Martin Dietz, Peter Kupka et al.: Acht Jahre Grundsicherung für Arbeitsuchende
Rezensiert von Arnold Schmieder, 27.01.2014
Martin Dietz, Peter Kupka, Philipp Ramos Lobato: Acht Jahre Grundsicherung für Arbeitsuchende. Strukturen - Prozesse - Wirkungen.
W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2013.
379 Seiten.
ISBN 978-3-7639-4081-3.
D: 42,90 EUR,
A: 44,10 EUR,
CH: 57,90 sFr.
Reihe: IAB-Bibliothek - 347.
Thema
Es geht um Hartz IV und die Folgen im Zeitraum zwischen 2009 und 2012, vorgelegt im Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), einer Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Diese Auftragsforschung ist im Hinblick auf Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung für Arbeitssuchende gesetzlich vorgeschrieben (SGB II und III). Zwar unabhängig, steht diese Forschung im Dienst der Politikberatung, gibt aber auch Aufklärung und Handreichungen für insbesondere die Vermittlungspraxis da, wo offenkundig Schwachstellen sind. WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen weisen mit ihren Analysen zugleich auf mögliche Problemlösungsstrategien hin.
In diesem Band sind zahlreiche Einzelergebnisse aus Detailforschungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dokumentiert, die allesamt unter Wirkungsforschung rubriziert sind. Gezeigt wird, welche Erfolge das ältere sozialstaatliche Regelungen ersetzende Sicherungssystem hat, das sich auf Arbeitslosigkeit und Hilfebedürftigkeit konzentriert und Existenzsicherung gegenüber Lebensstandardsicherung und allgemein Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums in den Vordergrund stellt. Es geht also auch um die „Grundsicherung als letztes soziales Netz im deutschen Sozialstaat“. (S. 21) Für das schlagwortartig gefasste Fördern und Fordern war und ist eine individuell zugeschnittene Beratung und Vermittlung laut SGB unverzichtbar. Wie es darum bestellt ist, wird ebenso ausführlich dargelegt wie alle anderen Fördermaßnahmen, die den Neuregelungen unterliegen und die über quantitative wie qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung wissenschaftlich abgesichert sind.
Unter dem Strich wird eine (moderat) positive Bilanz gezogen. Betont wird, sie sei nicht allein der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt geschuldet und es handele sich auch nicht um einen „Scheinerfolg, der lediglich auf dem Verschieben zwischen unterschiedlichen Teilsystemen der statistischen Erfassung“ beruhe, sondern „zumindest teilweise auf die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre zurückzuführen“ sei, auch im Hinblick auf die Grundsicherung, wo sich die „positive Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung“ bemerkbar mache. (S. 269 f) Neuralgische Punkte werden nicht unterschlagen, die auf Handlungsbedarf verweisen: Dazu zählen im Wesentlichen ein Kern von nicht nur Langzeitarbeitslosen mit gegen Null tendierenden Beschäftigungschancen, die ‚Gruppen’ der Frauen und jungen Erwachsenen, deren besondere Situationen sowohl unter dem Blickwinkel der Aktivierung wie auch Unterstützung nicht hinreichend berücksichtigt sind, nicht zuletzt die Beratungsarbeit, wobei nicht nur ein ganzheitlicher Ansatz sowie das Sanktionierungsproblem, sondern auch das Desiderat einer Begleitung bei Arbeitsaufnahme im Sinne einer „nachsorgende(n) Betreuung“ (S. 279) angesprochen werden.
Aufbau und Inhalt
Neben Einleitung und Fazit ist der Band in fünf Hauptkapitel gegliedert, wobei das erste in seinen Unterkapiteln zentral auf Fragen zur materielle Lage von Leistungsberechtigten und zur Grundsicherung eingeht und – wie alle anderen Kapitel auch – mit einem Zwischenfazit endet.
Welche Bereitschaft bei Arbeitslosen besteht, Erschwernisse oder materiellen Einbußen hinzunehmen, wenn eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt in Aussicht steht, wird im folgenden Kapitel ebenso behandelt wie schwerpunktmäßig die Selbsteinschätzungen und das Rollenverständnis von VermittlerInnen, wobei Möglichkeiten und Wirkungen von Sanktionen ebenfalls beleuchtet werden. Wie es um Wunsch und Wirklichkeit von Eingliederungsvereinbarungen bestellt ist, kommt in diesem Zusammenhang ausführlich zur Sprache, um danach abrundend die besondere Situation von Menschen mit erheblichen Problemen, auch solchen der Integration, entlang der Befunde darzustellen.
Das folgende Kapitel präsentiert die Ergebnisse zu den Wirkungen arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Dabei geht es um Optimierungen von Eingliederungschancen, um die Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt und um die so genannten ‚Beschäftigung schaffenden Maßnahmen’. Besonderes Augenmerk wird zum Abschluss dieses Kapitels auf die Kombination mehrerer Maßnahmen gerichtet, ein sukzessives Heranführen an den ersten Arbeitsmarkt, das auf Reintegration in reguläre Beschäftigung zielt.
Das nächste Kapitel ist Gruppen mit besonderen sozialen und psychosozialen bis gesundheitlichen Hemmnissen gewidmet, die man angesichts der Gesamteinschätzung der ForscherInnen als Problemgruppen bezeichnen darf, was das Bedingungsbündel für eine Vermittlung meint. Jüngere Menschen mit und ohne Migrationshintergrund und unterschiedlichen Qualifikationsniveaus, ältere ArbeitnehmerInnen, wobei Alter auf die Zeit des festgeschriebenen Berufslebens bezogen ist, Rehabilitanden und Frauen insbesondere mit Familie stehen hier im Fokus, wobei Alleinerziehende gesondert abgehandelt werden.
Das letzte Hauptkapitel kreist um Wirkungen der zahlenmäßig nicht unbeträchtlichen gesetzlichen Korrekturen und Reformen auf den Arbeitsmarkt, was auf der Folie der präsentierten Ergebnisse mehr ist als bloße Annäherung, wie die Verfasser in ihrer Einleitung vorsichtig formulieren. Arbeitsmarktpolitische Aufgaben kommen zur Sprache, wie sie sich gerade im Hinblick auf Menschen in Grundsicherung stellen, wobei auch atypische Erwerbsformen und Niedriglohnbeschäftigungen thematisiert werden.
Im letzten Kapitel (nach Inhalt und Umfang von der Qualität eines Essays) werden die jeweiligen Fazits der Hauptkapitel gebündelt und verknüpft, womit zugleich ein weiteres Forschungsprogramm konturiert wird. Zwar sei ein zentrales Reformziel offenkundig erreicht, nämlich eine Kompromiss- und Konzessionsbereitschaft von Arbeitslosen, und es scheine, dass sie sich „inzwischen weitestgehend an die veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst haben dürften“ (S. 270), doch könne man nicht genau beziffern, ob und wie eine Matching-Effizienz gesteigert worden sei: Passgenauigkeit ist gemeint, ein Abgleich zwischen Arbeitsanforderungen und persönlichen Eigenschaften sowie Kompetenzen von Bewerbern und einem jeweils zu besetzenden Arbeitsplatz. Dass durch die als positiv bezeichnete Entwicklung der Wirtschaft viele Menschen aus der Grundsicherung auf den Arbeitsmarkt kommen, dass ebenso die Arbeitsmarktlage auch intensive Aktivierungsbemühungen beschränkt, dass weitestgehend der Wunsch besteht, nicht im Leistungsbezug zu verbleiben und dies durch einen häufig notwendigen Wohnortwechsel eingetrübt wird, verwundert ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich möglicherweise unter gegebenen Bedingungen der schon ausmachbare „harte Kern langzeitarbeitsloser Leistungsempfänger“ mit „starken Vermittlungshemmnissen“ verfestigt. (S. 271) Bei ihnen bündeln sich benennbare Risikomerkmale. Ein solches Merkmal ist bei 70% der Leistungsberechtigten auszumachen, jeder fünfte Leistungsberechtigte ist von drei gleichzeitig vorliegenden Risikofaktoren betroffen, was die Chancen auf dem Arbeitsmarkt merklich mindert. Solche Risikofaktoren sind sattsam bekannte wie etwa Mutterschaft, niedriger Bildungsstand, mangelnde Deutschkenntnisse, ein Alter über 50, lange Arbeitslosigkeit und gesundheitliche Einschränkungen. Da die „Möglichkeiten einer fordernden Aktivierung vielfach ausgereizt zu sein“ scheinen (S. 279), setzen die Verfasser auf verstärkte Implementierung von ‚Sozialarbeit’ in den Vermittlungsprozess, was statt der bislang problematischen Handhabung von Sanktionierungen insbesondere gegenüber Unter-25-Jährigen ganz allgemein in Form einer helfenden Begleitung nach Aufnahme einer Tätigkeit anzustreben wäre. Diese Überlegung wird auch durch die Befunde genährt, nach denen die Arbeitssuchenden sich allzu häufig nicht als Vertragspartner in Augenhöhe mit der Fachkraft fühlen, die für sie zuständig ist. Bewerbungstrainings etwa, auf die sie verpflichtet werden, können sogar kontraproduktiv sein; demgegenüber seien die „Elemente des ‚Förderns und Forderns’ auf individueller Ebene immer wieder neu aufeinander abzustimmen und auszubalancieren.“ (S. 280)
Komplettiert wird der Band durch ein Tabellen-, Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis am Anfang, am Ende folgt ein umfangreicher Anhang. Die einzelnen Kapitel haben jeweils sehr ausführliche Literaturverzeichnisse.
Diskussion und Fazit
Die Anzahl der Änderungsgesetze und die maßgeblichen Parlamentaria machen deutlich, „dass die Grundsicherung ein höchst dynamisches Gesetzbuch ist“. (S. 22) Ob man die Häme gelten lässt oder nicht, es handele sich um politische ‚Flickschusterei’, ist im Hinblick darauf belanglos, dass Veränderungen des Forschungsgegenstandes jede Evaluation vor erhebliche Probleme stellt, die Dietz, Kupka und Lobato sowie zahlreiche MitarbeiterInnen, die auf S. 17 aufgelistet sind, im Erhebungszeitraum ebenso beeindruckend wie überzeugend gemeistert haben. Dass sie allenthalben gemäß offizieller Lesart von einer positiven Entwicklung der Wirtschaft reden, mag Kritikern des Wirtschaftssystems und Wachstumsskeptikern aufstoßen und kann lediglich im Hinblick auf prognostische Aussagen zu Verzerrungen führen. Doch das war und ist auch nicht Aufgabe dieser gesetzlich vorgeschriebenen Auftragsforschung im Dienst der Bundesagentur für Arbeit für den Zweck einer Politikberatung, die nicht schon darum im Vorurteilshorizont als ‚Hofberichterstattung’ zu verdächtigen ist. Eher ist es umgekehrt: Was in den Medien oft als ‚bad news’ marktschreierisch verkauft und hochgespielt und in Talkshows allzu häufig mit viel kenntnisarmem Tamtam in Form von Beifall heischendem Meinungsschlagabtausch präsentiert wird, könnte sich hier einer sachlichen Grundlage vergewissern. Implizit sparen die Verfasser nicht mit Kritik, und sei es in Form weiterführender, auf Verbesserung zielender Fragestellungen und dies noch auf dem Hintergrund ihrer Annahme, dass „in Zukunft kaum weitere strukturelle Effekte der Hartz-Reformen auf den Arbeitsmarkt zu erwarten“ sind. (S. 269) Auch die Kritiker des Neoliberalismus und insbesondere jener spektakulären Subjektivierungsform eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling) könnten als Sozialtechnologie bzw. nur Sozialhygiene die an die Arbeitsvermittlung gestellte Frage abtun, „ob Beratung und Betreuung in die Zeit nach der eigentlichen Vermittlung ausgedehnt werden sollte, um bestimmten Personengruppen die ersten Schritte in den Arbeitsmarkt zu erleichtern und damit etwaigen Rückschlägen vorzubeugen.“ (S. 272) Angemerkt werden darf, dass extern optimierte Betreuungsverhältnisse ggf. betriebsintern entstehende Kosten einsparen und so zu Lasten des Steuerzahlers gehen, was man jedoch ganz allgemein für jenes ‚Matching’ sagen kann, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts übliche Praxis ist. Die Frage nach dem Cui bono bleibt. Allerdings dürfte durch die Forschungsbefunde auch Skepsis gegenüber der Modellierung solchen Sozialcharakters über die Hartz V-Gesetzgebung und ihrer Übersetzung in Vermittlungspraxis genährt werden, belegen die Ergebnisse doch gerade die Wichtigkeit einer „subjektive(n) Teilhabeempfindung“ selbst bei „Aufstockern“ (ebd.) und zeigen, welche bedeutende Rolle es im Betreuungsverhältnis für die Leistungsberechtigten spielt, „sich ernst genommen“ zu fühlen. (S. 276) Analysen zur Eingliederungswirkung von ‚Beschäftigung schaffenden Maßnahmen’ belegen, „dass die sozialintegrative Funktion der Zusatzjobs nur dann zum Tragen kommt, wenn die Maßnahme freiwillig erfolgt. Erfolgt sie gegen den Willen der Teilnehmenden sind dagegen kaum positive Effekte auf das Integrationserleben festzustellen.“ (S. 171) Dieser Befund dürfte wenig interpretationsoffen sein. Dass jedoch die „Geförderten vor allem die Verbesserung der sozialen Integration“ betonen (S. 297), mag auch als Beleg dafür gelesen werden, dass die neoliberale Subjektivierungsform, wie sie durch Hartz IV befördert und als Heilmittel für eine schwächelnde Arbeitsgesellschaft eingesetzt werden soll, in ihrer vorrangig ökonomistischen Konzeptualisierung nicht aufgeht, auch wenn sich die unteren Schichten der Adressaten an die nicht nur gesetzlichen „Rahmenbedingungen angepasst haben dürften“ (s.o.), die durch einen Schwall von Narrativen flankiert werden. – Wen wundert´s.
Insofern ist dieser Forschungsbericht, der sehr lesefreundlich verfasst ist, Befürwortern wie Kritiker jener „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ zu empfehlen, auch weil er viele Einzeluntersuchungen zusammenfasst und damit eine materialreiche Gesamtschau ermöglicht.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 27.01.2014 zu:
Martin Dietz, Peter Kupka, Philipp Ramos Lobato: Acht Jahre Grundsicherung für Arbeitsuchende. Strukturen - Prozesse - Wirkungen. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2013.
ISBN 978-3-7639-4081-3.
Reihe: IAB-Bibliothek - 347.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16241.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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