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Sylvia Wetzel: Achtsamkeit und Mitgefühl

Rezensiert von Dr. Kirsten Oleimeulen, 20.04.2015

Cover Sylvia Wetzel: Achtsamkeit und Mitgefühl ISBN 978-3-608-89145-4

Sylvia Wetzel: Achtsamkeit und Mitgefühl. Mut zur Muße statt Hektik und Burnout. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2014. 250 Seiten. ISBN 978-3-608-89145-4. D: 26,95 EUR, A: 27,70 EUR, CH: 36,90 sFr.
Reihe: Leben lernen - 267.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-608-89209-3 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Achtsamkeit

Achtsamkeit ist ein Prozess, bei dem die Aufmerksamkeit nicht-wertend auf den gegenwärtigen Augenblick gerichtet ist. Sie nimmt wahr, was ist, und nicht, was sein soll. Sie ist einerseits nüchtern, real, desillusionierend, andererseits annehmend, integrierend und vielleicht sogar auf mütterliche Weise liebevoll. Achtsamkeit ist aber noch mehr: Sie ist ein Instrument und eine Technik, um unsere körperlichen, emotionalen und geistigen Zustände wahrzunehmen und damit integrieren zu können. Ferner intensiviert Achtsamkeit den unmittelbaren Kontakt mit der Gegenwart, die ja ständig zu entschwinden droht, wenn sie nicht fest in den Blick genommen wird.

Psychologische Aspekte der Achtsamkeitspraxis

Die Achtsamkeitspraxis vermittelt einen Ansatz, um aus belastenden Gedanken und Gefühlen auszusteigen und einen anderen Standpunkt einzunehmen. Da unser seelisches Leiden davon abhängt, wie wir unsere Wahrnehmungen erleben und bewerten, liegen die Möglichkeiten der Einflussnahme deshalb nicht so sehr in der Außen- und Umwelt, sondern in der Erkenntnis, dass die Wahrnehmung und Interpretation der Phänomene von uns selbst geschaffen wird und dass wir uns dabei auf die Schliche kommen können. Konkret bedeutet dies, dass wir uns selbst bei der Schaffung und Konzeptualisierung unserer Wirklichkeit achtsam zuschauen können.

Autorin

Sylvia Wetzel, geb. 1949, Staatsexamen in Russischer Literatur und Politik. Sie befasst sich seit 1968 mit psychologischen und politischen Wegen zur Befreiung und seit 1977 mit dem Buddhismus. Ausbildung in der tibetischen Tradition bei Thubten Yeshe (Kursassistenz ab Februar 1979, Lehrerlaubnis 1982), Zopa Rinpoche, Geshe Tegchok (Lehrerlaubnis 1984), Ann McNeil und Rigdzin Shikpo (Michael Hookham, Löwe-Training u.a.) und zwei Jahre Praxis als Nonne. Die Publizistin, Autorin und Meditationslehrerin spricht und schreibt über Buddhismus und unterrichtet seit 1986 Entspannung, Meditation und Buddhismus im deutschsprachigen Raum und in Spanien. Mit ihrer Art der Reflexion von kulturellen Bedingungen und Geschlechterrollen ist sie eine Pionierin des Buddhismus im Westen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch „Achtsamkeit und Mitgefühl. Mut zur Muße statt Hektik und Burnout“ setzt sich aus drei Teilen zusammen:

Teil I: Herausforderungen

1. Ehrgeiz entwickeln heißt wegschauen. Sylvia Wetzel vertritt die These, dass Menschen zu ungesundem Ehrgeiz und überzogenem Leistungsdenken neigen, wenn sie mangelndes Selbstwertgefühl mit hohen Idealen und Ansprüchen kompensieren. Das machen wir unbewusst und automatisch, solange wir es nicht bemerken.

2. Burnout. Leistungsmenschen lieben den Symphatikus-Modus mit seinem kraftvollen Lebensgefühl und vernachlässigen den Parasymphatikus-Modus mit seinen subtilen und sanften Stimmungen. Unter Dauerstress regredieren wir auf alte und älteste Muster: Kampf oder Flucht oder Ignorieren. Buddha nennt das Gier, Hass und Verblendung. Eine spezielle Mischung aus Gier, Hass und Verblendung ist die ständige Geschäftigkeit aus innerer Unruhe. Die Vermutung liegt nahe, dass hinter ständiger Geschäftigkeit Unruhe und Unsicherheit lauern und die Angst vor unstrukturierter Zeit. Der koreanischen Philosoph Byong-Chul Han (2011) interpretiert Versagen und Burnout als eine Form des Widerstands gegen eine überzogene Leistungsgesellschaft.

3. Schmerz und Leid. Es gibt natürliches und zusätzliches Leiden, und wir sollten mit beiden Arten von Leiden rechnen. Wir müssen lernen, natürliches Leiden anzunehmen und gut damit umzugehen. Zusätzliches Leiden können wir nicht durch kollektive Beschlüsse, sondern nur durch die Arbeit an uns selbst ändern. Der Neokortex hat keinen direkten Zugriff auf unser Verhalten, das haben nur limbische Systeme und das Stammhirn, alte Gewohnheiten und biologisch älteste Überlebensprogramme. So können Menschen sich letztlich nur individuell darum bemühen, Gier, Hass und Verblendung zu durchschauen und soweit wie möglich aufzulösen.

Teil II: Ressourcen

4. Achtsamkeit. Der zweite Teil des Buches fokussiert Ressourcen, die uns Menschen prinzipiell zur Verfügung stehen und die wir auch gezielt fördern können, um so einen Weg aus überzogenem Ehrgeiz, Erschöpfung und selbst verursachtem Leid heraus zu finden. Dazu gehören: Achtsamkeit, Mitgefühl, Resilienz oder die Fähigkeit, schwierige Erfahrungen zu verarbeiten, und schließlich Muße, eine Zeit frei von äußeren und inneren Zwängen. Achtsamkeit hat zwei Bedeutungsnuancen: bemerken was geschieht und erinnern was heilt.

5. Mitgefühl. Als wichtige Ergänzung zur Entwicklung von Achtsamkeit empfiehlt Sylvia Wetzel die Pflege heilsamer Gefühle. Heilsame Gefühle gelten als besonders geeignetes Mittel, um das Leben der Einzelnen und Zusammenleben mit anderen Menschen im privaten Bereich und in der Gesellschaft als Ganzer zu erleichtern und zu bereichern. Zu den vier Aspekten reifen Mitgefühls gehören: Einfühlung, Unterscheidung, Mitgefühl im engeren Sinn und Freundlichkeit.

6. Resilienz. Resilienz weist auf die Fähigkeit hin, bedrohliche Erfahrungen zu überleben und zu bewältigen und darüber hinaus auch, sich mit einer Situation, für die es keine Lösung gibt, abzufinden. Die moderne Resilienzforschung fand 3 wichtige Faktoren heraus, die einen wesentlichen Beitrag zu leisten, dass Menschen schweres Leid besser verarbeiten. Dazu gehören Freude, Beziehungen und Sinn. Viele Menschen dagegen haben heutzutage ein geschärftes Bewusstsein dafür, was schiefgeht und wehtut, auf Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und Gewalt. Daher scheinen die Chancen für die Erfahrung von Freude abzunehmen. Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, so Hölderlin.

7. Arbeit und Muße. Ohne Zeit zum Innehalten und Nachdenken und ohne Austausch mit anderen verlieren wir die Fähigkeit, selber zu denken und unsere Prioritäten zu überprüfen. Wir arbeiten damit wir Zeit und Raum für Kultur und Politik haben. Und dafür uns mit anderen und alleine am Leben zu erfreuen. Innehalten und Ausruhen ist sinnvoll und heilsam, es gehört aber noch zum aktiven Leben. Muße ist etwas anderes. Meditation als Entspannungsübung einzusetzen ist völlig in Ordnung, aber Meditation „kann viel mehr“. Zeit zum Innehalten und Nachdenken mit dem Austausch anderer, fördert unsere Fähigkeit, selber zu denken und unsere Prioritäten zu überprüfen.

Teil III: Ein gutes Leben: Üben und Alltag

8. Auftanken und Entspannen. Menschen in sozialen, helfenden und heilenden Berufen stehen vor einer fast unlösbaren Herausforderung. Sie wollen und sollen anderen Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme in Arbeit und Alltag helfen. Aber wie gehen diese Menschen damit um, wenn ihre Ratschläge und Hilfsangebote nicht angenommen werden oder ihr Einsatz nicht die erwünschten Ergebnisse zeigt? Viele Menschen wissen, wie sie Kraft schöpfen oder auftanken können, üben das aber nicht systematisch und regelmäßig. Die meisten unterschätzen, wie viel ihre persönliche Einstellung zum Leben, Werte und Vorstellungen, Selbstbilder und soziale Netze zu ihrem Lebensgefühl beitragen.

9. Üben im Alltag. Gewohnheiten, die wir ein Leben lang eingeübt und verfestigt haben, lassen sich nicht über Nacht wegzaubern. Jeder Veränderung unserer Einstellung, von Werten, Vorstellungen, Denkgewohnheiten, emotionalen Mustern und Gewohnheiten erforderte Einsicht, Mut, Energie, Interesse und sehr viel Übung. Es dabei darum, sich jeden Tag etwas Zeit für sich zu nehmen bzw. sich selbst Zeit zu schenken.

10. Ein Schatz an Übungen. An dieser Stelle befinden sich Übungsanleitungen in alphabetischer Reihenfolge mit einigen Hinweisen zum fachgerechten Umgang damit.

Zielgruppe

Das Buch „Achtsamkeit und Mitgefühl“ richtet sich an Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Fazit

Das Thema dieses Buches – Achtsamkeit, Mitgefühl und Muße statt Hektik und Burnout – wird von Sylvia Wetzel im Licht vieler unterschiedlicher Denkansätze reflektiert. Entspannung und Muße sind dabei nicht einfach ein Wohlfühlprogramm für unruhige Zeitgenossinnen und erfahrungshungrige und gelangweilte Städter, sondern die entscheidende Voraussetzung für ein Leben in Würde. Das Buch will konkrete Anregungen zur Burnout-Prophylaxe geben und darüber hinaus Mut machen, die eigenen Prioritäten zu überprüfen und Bedingungen für ein gutes Leben zu schaffen.

Im Unterschied zu vielen andern Büchern über Achtsamkeit stehen hier die typischen Geh-, Steh-, Sitz- und Alltagsmeditationen nicht im Vordergrund, sondern eine Vielzahl von meditativen Beobachtungsaufgaben und kognitiven Anregungen, die sich nicht während alltäglicher Hausarbeit, sondern nur in absoluter Muße, bearbeiten lassen. Dadurch wird das Buch zu einem alternativen Weg für alle Interessierten, die bisher noch keinen achtsamen Alltag gestaltet bekommen haben.

Rezension von
Dr. Kirsten Oleimeulen
Psychologin – Familienberaterin, akkreditierte Psychologin für Gesundheitspsychologie und Prävention (BDP), systemische Familientherapeutin und Supervisorin, online-Beraterin
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Es gibt 96 Rezensionen von Kirsten Oleimeulen.

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Zitiervorschlag
Kirsten Oleimeulen. Rezension vom 20.04.2015 zu: Sylvia Wetzel: Achtsamkeit und Mitgefühl. Mut zur Muße statt Hektik und Burnout. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2014. ISBN 978-3-608-89145-4. Reihe: Leben lernen - 267. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16257.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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