Sandra Wieland (Hrsg.): Dissoziation bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Thomas Buchholz, 27.06.2014

Sandra Wieland (Hrsg.): Dissoziation bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Grundlagen, klinische Fälle und Strategien. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2014. 380 Seiten. ISBN 978-3-608-94826-4. D: 44,95 EUR, A: 46,30 EUR, CH: 59,90 sFr.
Thema
„Dieses Buch wird im deutschsprachigen Raum absolut benötigt, weil es kein vergleichbares gibt, das sich derart in Theorie und Praxis mit dem Phänomen der Dissoziation bei dieser Altersgruppe beschäftigt“ (Karl Heinz Brisch, im Vorwort zu diesem Buch, S. 7). Und tatsächlich gibt es nur sehr wenige Veröffentlichungen zu diesem Thema (Ausnahmen sind z.B. von Resch u.a.: Kursbuch für integrative Kinder- und Jugendpsychotherapie, Schwerpunkt: Dissoziation und Trauma, 2005; sowie das Übersichtswerk von Brunner: Dissoziative und Konversionsstörungen aus der Springer-Reihe Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, 2012). Dies verwundert etwas, da das Phänomen der Dissoziation bei komplex traumatisierten Kindern und Jugendlichen keine Seltenheit darzustellen scheint, sondern vielmehr eine häufig auftretende und das Selbst des Kindes/Jugendlichen schützende Abwehrstrategie ist. Dieses zunächst funktionale Verhalten als Reaktion auf ein traumatisierendes oder länger bestehendes traumatisches Ereignis ist später, im alltäglichen Leben, ursächlich für eine Reihe vielfältiger Symptome und Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Daher sollte das Konzept der Dissoziation von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bei der Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen immer mitgedacht werden.
Was ist und wie zeigt sich das Phänomen der Dissoziation?
Bei der Dissoziation werden Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte, die üblicherweise miteinander assoziiert sind, voneinander getrennt. Auf diese Weise kann es zu einer fehlenden Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Wahrnehmung und Identität kommen. Konkret bedeutet dies z.B., dass ein Kind oder Jugendlicher, der großem Stress ausgesetzt ist, diesen Schutzmechanismus entwickelt und im Moment der Gefährdung keine Affekte, wie Angst/Panik oder Wut sowie keine körperlichen Empfindungen, z.B. Schmerz, spürt.
Wieland weist daraufhin, dass Phänomene der Dissoziation unabhängig von bestehenden Traumata bis zu einem gewissen Grad üblich sind und jedem von uns im Alltag begegnet: Das Kind, das so tief in ein Computerspiel versunken ist, dass es die Umgebung nicht mehr wahrnimmt und zeitweise kein Hungergefühl oder Harndrang verspürt. Oder der Erwachsene, der beim Autofahren mit den Gedanken abdriftet und am Ende der Autofahrt keine Erinnerung an die zurückgelegte Strecke hat. Zu Problemen kommt es, wenn ein als bedrohlich oder traumatisierendes Ereignis soweit dissoziiert wird, dass keine bewusste Erinnerung an dieses Ereignis mehr möglich ist und eine gesunde Verarbeitung damit unmöglich wird: „Im Zuge dieser andauernden Dissoziation wird ein immer größerer Teil der kindlichen Wahrnehmung – seine Gefühle, Empfindungen und sein Verstehen der Welt – außerhalb der aktiven und bewussten Wahrnehmung gespeichert … Wahrnehmung, Gefühle und Empfindungen sind immer noch vorhanden … aber sie sind aus der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen“ (S. 19). In der Folge wird das Kind oder der Jugendliche nach dem traumatisierenden Ereignis auch in eigentlich ungefährlichen Situationen dissoziieren, wenn durch bestimmte Reize traumatische Erfahrungen getriggert werden.
Formen der Dissoziation können sich in leichten, moderaten oder schwersten Ausprägungen zeigen. Leichte Dissoziation ist z.B. das dissoziative Wegdriften, bei dem das Kind „wenig oder keine bewussten Wahrnehmung von den Vorgängen in seiner Umgebung“ (S. 20) hat. Auch schnelle Stimmungswechsel oder plötzlich einsetzendes regressives Verhalten können Hinweise auf eine leichte Dissoziation geben. Bei Formen der moderaten Dissoziation berichten Patienten von einem Verlust der Gefühlswahrnehmung und der Körperempfindungen, wie Schmerzen oder das Gefühl für die Ausscheidungsfunktionen (vgl. Fallbeispiel „Ryan“ in diesem Band). Zu dieser Gruppe zählt die Autorin auch Depersonalisations- und Derealisationsphänomene, bei der das Kind/der Jugendliche sich selbst außerhalb seines eigenen Körpers oder die Umgebung/die Situation als „nicht echt“ wahrnimmt. Bei schwerer Dissoziation speichern abgespaltene Anteile Emotionen, Empfindungen und Erfahrungen, die in Verbindung mit dem traumatischen Ereignis stehen (dissoziative Anteile). Kommt es zu wiederholten Wechseln, dem sog. „Switch“, zwischen verschiedenen Selbstzuständen, wird diese Form der Dissoziation als dissoziative Identitätsstörung (auch: Multiple Persönlichkeitsstörung) bezeichnet. Das Kind selbst hat i.d.R. kein Bewusstsein für diese Wechsel und kann sich auch nicht an die Erlebnisse erinnern, die es in dieser Zeit im „Modus“ des dissoziativen Selbstanteils gemacht hat. Auch positive Lernerfahrungen, die es in seinem gesunden Anteil gemacht hat, sind im dissoziativen Zustand nicht bewusst zugänglich oder erinnerungsfähig. Denn jeder Anteil hat neben eigenen Gefühls- und Verhaltenszuständen auch unterschiedliche Erinnerungen (auch: dissoziative Amnesie). Im schwersten Fall einer Dissoziation übernimmt der dissoziative Anteil die Kontrolle über die Person: „Das Kind kann dabei wirken, als wäre es unterschiedliche Personen, weil seine Mimik, seine Bewegung und seine ganze Haltung von Anteil zu Anteil sehr stark variieren kann. Wenn sich ein Kind in einem Anteil befindet, hat es kein Bewusstsein dafür, dass auch noch andere Anteile existieren … [Es hat] auch wenig oder gar keine Kontrolle darüber, welcher Anteil in jedem beliebigem Moment vorn ist“ (S. 22).
Aufbau und Inhalt
Eröffnet wird das Buch mit einem Vorwort von Karl Heinz Brisch.
Nach eine kurzen Einleitung beschreibt die Herausgeberin Sandra Wieland im ersten Kapitel das Phänomen der Dissoziation bei Kindern und Jugendlichen. Dabei geht sie darauf ein, dass Dissoziation bis zu einem gewissen Grad ein Alltagsphänomen bei Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen darstellt. Pathologisch wird Dissoziation wenn es bei schweren Traumata oder länger anhaltenden Traumatisierungen als Abwehrmechanismus die Entwicklung von gesunden Bewältigungsmechanismen und die Verarbeitung (Integration) des Traumas blockiert. Die dysfunktionale Dissoziation wird von der Autoren nach ihrem Schwergrad in leicht, moderat und schwer unterteilt (s.o.). Im nächsten Schritt erläutert die Autorin, wie es zu Dissoziation kommt. Dissoziation geht häufig auf ein schweres, komplexes Trauma zurück. Die Autorin grenzt Dissoziation von der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ab, aber schränkt auch ein, dass diese häufig komorbid vorkommen. Nicht jedes Trauma führt jedoch zur Dissoziation. Wieland beschreibt in Anlehnung an Kluft (1984) vier Faktoren, die die Entwicklung von dissoziativen Identitäten mit bedingen. Anschließend werden typische Symptome einer dissoziativen Störung im Kindes- und Jugendalter im Verhalten, auf der emotionalen, kognitiven und körperlichen Ebene vorgestellt. Diese sollte jeder Therapeut schon bei der Exploration des Patienten in den ersten Gesprächen abklären.
Im nächsten Abschnitt werden theoretische Konzepte der Dissoziation vorgestellt:
- Das neurobiologische Modell der Dissoziation
- Das Modell der diskreten Verhaltenszustände (Putnam 1997)
- Das Modell der desorganisierten Bindung (Liottis 1999; 2000)
- Das Modell der Affektvermeidung (Silberg 2013)
- Das Ego-State-Modell (Watkins und Watkins 1979; 1993) und
- Das Modell der strukturierten Dissoziation (Van der Hart, Nijenhuis und Steele 2006).
Nach dieser theoretischen Einführung werden in den nachfolgenden Kapiteln sieben Fallvignetten von Kindern und Jugendlichen mit dissoziativer Störung von unterschiedlichen AutorInnen präsentiert. Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einführung in den Hintergrund des Falles, stellt den Erstkontakt zwischen Patient und Therapeut, diagnostische Schritte sowie Interventionen und den Therapieverlauf dar. Die Kapitel enthalten Interaktionsbeschreibungen zwischen Kind und Therapeut bzw. Bezugsperson und Therapeut. Die Vorgehensweise im Therapieverlauf orientiert sich in vielen Fällen an dem Drei-Phasen-Modell nach Van der Hart, Nijenhuis und Steele (2006), auf das immer wieder Bezug genommen wird: (1.) Stabilisierung und Symptomreduktion, (2.) Verarbeitung der traumatischen Erinnerungen und (3.) Persönlichkeitsintegration und Rehabilitation (vgl. S. 46).
Die Fallberichte geben intime Einblicke in die Gedankenwelt des behandelnden Therapeuten, da auch Gedanken, Zweifel und damit verbundene Gefühle und Übertragungsphänomene dargestellt werden. Textpassagen zur Fallbeschreibung und zum Fallverlauf werden abgelöst von persönlichen Kommentaren der Therapeuten (kursiv gesetzt), in denen Erklärungen gegeben, subjektive Wahrnehmungen beschrieben, Hypothesen aufgestellt werden und das eigene Vorgehen kritisch hinterfragt wird. Jeder Fallbericht wird mit Anmerkungen der Herausgeberin Sandra Wieland abgeschlossen, in denen sie das Vorgehen der Therapeutin wertschätzend kommentiert und vor dem Hintergrund der o.g. Modelle prägnant erklärt.
Die Fallberichte bilden das gesamte Altersspektrum des Kindes- und Jugendalter ab und geben auch einen Einblick in die vielfältigen Erscheinungsformen der dissoziativen Störung. Die Kinder haben unterschiedliche Traumata erlebt, z.B.
- Vernachlässigung: Jason (7 Jahre)
- Sexueller Missbrauch: Dalma (4 bis 7 Jahre), Emma (6 bis 9 Jahre) und Ryan (8 bis 10 Jahre)
- Häusliche Gewalt und andere Gewalterfahrung: Joey (11 bis 12 Jahre)
- Schmerzhafte körperliche Erkrankung: Angela (14 bis 16 Jahre).
Im Falle des 7-jährigen Leroy blieb das erlittene Trauma über die gesamte Zeit hinweg unbekannt.
Auch die beschriebenen Therapieformen sind unterschiedlich: Diese reichen von einer zweiwöchigen Intensivtherapie über ambulante Therapien mit wöchentlichen Sitzungen über mehrere Jahre bis hin zu Interventionen in der Schule im Fall von Leroy, ohne Psychotherapie. Die o.g. Altersangaben beziehen sich dabei auf das Alter zur Zeit der Therapie, nicht auf das Alter zur Zeit des Traumas.
Abgeschlossen wird der Band mit einer Zusammenfassung der Herausgeberin, in deren Verlauf die zentralen Bausteine einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bei Dissoziation zusammengefasst werden. Im Einzelnen sind dies: (1) Bindung aufbauen und stärken. (2) Sicherheit und Beruhigung ermöglichen. (3) Psychoedukation. (4) Dissoziative Zustände und Selbstanteile identifizieren. (5) Die innere Kommunikation fördern und (6) Traumaverarbeitung.
Diskussion
Das Konzept der strukturellen Dissoziation bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen ist in der Psychotherapie noch zu wenig bekannt. Wieland beschreibt am Anfang des Bandes eindrücklich, wie mühsam es war, dieses Thema der Fachöffentlichkeit in Nordamerika (USA und Kanada; Wieland lebt und arbeitet selbst in Kanada) zu erschließen. Wieland hat eine Fortbildungsreihe entwickelt, die Therapeuten zur Diagnostik und Behandlung von komplextraumatisierten/dissoziativen Kindern und Jugendlichen weiterbildet. Diese Fortbildungsreihe wird mittlerweile in verschiedenen Ländern angeboten, darunter USA, Kanada, Schweden und England – viel zu wenig, wie Wieland kritisch anmerkt, denn: „Trotzdem beläuft sich die Anzahl der Kinder- und Jugendtherapeuten, die auf Trauma und Dissoziation spezialisiert sind, nach wie vor auf Hunderte, während es vermutlich Hunderttausende Therapeuten gibt, die mit traumatisierten und dissoziativen Kindern und Jugendlichen arbeiten“ (S. 11). Das vorliegende Buch stellt insofern eine Pionierarbeit dar, als dass das Thema Dissoziation erstmals auf die therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen übertragen wird. Es beinhaltet neben einer prägnanten und übersichtlichen Systematisierung der unterschiedlichen Konzepte und Erklärungsansätze auch ein erstes grundlegendes Raster für die Arbeit mit dissoziativen Kindern und Jugendlichen. Dieses wird nicht in Form eines Manuals präsentiert, wie dies gern in der Verhaltenstherapie geschieht, sondern wird durch sieben ausführlich dargestellte Fallbeispiele transportiert. Auch wenn das Buch sicherlich keine, wie auf dem Klappentext angekündigte, „Anleitung“ für die Therapie mit dissoziativen Kindern und Jugendlichen darstellt, so ermöglicht es differenzierte Einblicke in die Therapie. Die zahlreichen Anmerkungen der AutorInnen an passender Stelle sowie die Anmerkungen der Herausgeberin am Ende jedes Kapitels ermöglichen ein tiefgreifendes Verständnis für den Fall und eröffnen praxisnahe Anregungen für den Leser. Die Herausgeberin nimmt in den Fallbeispielen immer wieder Bezug auf die verschiedenen o.g. Theoriemodelle und wendet diese auf den individuellen Fall an. Auch werden unter dem Fokus der einzelnen Modelle Therapieansätze abgeleitet und für den Leser nachvollziehbar und verständlich erörtert. Auf diese Weise wird eine Brücke zwischen Theorie auf der einen und der praktischen Intervention im konkreten Fall auf der anderen Seite geschlagen.
Fazit
Mit dem vorliegenden Buch machen die AutorInnen auf ein bisher wenig berücksichtigtes Thema in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie aufmerksam. Zielgruppe sind alle professionell Tätigen, die therapeutisch mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten. Das präsentierte Raster für die therapeutische Arbeit und die ausführlich dargestellten Fallberichte unterstreichen die Praxisrelevanz und vermitteln das Thema dem Leser nicht nur anschaulich, sondern machen das Buch gleichsam zu einem Nachschlagewerk für die Bearbeitung eigener Fälle.
Rezension von
Thomas Buchholz
M.A.
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