Sabrina Effinghausen: Diagnose psychisch krank - ein Leben ohne Zukunft?
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 23.06.2014

Sabrina Effinghausen: Diagnose psychisch krank - ein Leben ohne Zukunft? Bewältigungsstrategien von psychisch erkrankten Menschen und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit am Beispiel des ambulant betreuten Wohnens. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 259 Seiten. ISBN 978-3-8487-1047-8. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR, CH: 62,90 sFr.
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Thema
Gegenstand der vorliegenden Publikation, eine überarbeitete Fassung der von Sabrina Effinghausen 2012 an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden eingereichten Dissertation, ist die Frage von Wegen der Gesundung chronisch psychisch kranker Menschen. Die Autorin wählte dazu einen multiperspektivischen Zugang und befragte Betroffene, Angehörige und Fachpersonal im Bereich des betreuten Wohnens (ABW) für psychisch kranke Menschen nach Bedingungen und Aspekten der Krankheitsbewältigung. Auf Grundlage des empirischen Materials werden Empfehlungen für die Praxisgestaltung im Bereich des ambulant betreuten Wohnens entwickelt, welche auf eine konsequente Einbeziehung der Betroffenen als „GesundungsexpertInnen aus eigener Erfahrung“, auf Aspekte der Selbsthilfefähigkeiten und vorhandener Ressourcen zielen.
Autorin
Sabrina Effinghausen (Dr. phil.) studierte Soziale Arbeit und absolvierte einen Masterstudiengang „Soziale Arbeit im internationalen und interkulturellen Kontext“. Seit Anfang 2014 tätig als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Gesundheit, Krankheit und Behinderung an der Hochschule Hannover, Fakultät „Diakonie, Gesundheit und Soziales“ und Lehrbeauftragte an der HAWK Hildesheim.
Aufbau und Inhalt
Die Dissertation gliedert sich nach einem Einleitungskapitel in einen Theorieteil (jüngere Psychiatriegeschichte, Krankheits-/Gesundheitsbegriff, Gesundheitsförderung), einen empirischen Teil (Forschungsdesign, Methodik, Ergebnisse der Datenauswertung, Diskussion) und eine abschließende Zusammenfassung mit Ausblick.
In Kapitel eins führt die Autorin in die Rahmenbedingungen der Sozial- und Gemeindepsychiatrie, auch vor ihrem historischen Hintergrund ein. Dabei beschäftigt sie sich ausführlich mit der sog. „Psychiatriereform“ im Nachgang zur Psychiatrie-Enquete des Jahres 1975 und mit der Angebotsstruktur gemeindepsychiatrischer Dienstleister, bis hin zu aktuellen Entwicklungslinien in diesem Bereich. Neben der Definition grundlegender Begriffe (Sozialpsychiatrie, Gemeindepsychiatrie) bietet das Kapitel auch einen Überblick zur Angebotsstruktur der Gemeindepsychiatrie in Niedersachsen mit Fokus auf den Landkreis Hildesheim, der als beispielhafte Region, als Untersuchungsregion der vorliegenden Studie gewählt wurde.
Die teils konkurrierenden Definitionsansätze zur psychischen Gesundheit und Krankheit, aus denen sich spezifische Konsequenzen für die Behandlung und Rehabilitation und die als möglich erachteten Ziele ergeben, sind Thema des zweiten Kapitels. Vertiefend greift die Autorin das biopsychosoziale Modell und das Vulnerabilitäts-Stress-Modell als zwei Vertreter von Krankheitsmodellen in der psychosozialen Arbeit auf, woraus als Handlungsansätze die Konzepte des Empowerment, Recovery und das Salutogenesemodell diskutiert werden.
Im dritten Kapitel werden Aspekte des Umgangs mit der eigenen psychischen Erkrankung durch die Betroffenen und die Chancen der Gesundheitsförderung im Rahmen des lebensweltorientierten Ansatzes des ambulant betreuten Wohnens erörtert. Effinghausen definiert zunächst den zentralen Begriff der Lebensweltorientierung und entwickelt daraus Überlegungen zu Struktur- und Handlungsmaximen in der psychosozialen Fallarbeit (Prävention, Alltagsnähe, Integration, Partizipation etc.). Am Angebot des ABW werden diese Überlegungen dann am konkreten Beispiel ausgeführt. Als zentrale Zielsetzung wird der Aspekt der Krankheitsbewältigung benannt, wozu unterschiedliche theoretische Modelle (Transaktionales Stressmodell, Copingverhalten) erschlossen und deren Potential für Unterstützungsleistungen durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit diskutiert werden.
Das Forschungsdesign der vorliegenden Studie wird im vierten Kapitel beschrieben. Der Autorin geht es um einen möglichst vollständigen Zugang zur gewählten Thematik die in multiperspektivischer Herangehensweise auf die Sichtweise der Betroffenen und ihrer Angehörigen (Krankheitsbewältigung, Alltagsbewältigung, Gesundungsprozess) und auf die Sichtweise der Professionellen (Unterstützungsangebote) fokussiert. Die unterschiedlichen Perspektiven werden in diesem Forschungsprojekt zusammengeführt um zu klären, was psychisch kranken Menschen bei ihrer Krankheitsbewältigung hilft und welche Unterstützungsmöglichkeiten das ambulant betreute Wohnen für Betroffene dazu beisteuern kann. Das Forschungsinteresse bezieht sich neben der Einschätzung der psychosozialen Dienstleister v. a. auf den Aspekt der (benachteiligten) Lebenslage psychisch kranker Menschen. Entsprechend werden die vorliegenden Befunde zur Situation dieser Personengruppe (Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Partizipation im Arbeitsleben) dargestellt und mit dem Hilfeangebot des ABW kontrastiert.
In Kapitel fünf erörtert Sabrina Effinghausen das methodische Vorgehen der von ihr durchgeführten qualitativen Untersuchung, die Befragung von Betroffenen, Angehörigen und Professionellen mittels Leitfaden gestützter Experteninterviews. Das Kapitel wird ergänzt um Hinweise zum Feldzugang und zur Auswahl und Begründung der Auswertungsmethode des Datenmaterials mittels thematischen Kodierens.
Im anschließenden Kapitel sechs erfolgt die Präsentation der Datenanalyse, untergliedert in vier Teilstudien analog der vier befragten Personengruppen Betroffene, Angehörige, SozialarbeiterInnen und PsychiaterInnen. Die Autorin verzichtet hier auf die Darstellung aller Einzelinterviews, dafür wird aus der Interviewgruppe der Betroffenen ein als exemplarisch klassifiziertes Interview ausführlich vorgestellt und die Aussagen aller Teilgruppenprobanden in einem fallübergreifenden Vergleich tabellarisch erfasst. Die Ergebnisse der Teilgruppen werden abschließend in einer zusätzlichen gruppenübergreifenden Analyse zusammen geführt und beschrieben. So entstehen einerseits Befunde die einen tiefen Einblick in das Krankheitserleben und die -bewältigung einer Probandin erlauben (z. B. werden als Selbsthilfestrategien die Beschäftigung mit Lebensträumen, konkrete Schritte zur Stressreduktion, die Übernahme von Verantwortung, die Steigerung des Selbstwirksamkeitsgefühls als Kategorien erfasst und in konkreten Einheiten, z. B. Verantwortung für ein Haustier, Bewusste Entscheidung für eine [bereits bestehende] Schwangerschaft, Konfliktklärung, sportliche Aktivitäten etc.) benannt. Andererseits ergibt sich durch den Gruppenvergleich ein multiperspektivischer Befund auf die unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte. Allerdings bleibt die Darstellung dieser Untersuchungsergebnisse unvollständig, Effinghausen stellt auch hier lediglich eine, wiederum als exemplarisch klassifizierte Kategorie in tabellarischer Form vor. Das sicher umfangreiche Datenmaterial mit den einzelnen Auswertungsergebnissen bleibt dem Leser verborgen. Die umfangreichen Auswertungsergebnisse werden in sieben thematische Bereiche untergliedert, wodurch neben der thematischen Sequentierung auch eine bessere Übersichtlichkeit der (im Einzelfall kleinteilig angelegten Datenstruktur) erreicht wird. Als thematische Struktur benennt Sabrina Effinghausen die Bereiche 1. Betreutes Wohnen, 2. Psychiatrische Behandlung, 3. Gesetzliche Betreuung, 4. Verhältnis Gesundheit & Krankheit, 5. Krankheitsbewältigung, 6. Lebenslage und 7. Zukunft mit jeweils eigenständiger Untergliederung.
Abschließend werden in diesem Kapitel die Gesamtaussagen zu den einzelnen Themenbereichen in ausformulierter Form dargestellt. Hier werden z. B. die Aufgabenstruktur des ABW (Hilfe bei der alltäglichen Lebensführung, Gesundheit, psychosoziale Hilfen, Förderung von sozialen Beziehungen etc.) aus Sicht der interviewten NutzerInnen und Professionellen, deren Erwartungen (Betreuungsbeziehung, fachliche Kompetenz, Persönlichkeitsmerkmale des Fachpersonals) beschrieben. Deutlich wird in einer Kategorien beschrieben, dass alle Interviewten, Betroffene, Angehörige und Fachpersonal eine deutliche Skepsis in Bezug auf Heilungsaussichten der seelischen Störungen bestanden, abgesehen von der Gruppe der Psychiater, die stärker von der Heilbarkeit psychischer Erkrankungen ausgegangen waren. Krankheitsbewältigung wurde in diesem Rahmen weniger als „Heilung“, sondern als „angemessener Umgang mit der eigenen seelischen Beeinträchtigung“ definiert. Die Darstellung der Datenauswertung wechselt an diesem Punkt in eine Tabellarische, rein aufzählende Darstellung von Bewältigungsstrategien im Alltag (wie von den Interviewprobanden genannt), z. B. Hobbies, Aktivitäten, Tagesstruktur, Differenzierung der Gefühlswahrnehmung, soziale Kontakte, fachliche und medizinische Unterstützung, Arbeit, motivationale Aspekte, habituelles Gesundheitsverhalten (Ernährung, Sport etc.), Krisenmanagement, Sinnerleben (Spiritualität), um nur die wichtigsten Ebenen zu nennen. Für die einzelnen Strategien werden entsprechende konkrete Beispiele aufgelistet.
Die Datenauswertung wechselt dann wieder hin zu einer ausformulierten Darstellung, Effinghausen beschreibt im Weiteren die Kategorienebenen „Lebenslage“ und „Zukunft“. Hier wird deutlich, dass das Selbsthilfepotential psychisch kranker Menschen allseits als hoch eingeschätzt wird (abgesehen von der Gruppe der Psychiater), allerdings der Zugang zu geeigneten Mitteln zur Realisation selbstwirksamer Strategien durch einen erschwerten Zugang zu Arbeit und angemessenen ökonomischen Mitteln erschwert wird.
Unter der Kategorie „Diagnosen“ arbeitet Effinghausen heraus, dass die Patienten „trotz jahrelanger psychiatrischer Behandlung und Betreuung … nicht wieder gesund“ (193) wurden. Als Gründe dafür werden schwierige Behandlungsmöglichkeiten, bestimmte Lebensumstände und die Tatsache, dass die Behandlungsmaßnahmen eher im Bereich lebenspraktischer Fähigkeiten, weniger in psychoedukativen, auf Krankheitsbewältigung zielenden Ansätzen liegen. Die Angehörigen beschreibt Effinghausen als wenig hoffnungsvoll in Bezug auf eine mögliche Genesung betroffener Familienmitglieder, diese Gruppe orientiert sich eher auf Möglichkeiten der Krisenbewältigung. Als ein wichtiger Faktor für die Krankheitsbewältigung wird der Faktor „Hoffnung“ herausgearbeitet: „Es wird davon ausgegangen, dass psychiatrieerfahrene Menschen wieder gesunden können. Für Betroffene soll hiernach die Orientierung am Prinzip Hoffnung ausschlaggebend sein“ (196). Andererseits werden auch konkrete soziale Aspekte und Umweltfaktoren als bedeutsam für den Verlauf einer psychischen Erkrankung beschrieben, z. B. Angehörige mit hoher Erwartungshaltung, Verlustsituationen, oder Arbeitsüberlastung. Unter der Überschrift „Krankheitsbewältigung“ (definiert als „angemessener Umgang mit der seelischen Beeinträchtigung“) wird beschrieben, „dass Betroffene häufig Selbsthilfestrategien anwenden, die ihnen selbst gar nicht bewusst sind und die sie als solche nicht zu identifizieren wissen“ (199), was als Mangel in der psychosozialen Behandlung aufgefasst wird. Andererseits wird hier das Potential für die Bewältigung von Krankheit verortet: Psychisch Kranke Menschen sind „Betroffene Experten in eigener Sache“ (199), professionelle Helfer könnten von deren Fähigkeiten lernen, sowohl auf den konkreten Fall bezogen (Fallwissen), als auch auf einer übergeordneten Ebene.
Einen problematischen Aspekt beschreibt Effinghausen unter der Kategorie „Finanzielle Situation„: im Datenmaterial finden sich Hinweise, dass die differenzierte Angebotssituation im Bereich der ambulanten psychosozialen Hilfen zu dem Effekt führen, dass Betroffene in der „Psychiatrieszene“ verbleiben, das Psychiatriesystem als geschlossener Bereich eine „wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (207) nicht ermöglicht, vielleicht sogar verhindert, indem Mitarbeiter versuchen Patienten „möglichst dauerhaft, durch die Inanspruchnahme unterschiedlicher Angebote an ihre Einrichtung zu binden“ (ebd.). Entsprechend wird auch die soziale Situation der Betroffenen beschrieben: “ wenn überhaupt [haben psychisch erkrankte Menschen] soziale Beziehungen zu professionellen Helfern, Angehörigen und anderen Psychiatrie-Erfahrenen“ (209). Kontakte zu Personen außerhalb dieses Systems bestehen kaum, die Sozialpsychiatrie präsentiert sich hier als geschlossener Regelkreis, aus dem es schwierig ist, heraus zu kommen.
In Kapitel sieben werden Schlussfolgerungen aus den zuvor präsentierten Befunden gezogen. Die Bewältigung einer psychischen Erkrankung wird hier als multifaktorielles Geschehen aufgefasst, als Zusammenspiel verschiedener individueller Verhaltensweisen (Coping), Einstellungen und Überzeugungen, Hoffnungspotential, sozialer und ökonomischer Faktoren, sowie professioneller Unterstützungs- und Behandlungsleistungen. Für das sozialpsychiatrische Angebot des ABW werden aus diesem Ansatz heraus Empfehlungen formuliert: die Maßnahme sollte deutlicher auf den Aspekt der Krankheitsbewältigung fokussieren und sich noch stärker auf die Lebenswelt der Betroffenen konzentrieren um dort krankheitsverstärkende, vor allem aber gesundheitsförderliche Faktoren herauszufiltern und für den Hilfeprozess zu berücksichtigen. Unter den methodischen Aspekten wird eine stärker geschlechtergerechte Arbeit, die Orientierung an den Selbstdeutungmustern und -heilungskräften der Betroffenen, intensivere Netzwerkarbeit, die Förderung ehrenamtlicher Ansätze und schließlich die Stärkung der Recoveryperspektive empfohlen. Für diese Empfehlungen werden abschließend konkrete Umsetzungsmöglichkeiten (Sportangebote, Trialogveranstaltungen etc.) angerissen und abschließend eine Liste möglicher individueller Strategien zur Krankheitsbewältigung mit 58 Strategieebenen und über 200 konkreten Beispielen sowie Selbsthilfeansätzen zur Krisenbewältigung aufgezählt.
Abschließend erfolgen die Zusammenfassung der zentralen Aspekte der Studie und ein Ausblick, der die Gemeindepsychiatrie als in „eine Psychiatriegemeinde“ (241) gewandelte Spezialveranstaltung, jenseits der gesellschaftlichen Realität kritisiert, wodurch Menschen die in dieser „Sonderwelt“ (241) behandelt werden und leben, in ihren Teilhabemöglichkeiten beschränkt sind, bzw. werden. Den professionellen Dienstleistern in diesem Feld werden schließlich die Ausbaufähigkeit ihrer methodischen Fähigkeiten und die Notwendigkeit einer intensiveren Vernetzung angemahnt.
Zielgruppe
Interessant für alle Berufsgruppen im Feld der sozialpsychiatrischen Hilfen, insbesondere dem Angebot des ABW und für Betroffene, die hier konkrete Ansätze und Vorschläge für die eigene Krankheitsbewältigung finden können.
Diskussion
Das Forschungsinteresse der empirischen Studie bezieht sich auf Aspekte der Krankheitsbewältigung bei chronisch psychisch kranken Menschen und Unterstützungsmöglichkeiten des ABW. Sabrina Effinghausen wählt dazu einen multiperspektivischen Zugang und bezieht die Sichtweise von Betroffenen, deren Angehörigen, SozialarbeiterInnen im Arbeitsfeld ABW und die Berufsgruppe der Psychiater ein. Die befragte Gestamtstichprobe ist, wie oft bei qualitativ angelegten Qualifizierungsarbeiten gering, es wurden 16 Personen befragt, je Teilgruppe zwischen drei und fünf Probanden. Es scheint allerdings gelungen zu sein in den durchgeführten Experteninterviews eine ausreichende Datendichte zu erreichen, so dass stichhaltige Aussagen im Datenmaterial gefunden werden konnten. Das bezieht sich vor allem auf die Gruppe der interviewten Betroffenen, bei denen sich umfangreiche Hinweise zu konkreten Ansätzen zur Krankheitsbewältigung finden.
Der dem empirischen Teil des Werks voran gestellte Theorieteil bietet eine Auswahl wissenschaftlicher Grundlagen. Es bleibt offen, wonach diese Auswahl getroffen wurde, z. B. verzichtet die Autorin auf den Beitrag des Konzepts und Theorieansatz zur Lebensführung und Integration nach Sommerfeld et al. (2011) der für das Bewältigungsverständnis chronisch psychisch kranker Menschen unverzichtbar ist. Die Hinweise zur Methodik im ABW sind sinnvoll und konkret, jedoch erfolgt die Diskussion ohne eine methodische Einbettung im Bereich der Sozialtherapie, Klinischen Sozialarbeit oder den Ansatz der Psychoedukation – warum? Für eine wissenschaftliche Arbeit fehlen erstaunlicherweise Angaben zu einzelnen Quellen, z. B. geht Effinghausen im Abschnitt zum Salutogenesekonzept ausführlich auf dieses Konzept ein, gibt allerdings keine Quellen zu Antonovsky (1997) und seinem Werk an.
Im empirischen Teil der Arbeit kommt eine kritische Diskussion der Forschungsmethodik und -durchführung zu kurz. Einige Hinweise zur Begrenztheit der Aussagen, zur Fokussierung auf einen einzelnen Versorgungsbereich in der Region Niedersachsen etc. wären angebracht gewesen.
Der Anspruch der Partizipation der Beteiligten bei allen Maßnahmen der Gesundheitsförderung, Planung der professionellen Interventionen etc. wurde im Forschungsdesign aufgegriffen und umgesetzt. Dadurch erweist sich die Arbeit als beispielhaft für eine an emanzipatorischen Ansätzen orientierte Praxisforschung in der Klinischen Sozialarbeit. Allerdings: methodisch wäre auch ein quantitativer Forschungsansatz denkbar gewesen. Die Festlegung auf eine rein qualitative Exploration (deren Tragfähigkeit durchaus gegeben ist) hätte begründet werden müssen.
Die Analysetiefe in der Datenauswertung ist teilweise wenig tiefgehend, die Aussagekraft der Überlegungen mitunter banal. So schreibt Effinghausen „Anscheinend geht mit einer chronisch psychischen Erkrankung häufig der Besuch eines Psychiaters einher“ (187) um dann die Grundlagen für die Finanzierung sozialpsychiatrischer Maßnahmen (psychiatrisches Gutachten, Diagnoseerstellung, Ableitung von Hilfebedarf) zu hinterfragen. Hier hätte die Chance bestanden die Dominanz der naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsbereiche zum Nachteil sozialwissenschaftlicher Professionen aufzugreifen und auf der Ebene der Wissenschaftsentwicklung sozialer Berufe, z. B. Klinischer Sozialarbeit zu hinterfragen. Deutlicher arbeitet Effinghausen andere Aspekte heraus, z. B. dass zwischen den im sozialpsychiatrischen Feld tätigen Berufsgruppen, bei Vorliegen unterschiedlicher Handlungsansätze, weiterhin gewissen Vorbehalte bestehen (z. B. die Einschätzung, dass Psychiater im Wesentlichen Medikamente verschreiben, andere Hilfeformen dort zu kurz kämen).
Effinghausen zielt mit ihrer qualitativen Studie auf einen differenzierten Einblick in die Thematik der Krankheitsbewältigung bei chronisch psychisch kranken Menschen. Dafür wählt sie entsprechend detaillierte inhaltlich nahe am Material orientierte Kategorienbildungen und entsprechend kleinteilige Beschreibungen. Schwierig sind die Versuche, aus dem qualitativen Material allgemeine Aussagen im Sinn quantitativer Verhältnisse abzuleiten. So wird aus dem Zahlenverhältnis zur Geschlechterverteilung und in den konkreten Einzelfällen veranschlagten Fallstunden der untersuchten Teilstichprobe der Betroffenen abgeleitet, „dass die … bewilligten Fachleistungsstunden … von Fall zu Fall unterschiedlich sind und keiner Regelmäßigkeit unterliegen“ (205). Bei einer Stichprobengröße von nur fünf Fällen wäre es allerdings überraschend Regelmäßigkeiten erkennen zu können. Wenn aus den Zahlenverhältnissen dieser Stichprobe dann auch noch abgeleitet wird, „dass Frauen in der Regel eine höhere Anzahl an Fachleistungsstunden bewilligt bekommen“ (ebd.) wird die (quantitative) Aussagekraft des Datenmaterials deutlich überstrapaziert. Die Stärke der vorliegenden Studie ist die qualitative Beschreibung des Untersuchungsgegenstands. Hier gelingt Effinghausen ein sensibler Einblick in die Lebensrealität chronisch psychisch kranker Menschen und in die Versorgungsstruktur des ABW, daraus ließen sich für Anschlussstudien weitergehende Hypothesen entwickeln, die für die anstehende Forschung in diesem Bereich von Bedeutung wären.
Fazit
Sabrina Effinghausen greift in ihrer Dissertation eine für die Praxis des Ambulant Betreuten Wohnens wichtige Frage auf, die Frage nach Krankheitsbewältigung im Bereich chronischer psychischer Erkrankung. Der Wert dieser Forschung liegt in der detaillierten Darstellung einer Fülle von Bewältigungsansätzen und konkreten -maßnahmen, die belegen, dass Betroffene „Experten ihrer eigenen Situation“ sind, umfangreiche Ressourcen für den Umgang mit den eigenen Problemen aufweisen. Aus dieser Tatsache ergeben sich methodische Konsequenzen für die in diesem Bereich tätigen Professionellen: Hilfe sollte hier – einmal mehr- als Hilfe zur Selbsthilfe konzeptioniert werden, die auf die vorhandenen Fähigkeiten und Wissensbestände der Betroffenen aufgreift. Die Forschungsergebnisse verweisen auch auf eine erhebliches sozialpolitisches Problem der Sozialen Arbeit: das System der sozialpsychiatrischen Hilfen führt offensichtlich zu einer Gettoisierung der betroffenen Patienten, deren Möglichkeiten zur Integration und Teilhabe beschnitten werden, auch durch die spezifische Hilfestruktur der Sozialen Arbeit selbst; ein Forschungsergebnis das dringend der weitergehenden forschungsbasierten Überprüfung bedarf!
Literatur
- Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt
- Sommerfeld, P.; Hollenstein, L. & Calzaferri, R. (2011). Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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