einer als transzendent wahrgenommenen Macht und der von ihr konstituierten Menschen und dies weitgehend unabhängig davon, wie diese machtvoll konstituierenden Voraussetzungen bezeichnet werden. Im christlichen Deutungszusammenhang von Diakonie und Caritas allerdings wird Spiritualität theologisch und ekklesiologisch als „die Verwirklichung des Glaubens unter den konkreten Lebensbedingungen bzw. als die Gestaltwerdung des Glaubens in Alltagsexistenz hinein“ verstanden.“ (45) Dabei wird die Auffassung vertreten, dass Spiritualität ein universeller Beziehungsmodus sei, der in Formen „spiritueller Kompetenz“ erschlossen werden kann. „Es handelt sich jedoch nicht um ein Exklusivrecht konfessioneller Organisationen […]. Im Gegenteil, es ist ein inklusiver Glaube und damit auch inklusive Spiritualität (47).

(5) Beitrag zur Diakonieforschung

Das Erkenntnisinteresse dieser Rezension ist überwiegend auf den organisationstheoretischen Ertrag fokussiert. Dies sollte jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass gerade aufgrund des in der Untersuchung gewählten Zugangs zur diakonischen Alltagspraxis über spirituelle Fragen der Personal- und Organisationsentwicklung eine grundlagentheoretische Dimension von Diakoniewissenschaft auf einer praxisfeldnahen Reflexionsebene zugänglich gemacht wird, was bereits an mehreren Stellen deutlich geworden sein dürfte.

Fazit und weiterführende Perspektiven

Das Schicksal eines Buchs hängt weitgehend davon ab, wem es in die Hände fällt und von wem es in welcher Lebenslage gelesen wird. Die Einsicht bringt Terentianus Maurus in einem Hexameter auf den Punkt: „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“. Dies gilt fraglos auch für die hier referierte Dissertation und ihre Rezension! Das Ziel der Besprechung konnte nur in dem Versuch einer Übersetzung bestehen, in der die organisationstheoretische Relevanz dieser nicht unbedingt leserfreundlich geschriebenen Studie an einer Reihe von Fragen deutlich wird. Hierbei wurden notwendigerweise nur solche Punkte herausgegriffen, die dem Rezensenten beim aufmerksamen Lesen relevant erschienen. Es spricht daher für die Vielschichtigkeit und Komplexität der behandelten Thematik, dass das Interessanteste des Buchs in den Fragen verborgen zu sein scheint, die in der Untersuchung noch offen geblieben sind und nach zukünftiger Klärung drängen. Nicht zuletzt erklärt sich das aus dem pragmatisch ausgerichteten forschungsmethodischen Ansatz, der in großer Entschiedenheit die Priorität auf die Ausarbeitung eines lösungsorientierten Verfahrens und konkreter Instrumente der PE/OE in diakonischen Unternehmen meinte setzen zu müssen. Hierdurch kamen wichtige Hintergrundsfragen zu kurz, die beim Lesen im Sinne von „Leerstellen“ (Ingarden) erfahrbar werden und die daher zukünftig diskutiert werden sollten. Hierzu bietet die Untersuchung fraglos einen problemerschließenden Einstieg. Es ginge dabei um folgende Punkte:

  • Führt die Dimension der Spiritualität nicht letztlich zu einer Totalisierung von PE/OE? Nachdem sich bereits die Theorie der Beruflichkeit und der unternehmensbezogenen Personalentwicklung der Subjektivität und Biografizität ihrer Mitarbeiter bemächtigen konnte, zeichnet sich nun die Gefahr ab, dass auch noch auf die Spiritualität als eine wertschöpfende Ressource zugegriffen und im Rahmen von PE/OE in geeigneten Instrumenten zum Steuerungsmedium eines Wirtschaftsunternehmens zugerichtet wird.
  • In der Untersuchung bleibt somit der Aspekt der Unterwerfung unter das machtvolle Ordnungssystem eines diakonischen Milieus weitgehend unterbelichtet, und die Dimension von Widerständigkeit beschränkt sich unter Bezug auf Bonhoeffer nur noch auf das Verhältnis zur externen gesellschaftlich-politischen Umwelt. Insofern bleibt die Untersuchung dem Kontext einer disziplinierten Ordensgemeinschaft weitgehend immanent verhaftet, ohne den Aspekt einer „totalen Institution“ (Goffman) in kritischer Reflexion zu berücksichtigen. Hier wünschte man sich an einigen Stellen über Paulus´ Römerbriefe hinaus „eine Prise“ Foucault als kritische Würze
  • Von institutionstheoretischem Interesse wäre in Weiterführung der Untersuchung auch, die ekklesiologische Dimension nicht auf ein übergreifend vorgegebenes, gewissermaßen zeitloses, Ordnungsgefüge zu reduzieren, sondern Kirche als eine Institutionalform eines gesellschaftlich fundierten Religionssystems in ihrem epochalen Strukturwandel historisch in den Blick zu nehmen und gegenwärtig erfahrbare Transformationsprozesse mit der Ebene diakonischer Praxis in wechselseitige Beziehung zu setzen.
  • Als Leerstelle fällt gerade im ekklesiologischen Zusammenhang auf, dass über weite Teile mit triadischen Strukturmodellen gearbeitet wird und dennoch kein Bezug zur ökomenischen Trinitätslehre hergestellt wird, in dessen Deutungshorizont Kirche als intermediäre Instanz theologische Begründung findet und in der auch Diakonie ihren relationstheoretischen Stellenwert erhält.
  • Ein weitgehend affirmativer und ordnungszentrierter Zugang zu diakonischer Praxis kommt auch in dem konsequenten Aussparen einer kritisch historischen Sicht zum Ausdruck. Auffällig ist hierbei die fehlende Berücksichtigung von Max Webers Analyse der calvinistischen Traditionsbestände und ihrer Bedeutung zumindest für ein protestantisches Verständnis von diakonischem Unternehmertum in einer marktwirtschaftlich kapitalistischen Ordnung. Auch die gegenwärtig diskutierte Aufarbeitung von Missbrauch in diakonischer Praxis wäre ein wichtiger Anlass, um auch mögliche Gefahren einer funktional instrumentalisierten Spiritualität in den Blick zu bekommen, von der sich die Arbeit nicht explizit frei hält. Es ginge darum, sich nicht in eine „Spiritualität der Destruktion“ zu verstricken, vor der gerade eine christliche Tradition leider nicht zu schützen vermag.
  • Als eine noch weitergehende Perspektive scheint die mögliche Bezugnahme auf eine konfessionsübergreifende Philosophie der Gelassenheit und des „Lassen-Könnens“ implizit in den grundlegenden Überlegungen der Untersuchung auf. Sie wäre auf einen ökomenischen Diskurs zu asiatischen Philosophemen (wie bei Kitaro Nishida) hin anzulegen. Inwieweit dies überhaupt mit den weltanschaulichen Grundüberzeugungen der St. Gallener Managementschule kompatibel ist, oder ob deren Modell ganz entgegen ihrer ursprünglich funktionalistischen Eigenlogik nur als „wilder Stock“ zur „spirituellen Veredelung“ überformt wird, verlangt gleichfalls nach einer kritischen Klärung.

Rezension von
Prof. em. Dr. Ortfried Schäffter
Humboldt-Universität zu Berlin
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Es gibt 5 Rezensionen von Ortfried Schäffter.

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ISSN 2190-9245