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Janosch Schobin: Freundschaft und Fürsorge

Rezensiert von Arnold Schmieder, 22.04.2014

Cover Janosch Schobin: Freundschaft und Fürsorge ISBN 978-3-86854-266-0

Janosch Schobin: Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel. Hamburger Edition (Hamburg) 2013. 263 Seiten. ISBN 978-3-86854-266-0. 30,00 EUR.

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Thema

Dass familiale Bindungen und familiärer Rückhalt zunehmend in Erosion geraten, ist unübersehbar. Darum geht Schobin davon aus, „dass Familie und Verwandtschaft in Zukunft knappe Güter werden. Freundschaft soll die entstehende Leerstelle ausfüllen, sie sei zum „Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen geworden.“ Freunde und Freundinnen werden in den Rang des „Nächsten“ gehoben auch und vor allem da, „wenn es um unsere Bedürfnisse nach sozialer Unterstützung geht“. Es hat sich bereits ein neues Freundschaftsideal etabliert, belegt der Autor entlang seiner Analyse der Ratgeberliteratur und mit zahlreichen Fallbeispielen in seiner gleichnamigen Dissertation, auf der das Buch basiert. Dabei liegt die „Deutungsmacht im Freundschaftsdiskurs“ bei den Frauen und es zeichnet sich eine „Verfürsorglichung des Freundschaftsideals“ ab.

Die Regeln freundschaftlicher Beziehungsgestaltung rücken daher von einer überkommenen zweck- oder wertrationalen Begründung ab und sind eher „kontextsensitiv und beziehungszentriert“ fokussiert. (S. 9 f) Bemerkenswert und neu ist, so der Autor, ein anwachsendes Verantwortungsgefühl unter Freundinnen und Freunden, das Gefühl, einander verpflichtet zu sein und dies jenseits einer sanktionierenden Inpflichtnahme, die als ultima ratio im Hintergrund lauert. Eine „tätige Fürsorge“ hat darin „den logischen Status des Notwendigen und gleichzeitig Zusätzlichen“ (S. 90), dessen man sich über Diskurse vergewissert, wobei in Freundschaften „ein prominenter Ort der Genese sozialer Freiheit“ zu lokalisieren ist: „Im sozialen Wechselspiel und besonders im Zwiegespräch erschaffen Freunde einen Spielraum der ethischen Selbstvergewisserung, der es dem Einzelnen schlechterdings erst gestattet, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was er auf dieser Welt eigentlich will.“ (S. 238)

Die „heroische Freundschaft der bündischen Männer“ (S. 247) hat im öffentlichen Diskurs weitestgehend abgedankt. Was in Familie und Verwandtschaft an Unterstützungsleistungen wie selbstverständlich moralisch – und z.T. rechtlich – einklagbar war (und ist), muss in der Sozialform des „exklusiven, freien Bundes“, der vor dem Problem der Entsprechungszwänge und Sanktionsarmut“ steht, erst noch gewonnen werden, und zwar über das „Gespräch“, das „verbindende Band, das alle Freundschaften durchzieht“ (S. 250 f) – und als praktisches Instrument, ein sozialisatorisch anspruchsvolles, an eine Beantwortung der laut Schobin theoretischen „Metafrage dieser Arbeit“ heranführt: „Wie wird aus einer Beziehung der Freiheit eine der Verbindlichkeit?“, eine Frage eben nicht nur in guten, sondern auch in schlechten Zeiten, die angesichts der „ständigen Kündbarkeit von Freundschaft“ (S. 251 f) und besonders da, wo ‚Geld‘ ins Spiel kommt, ebenso ständig auf der Tagesordnung steht.

Aufbau und Inhalt

In der einleitenden „Hinführung“ zeichnet der Autor die Konturen jener fürsorglichen Freundschaft nach und merkt mit Nachdruck an, dass auch in dem neuen Freundschaftsideal jene politisch relevante Frage nach kollektiver Lebensgestaltung da aufgeworfen ist, wo Ehe und Familie als vormalige ‚Keimzelle des Staates‘ schwächeln und in der Logik des Subsidiaritätsprinzips über etwa das SGB II Bedarfsgemeinschaften und gar studentische Wohngemeinschaften zu Haushaltsgemeinschaften mit gegenseitiger Unterstützungsverpflichtung definiert werden. Freiheit und Freiwilligkeit werden ausgekehrt und Trauring und die Frage nach Intimverkehr (oder nicht) fallen unter den Tisch, womit unter der Hand „Freundschaft als fürsorgliche Lebensform“ ein „öffentliches Ideal und eine rechtliche Pflicht“ geworden ist (S. 12), was die emotionale Dimension tangieren kann, nicht muss.

Die soziologische Relevanz seines Forschungsgegenstandes dokumentiert der Verfasser zunächst mit dem fait social von Durkheim und in Anlehnung an Weber. Gemeint ist eine offenkundige Unmöglichkeit der Realisierung dessen, was objektiv möglich ist. Wenn aus einer „Beziehung der Freiheit aus Freiheit (…) eine Beziehung verbindlicher Fürsorglichkeit werden“ soll (S. 26) und der Forscher zunächst konstatieren muss, dass „Freundschaft eher der Deckname einer abstrakten Familie als die Referenz einer konkreten Kategorie“ ist (S. 18), dann ist auf der anderen Seite doch festzuhalten, dass der Begriff Freundschaft, „gerade weil er mit einem System starker Ideale assoziiert wird, besonders gut die Aufgabe (erfüllt), subversive, alternative und präzedenzlose Beziehungen einzukleiden.“ (S. 20) Insoweit ist Vereinnahmung von Freundschaft riskiert, nicht präjudiziert, kann man vorab entnehmen.

Die „Prüfsteine der fürsorglichen Freundschaft“, also Belastungsproben, macht Schobin am Geld, an der Arbeitsteilung und der Not, am Sterben und Begehren der Freunde, schließlich an der Fürsorge im Gespräch und dem fest, was er die Geheimnisse der Freunde nennt, um zum Abschluss die Grenzen der fürsorglichen Freundschaft, aber auch die Perspektiven dieser keimenden Sozialform aufzuzeigen.

Beim Geld, heißt es, höre die Freundschaft auf; es ist wohl (neben der Sexualität) der sensibelste Punkt in der engen Verflechtung von Freundschaft und Fürsorge: „Geld organisiert Beziehungstode!“ – weil die „inhärente Tugend des Monetären“ darin besteht, „unaufhebbar das beidseitige Vermögen der Aufhebung des sozialen Bandes bereitzustellen.“ (S. 62) Um nicht auf den Boden dieser – marktwirtschaftlichen – Tatsache gebracht zu werden und Freundschaft dadurch erkalten zu lassen, entwickeln die Beteiligten Trennungsmethoden und Verwandlungsverfahren, mit denen das Leihen oder Schenken von Geld verkleidet und maskiert wird. Geld im Geschenkpapier ist etwas Anderes als eine nüchterne Überweisung – ein unguter Beigeschmack bleibt, wie der Autor an etlichen Fallbeispielen, die er analytisch ausleuchtet, deutlich macht und damit zeigt, mit welchen nicht garantiert seetüchtigen Schiffen diese Klippe umsegelt wird.

In ruhigen Fahrwassern sind Freundschaften leicht zu pflegen und zu erhalten. Geht es im freundschaftlich fürsorglichen Beziehungsalltag um Arbeitsteilung oder Beistand in Situationen der Not, müssen Reziprozitätserwartungen formuliert und Komplementaritätsarrangements getroffen werden und es muss nach Schobin etwas Zusätzliches hinzutreten, ein „Sahnehäubchen“, nach Agamben die Aureole (S. 90), ein in solchen Freundschaften allenthalben festzustellendes Überschussmoment, durch welches das Kantige des Kontraktuellen abgeschliffen wird und Empathie nährt und lebendig erhält. Insofern ist das Zusätzliche nicht das eigentlich Überflüssige. Macht uns der Autor doch darauf aufmerksam: „Wo immer sich das Soziale als Schmuck und Zierrat, als Redundanz und Kontigenz verkleidet, ist höchste Aufmerksamkeit geboten.“ (S. 73) So ist auch der neue Zungenschlag in den Ratgebern zu verstehen: Weniger geht es darum, seine Freunde zu erproben, sondern vielmehr ist angezeigt, sich so zu verhalten und so zu handeln, dass man seine Freunde behält.

Sex, auch ‚nur‘ Zärtlichkeit, Krankheit und Tod können den Fortbestand fürsorglicher Freundschaft gefährden. Ratgeber stellen dabei durchaus anheim, „Sexualität durch ‚wahre‘ Freundschaft abzuwehren“, wobei eingeräumt wird, dass „Sexualität plus Freundschaft gleich Partnerschaft und Partnerschaft minus Sexualität gleich Freundschaft“ sein kann. (S. 130) Man achte darauf, dass man nach freundschaftlichem Sex noch befreundet ist. Problematischer wird es „zwischen der Welt der Worte und jener der Taten“ im Hinblick auf die Ratgeberliteratur und vor allem bei den vom Verfasser befragten Alt-68ern, wenn es um die Thematik der physischen Not und Zerbrechlichkeit und des nahenden und nicht mehr zu leugnenden Sterbens und des Todes geht. Hier zeichnet sich ab, dass am Ende „die Möglichkeit, nicht mehr für sich selbst sorgen und das eigene Ende absehen zu können, einfach blockiert und durch Autarkieerhaltungsfiktionen beantwortet“ wird. (S.184 f)

Tragende Säule in fürsorglicher Freundschaft ist das Gespräch, ein authentisches, zu dem die Kunst des Zuhörens gehört, kein Zerreden und fern jeder abschattenden Verbindlichkeit, ein Austausch, häufig in Form eines „camouflierten Soziolekts“, welcher „einen eigenen Satz von Signifikaten“ transportiert, „der für Dritte praktisch nicht zu durchschauen ist.“ (S. 188) Man kennt das von Liebenden (und Randgruppen) und es hat auch in Freundschaften eine beziehungsstabilisierende Funktion. Aus soziolinguistischer Perspektive dient dieser Soziolekt der „Wahrheitstugend der Genauigkeit“ und erfasst als Sondersprache „bestimmte Phänomenbereiche schärfer“. Das hat insoweit mit Fürsorge zu tun, als „ich der Aufrichtigkeit des Freundes dank unseres gesicherten Bündnisses und der Genauigkeit seiner Mitteilung aufgrund unseres Soziolekts vertrauen darf, kann ich ihm die Sammlung und Vermittlung bestimmter, für meine Zwecke unerlässlicher Informationen überlassen.“ (S. 205 f) – Ein Vertrauen, das besser ist als Kontrolle, weil es hilft, die blinden Flecken in eigenen, lebenspraktisch wichtigen Deutungen vorbehaltlos zu überwinden.

Diskussion

Verbunden in fürsorglicher Freundschaft können Menschen ihre „Lebenskonstruktionen aus dem toten Winkel in den Blick bekommen“ und gegenseitig „ihre Lebensentwürfe korrigierbar“ machen, was Schobin am Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Mary McCarthy exemplarisch deutlich macht. (S. 240) Trotz aller Stolpersteine und Risiken ist die sich abzeichnende neue Sozialform der Freundschaft innerhalb der herrschenden Verhältnisse nicht unbedingt ein Novum, sondern möglicher Kristallisationspunkt einer anderen Orientierung, welche konkurrenzorientierte Verhaltensdispositionen innerhalb dieser Verhältnisse als Korrektiv für den Fortbestand gebraucht haben und brauchen, nun aber in einer möglichen Dynamik, die ein überschießendes und schwerlich integrierbares Potential bergen mag: „Menschen sind vielmehr darum besorgt“, so hebt der Autor als wesentliche Erkenntnis hervor, „gebraucht zu werden, als damit beschäftigt, ihren Vorteil zu suchen. Wer verstehen will, warum Menschen dieses oder jenes tun, muss nicht ständig versuchen herauszufinden, was sie davon zu haben glauben, sondern sollte versuchen zu verstehen, auf welche Weise sie dafür sorgen, benötigt zu werden.“ (S. 239) Diese Haltung sorgt im Hinblick auf finanzielle Fürsorge in Freundschaften für kreative Umgehungspraktiken, in denen sich auch abzeichnet, was man über die Botschaften des Buches hinaus anmerken kann, dass solche Freundschaft auch darum von der Logik des Geldes nicht affiziert werden will, weil sie mit marktwirtschaftlichen Denkstrukturen und Verhaltensansinnen inkompatibel und nur so lebensfähig ist, darum auch scheint´s an vorbürgerlichen moralischen Beständen orientiert ist, die auf die Realisierung des objektiv Möglichen zielen, was im Hier und Jetzt erst einmal unmöglich erscheint. Da ist Freundschaft implizite Kritik und dies als „Fluchtpunkt multipler sozialer Hoffnungen“ (S. 245) und scheint als solche auf einer eben unzeitgemäßen Moral aufzusatteln. Was man vorzöge, fragte Epiktet, prominenter Vertreter der späten Stoa, „Geld oder einen verläßlichen und seinem Gewissen verpflichteten Freund?“ Geld war für ihn nicht wirklich ein Gut und darum bat er, man möge ihm zu diesen Eigenschaften verhelfen und nicht von ihm verlangen, „daß ich etwas tue, wodurch ich sie gerade verlieren muß.“ Diese Lesart des in Geld ausgedrückten Materiellen ist es wohl, welche die fürsorgliche Freundschaft, die mehr ist als ein substituierendes Netzwerk, eher auszeichnet als die Befürchtung der Beteiligten, dass der Freundschaft durch die Intervention der Geldlogik ein Einbruch drohen könnte.

Wie alles Andere verlangt auch die inhaltliche Auskleidung der Zärtlichkeitsthematik im (nicht nur) zwischengeschlechtlichen Miteinander bis in den intimen Bereich anspruchsvolle Fähigkeiten ab, über denen das Damoklesschwert der Ermüdung oder Veralltäglichung schwebt. Die Aushandlungsprozesse sind aufwändig. Sich über die Trennlinien zwischen divergenten Erwartungshaltungen zu verständigen, verlangt oft persönliche Zurücknahmen ab, die schmerzen, die als klammheimliche Kränkungen überwunden werden wollen: „Das eigene Innere ist zu präparieren, die Modalitäten der Verbalisierung sind zu erproben, die Äußerungen der Gegenseite sind zu dechiffrieren und adäquat zu beantworten. Die Praxis des geheimniscodierten Gesprächs liefert reichlich Störquellen für die fürsorgliche, die intime Freundschaft.“ (S. 252) So machen (eher) junge Frauen einen feinen Unterschied zwischen einem und mein Freund, korrigieren sogar das jeweilige Gegenüber, um zwischen dem vormaligen Intimus und (aktuellen) Sexualpartner zu unterscheiden, was nicht unbedingt ein Parameter für Nähe und das Gefühl von Geborgenheit ist.

Freundschaft und Fürsorge sind eine riskante Chance, die Initiative und Mut abverlangt, worüber man reden kann, wobei man nicht stehen bleiben sollte. Darum wohl beschließt Schobin seine feinnervige und theoretisch brillant fundierte Analyse, von der es scheint, dass sie an den ‚Geist‘ der älteren deutschen Soziologie anknüpft und eine Brücke zur neueren Forschung schlägt, mit dem Wort Lenins: „Über die Möglichkeit von Aktionen reden ist zwecklos, man muss die Möglichkeiten durch Taten beweisen.“

Fazit

Wer von Soziologie Aufklärung und Anleitung zur Reflexion erwartet, wer sich für den Wandel von Subjektivität auch im emotionssoziologischen Umfeld interessiert, dem ist dieses Buch nur zu empfehlen. Die Lektüre lässt zudem skeptisch werden, wie weit eine Modellierung des Menschen für herrschende Zwecke gelingen kann.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 22.04.2014 zu: Janosch Schobin: Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel. Hamburger Edition (Hamburg) 2013. ISBN 978-3-86854-266-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16248.php, Datum des Zugriffs 08.06.2023.


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