Ahmet Toprak: "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen"
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.10.2004

Ahmet Toprak: "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen" Elterliche Gewaltanwendung in türkischen Migrantenfamilien und Konsequenzen für die Elternarbeit.
Centaurus Verlag & Media KG
(Freiburg) 2004.
152 Seiten.
ISBN 978-3-8255-0478-6.
18,50 EUR.
CH: 29,30 sFr.
Reihe: Pädagogik - Band 21.
Von der "Ausländerforschung" zur Migrationsforschung
Vielleicht kann man das provozierende "Manifest", bei dem 60 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 1994 die Problemfelder von Migration, Integration und zugewanderten Minderheiten als ein vernachlässigtes politisches Gestaltungsfeld anprangerten (Klaus J. Bade, Hrsg., Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, München 1994) tatsächlich als einen neuen Impuls zur Migrationsforschung in unserem Land ansehen. In den folgenden Jahren sind eine Reihe von wichtigen Beiträgen zur disziplinären und interdisziplinären Forschung erschienen; z. B.:
- S. Angenendt (Hrsg.), Migration und Flucht, 1997;
- A. Treibel, Migration in modernen Gesellschaften, 1999;
- P. Han, Soziologie der Migration, 2000;
- I. Gogolin / B. Nauck (Hrsg.), Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung, 2000;
- K. J. Bade / R. Münz, Migrationsreport 2002 (vgl. dazu die Rezension);
- U. Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, 2001;
- T. Badawia / F. Hamburger / M. Hummrich (Hrsg.), Wider die Ethnisierung einer Generation, 2003, u.a. (vgl. dazu die Rezension).
Neben diesen "Bestandsaufnahmen" gibt es erfreulicherweise in den letzten Jahren mehrere Untersuchungen zum "Befinden" der Migrantinnen und Migranten in unserem Land, wie z. B. die umfangreiche Arbeit von Regula Weiss mit der Frage "Macht Migration krank?" (2003) (vgl. die Rezension) und dem mit dem BKK-Innovationspreis Gesundheit 2003 ausgezeichneten Beitrag von S. Hinz u.a., "Migration und Gesundheit" (2004) (vgl. dazu die Rezension).
Immer öfter treten bei dem Diskurs seit einigen Jahren auch Forscherinnen und Forscher mit Migrationshintergrund auf, wie etwa Meltem Avci-Werning mit ihrer bemerkenswerten Untersuchung über "Prävention ethnischer Konflikte in der Schule" (2004) (vgl. dazu die Rezension). Hierzu gesellt sich der als promovierter Diplompädagoge bei der Aktion Jugendschutz Bayern e.V. und Lehrbeauftragter an den Universitäten Eichstätt und Passau tätige Ahmet Toprak.
Inhalt
Seine Untersuchung knüpft an eine vorausgegangene Arbeit des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2001 an, bei der türkische Jugendliche aus neunten Klassen befragt wurden, ob sie in den letzten zwölf Monaten Opfer von Gewalt geworden seien. Toprak interessiert bei seiner Fragestellung, welche Erziehungs- und Bildungskonzepte, -stile und -praktiken bei seit längerer Zeit in Deutschland lebenden, "integrierten" türkischen Familien vorherrschen, welche aus dem Heimatland tradierte Vorstellungen im aktuellen Erziehungsgeschehen Einfluss haben und welche Abweichungen zu den Erziehungsauffassungen in der Mehrheitsgesellschaft bestehen. Dabei geht er in seinem Forschungsdesign nicht von den traditionellen "defizitären" Sichtweisen aus. Allerdings stellt auch er fest: "Es ist stichhaltig nachzuweisen, dass die türkischen Migranten in vielen Bereichen entweder unterqualifiziert sind oder beim Zugang zu Grundressourcen benachteiligt werden". Ebenso seien türkische Familien in starkem Maße von einer von Vorurteilen geschürten und geprägten Ausländer-, bzw. Fremdenfeindlichkeit betroffen. Interessant dürften auch seine Beobachtungen sein, dass bei den in Deutschland lebenden türkischen Familien die traditionelle Rollen- und Autoritätsstruktur sich zu verändern beginnt: "Der Vater hat in innerfamiliären Interaktionen an Einfluss und Macht verloren".
Bei seiner wichtigsten Fragestellung über Erziehungsziele und Bestrafungsrituale in türkischen Familien gliedert der Autor die Thematik in die Bereiche primäre, sekundäre und tertiäre Erziehungsziele. Zu den primären gehören etwa die Werte "Respekt vor Autoritäten", "Erziehung zur Ehrenhaftigkeit" und "Erziehung zur Zusammengehörigkeit". Bei den sekundären Zielen haben die Werte "türkische und religiöse Identität" eine große Bedeutung. Die tertiären Erziehungsziele umfassen Werte wie "Selbstbewusstsein" und "Selbständigkeit", wobei hier meist eine geschlechterspezifische Differenzierung bei Jungen und Mädchen vorgenommen wird. Die Bestrafungspraktiken, die von physischer Gewalt, über Drohungen, das Kind in die Türkei zurück zu bringen, bis zu Beleidigungen und Beschimpfungen reichen, richten sich wiederum nach den jeweiligen primären oder sekundären Verhaltensverfehlungen der Kinder. Ein besonderes Problem stellen dabei auch die geschlechtsspezifischen Bestrafungen dar. Im allgemeinen bestraft der Vater den Sohn und die Mutter die Tochter, was z. B. für die Integrationserfahrungen der türkischen Kinder, etwa in der Schule oder in der Nachbarschaftsclique, ein zunehmendes Problem darstellt. Nicht verwunderlich die Ergebnisse der Untersuchung: "In Familien, in denen beide Elternteile erwerbstätig sind, das Bildungs- und Erwerbsniveau als gering zu veranschlagen sind, mehrere Kinder in schlecht ausgestatteten Wohnungen untergebracht sind und das Einkommen gering ist, werden die Kinder in der Regel nach primären Bestrafungsritualen sanktioniert".
Die Ergebnisse der Arbeit lassen sich in zwei Richtungen verwerten. Zum einen für türkische Familien und ihre ethnische Gemeinschaft in Deutschland: Bewusstmachung und Aufklärung über die Bedeutung von Bildungseinrichtungen, wie Kindergarten und Schule, für eine angemessene Integration in die Gesellschaft; damit auch die Förderung der Akzeptanz und die Aktivierung der Eltern, beim Bildungs- und Erziehungsprozess ihrer Kinder mit zu arbeiten. Zum anderen für die Mehrheitsgesellschaft: Topraks "Resümee und Konsequenzen für die Elternarbeit" zeigen zahlreiche, im Diskurs durchaus neue Aspekte auf, die ein Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft, in den Bildungseinrichtungen, im beruflichen und privaten Leben für alle Beteiligten von Interesse sein müssen. Auch hier ist der für eine multikulturelle Gesellschaft notwendige Perspektivenwechsel gefordert. Die Voraussetzung dafür sind bessere Kenntnisse und Empathie der gesellschaftlichen Gruppen: "Türkischen Eltern in Deutschland verfolgen einige Bildungsziele, die für deutsche bzw. mitteleuropäische Maßstäbe womöglich als rückschrittlich, autoritär bzw. rigide bezeichnet werden können... Sie halten an diesen Erziehungszielen fest, nicht weil sie konservativ, oder rückschrittlich sind, sondern weil sie dem Wert dieser Erziehungsziele große Bedeutung zumessen".
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.10.2004 zu:
Ahmet Toprak: "Wer sein Kind nicht schlägt, hat später das Nachsehen" Elterliche Gewaltanwendung in türkischen Migrantenfamilien und Konsequenzen für die Elternarbeit. Centaurus Verlag & Media KG
(Freiburg) 2004.
ISBN 978-3-8255-0478-6.
Reihe: Pädagogik - Band 21.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1624.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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