Eva Tillmetz: Balanceakt Familiengründung
Rezensiert von lic.phil. Annabelle Raemy, 30.05.2014

Eva Tillmetz: Balanceakt Familiengründung. Paare begleiten mit dem »Regensburger Familienentwicklungsmodell«.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2014.
250 Seiten.
ISBN 978-3-608-89143-0.
D: 28,95 EUR,
A: 29,80 EUR,
CH: 38,90 sFr.
Reihe: Leben lernen - 266.
Thema
„Balanceakt Familiengründung“ stellt mit dem „Regensburger Familienentwicklungsmodell“ zahlreiche Varianten vor, wie Paare vor, während und nach der Familiengründung unterstützt und begleitet werden können.
Autorin
Eva Tillmetz ist Systemische Familientherapeutin und begleitet Paare und Familien in ihrer eigenen Praxis in Regensburg.
Entstehungshintergrund
Ausgehend von dem Modellprojekt „Eltern werden – Partner bleiben“ wurde das „Regensburger Familienentwicklungsmodell“ entworfen, weiterentwickelt und mit einer Spielvariante „FIB Familien in Balance“ ergänzt.
Aufbau
Das Buch zielt auf Verstehen und Anwendbarkeit des Modells in der Praxis ab. Der Aufbau spiegelt dieses Ziel wieder.
- Das 1. Kapitel dient als theoretische Einführung in relevante Themen bei der Familiengründung.
- Das 2. Kapitel liefert Hintergrundinformationen zur Entstehung des Regensburger Entwicklungsmodells.
- Im 3. Kapitel werden die einzelnen Elemente des Modells detailliert beschrieben.
- In den Kapiteln 4 bis 7 steht die Anwendung des Modells und des Spiels (Kap. 6) in verschiedensten Settings im Zentrum.
Inhalt
Eva Tillmetz will Paare und werdende Eltern darin bestärken, dass sie das „Abenteuer Familie meistern können“ (S.13). Schon zu Beginn betont sie die Wichtigkeit des „Elternteamworks“, einen Aspekt dem bisher in Literatur und Forschung wenig Beachtung geschenkt wurde. „Das Regensburger Entwicklungsmodell fokussiert sowohl auf bestehende als auch auf noch erschliessbare Ressourcen“ (S.17), die genutzt, aktiviert oder entwickelt werden können, um die Familie in Balance zu halten.
Als erstes beleuchtet Eva Tillmetz die Familiengründung in der heutigen Zeit. Sie beschreibt die Lebenswelt von Singles und Paaren vor der Familiengründung. Während das Singleleben von Unabhängigkeit und grossen Freiräumen gekennzeichnet ist und sich zwischen dem „persönlichen Lebensbereich“, der vor allem durch Freizeit geprägt ist, und dem Beruf abspielt, nimmt bei Paaren die Partnerschaft zeitlich und emotional einen grossen Raum ein. Die Herkunftsfamilie spielt in beiden Lebensphasen eine „nachgeordnete Rolle“ (S.20). Sie weist auf die gesellschaftliche Thematik hin, die als Hintergrundfolie bei der Familiengründung mitläuft. Bei der Familiengründung stehen sowohl Karrieren als auch persönliche Beziehungen auf dem Spiel und müssen somit neu organisiert und aktiviert werden. Es wird deutlich, dass Paare bereits vor der Entscheidung für eine Familie Vorstellungen entwickeln, wie sie als Familie leben möchten (S.26). Besonders Paare, welche sich lange Gedanken machten über den „richtigen Zeitpunkt für die Familiengründung“ wünschen sich „ausreichend Raum und Zeit, um ihre Familienvorstellungen zu verwirklichen“ (S.27). Eva Tillmetz beschreibt welche strukturellen Aspekte der Vorstellungen diskutiert und (neu-)organisiert werden müssen, wie die Berufstätigkeit des Paares, das neu hinzukommende Familienmanagement und die Wohnsituation. Bei den psychischen Aspekten taucht sie in die Erlebenswelt der Eltern ein und thematisiert das in der Literatur bekannte Phänomen der Belastung der Paarbeziehung und damit die Verschlechterung der Partnerschaftsqualität. Sie führt aus, dass bislang vor allem die Aufgabenteilung unter dem Aspekt der „Kosten-Nutzen-Bilanz“ beleuchtet wurde. Sie betont dabei, dass ausschlaggebend ist „wieweit die Partner die Aufgabenteilung als fair empfinden“ (S. 40). Die Familiengründung wird als „Paradigmenwechsel“ eines komplexen Systems betrachtet, vom dem alle „Systemebenen“ betroffen sind, nicht nur die Eltern, sondern auch die Herkunftsfamilie (S.44). Hier kommt erneut das „Elternteamwork“ ins Spiel. Eva Tillmetz erläutert ausführlich anhand der Grafik „Elterliche Kooperationsstile“ (S. 47) wie Kooperation möglich ist und welche Formen den Kooperationswunsch des Paares beeinträchtigen oder sogar beenden können. Ihrer Perspektive folgend bedeutet Kooperation „bewusstes Nebeneinander und bewusstes Miteinander“. „Bewusstes Nebeneinander“ bedingt, dass jeder Partner zuerst für sich sorgt, individuelle Stressbewältigungsstrategien entwickelt, selbstsicher wird im Umgang mit dem Neugeborenen und auch dem Partner denselben Entwicklungsraum zugesteht. Das „bewusste Miteinander“ besteht im Austausch der Erfahrungen, die die Partner mit dem Kind machen (S.53). Entscheidend ist dabei, dass das Paar immer im Gespräch bleibt und sie sich als verlässliche Partner erleben.
Eva Tillmetz betont, dass Familienbildungsprogramme den Fokus überwiegend auf den Aufbau einer feinfühligen Eltern-Kind-Beziehung legen, die Förderung der „Elternteamworks“ bislang jedoch wenig Beachtung findet (S.57). Das „Regensburger Familienentwicklungsmodell“ setzt hier an und richtet den Blick auf das Familiensystem und die darin wirkenden „Lebensfelder“, so auch das „Elternteamfeld“.
Die Elemente des „Regensburger Familienentwicklungsmodells“ werden detailliert beschrieben. Die Lebensfelder sind in Achsen gegliedert. Die Achse der individuellen Lebensfelder beider Partner: „Meins, mein Beruf, meine Herkunftsfamilie“, die Achse der gemeinsamen Lebensfelder: „Ich und Du, Elternteam-Familienmanagement, Vater-Kind/Mutter-Kind Welt, Unterstützung“. Die Achse der Regenerationsfelder beider Partner: „Meins, Ich und Du“, die Arbeitsfelder beider Partner: „Mein Beruf, Familienmanagement“, Achse der Zukunftsfelder: „Vater-Kind/Mutter-Kind Welt“. Zum Schluss gibt eine Graphik den Überblick über alle Achsen (S.129).
Es bestehen zehn Lebensfelder bei der ersten Familiengründung. Die persönlichen Lebensfelder beider Partner (Meins) stellen Freizeit, Regeneration und Persönlichkeitsentwicklung dar. Sie werden durch die Familiengründung oftmals zunächst eingeschränkt. Eva Tillmetz unterstreicht hier, dass jedes Elternteil Sorge zu diesem Lebensfeld trägt und sich, wenn nötig, Unterstützung holt. Bei den Berufsfeldern beider Partner (Mein Beruf) dreht sich alles um Erwerbstätigkeit, Karriere, Anerkennung und kollegialen Austausch. Das Paarfeld (Ich und Du) beinhaltet Themen wie Sexualität, Zärtlichkeit, Dialog und Vertrauen. Das Paarfeld kann durch ein starkes Elternteamfeld und ausreichende Auszeiten im persönlichen Feld gestärkt werden (S.77). Im Elternteamfeld spielt sich die Kooperation, Finanzplanung, Erziehungskonzept, Haushaltsaufteilung u.v.m. ab. Das Elternteamfeld wird als die „Managementzentrale der Familie“ beschrieben. Die Mutter-Kind/Vater-Kind Welt ist geprägt von Beziehungsaufbau, Säuglingspflege, Feinfühligkeit u.v.m. Die Herkunftsfamilien beeinflussen die Vorstellungen der Vater- und Mutterrolle, wie des Partnerschaftskonzeptes und können eine Unterstützungsquelle sein. Das Feld Unterstützung umfasst „familiennahe Unterstützungssysteme“. Diese Unterstützungssysteme sind elementar für die Familiengründungsphase, ermöglichen sie doch persönliche Regenerationszeiten und Zeit für die Partnerschaft. Das Spiel „FIB Familie in Balance“ beinhaltet thematische Bildkarten, Gefühlskarten und Ressourcenkarten, mit denen die aktuelle oder gewünschte Familiensituation dargestellt werden können.
Der anschliessende Teil des Buches widmet sich der Anwendung des „Regensburger Familienentwicklungsmodells“ in der Praxis, in der Familienbildung, der Paartherapie und Elternberatung. Eva Tillmetz beschreibt ausführlich, wie das Modell in Seminaren aufgebaut und eingesetzt wird. Weiter erläutert sie ebenso detailliert den Einsatz in Therapie und Beratung. Sie stellt genauestens dar, wie das Modell mit Paaren gemeinsam entwickelt werden kann. Die Sitzung wird in drei Phasen geteilt:
- So leben wir - Aktuelle Ist-Situation
- Davon träumen wir…Wünsche und Lösungsideen
- Das schaffen wir! Realistische Möglichkeiten der Veränderung (S. 152).
Der Einsatz des Modells wird durch zahlreiche Beispiele aus ihrer beraterischen Tätigkeit veranschaulicht.
Diskussion
Das „Regensburger Familienentwicklungsmodell“ bezieht die in der Literatur bereits bekannten und viel thematisierten Veränderungen bei der Familiengründung, wie weniger Zeit für die Partnerschaft und für sich selbst bzw. mögliche Einschränkungen in der Freizeit, Veränderung der Rollen- und Aufgabenverteilung in Haushalt und Kinderversorgung, mögliche Einschränkungen in der Erwerbstätigkeit, die neu entstehende Mutter-Kind/Vater-Kind-Beziehung, und Veränderungen des sozialen Netzwerkes mit ein. Anders als eine Vielzahl an Studien konzentriert sich die Betrachtungsebene nicht hauptsächlich auf die Mutter-Kind-Beziehung und den Bindungsaufbau, sondern rückt hier das Elternteamwork in den Fokus. Das neu entstehende Lebensfeld Elternteamwork als Angelpunkt des Familiensystems gewährt einen Blick auf die Struktur der miteinander vernetzten Lebensbereiche. Das „Regensburger Familienentwicklungsmodell“ trägt den verschiedenen bereits bestehenden und sich neu entwickelnden Lebensfeldern Rechnung undleistet einen wertvollen Beitrag zu einer nicht problem- und ressourcenorientierten Sichtweise auf die Familiengründung.
Das Versprechen „sämtliche Lebensbereiche, Aufgaben, Wünsche und Ziele“ mit visuellen Mitteln zu veranschaulichen und „Probleme in ihrem strukturellen Zusammenhang“ aufzuzeigen wird eingelöst. Unterstützend wirken dabei auch die farbigen Abbildungen der jeweils aufgebauten Lebensfelder.
Fazit
Die Intention, die das Modell trägt und die sich durch das ganze Buch hindurchzieht, ist es, werdende Eltern und Familien in allen Lebensphasen und mit unterschiedlichen Lebensmodellen anzuregen und zu bestärken, ihr Familiensystem in Balance zu halten oder dieses wieder herzustellen. Das Modell ermöglicht in Seminaren, Beratung oder Therapie, die jeweilige Lebenswelt abzubilden und bietet somit den Paaren Raum für Veränderungswünsche und Handlungsmöglichkeiten.
Rezension von
lic.phil. Annabelle Raemy
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
Hochschule für Soziale Arbeit
Studienzentrum Soziale Arbeit
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