Paco Roca: Kopf in den Wolken (Alzheimer, Graphic Novel)
Rezensiert von Dipl.-Soz.Arb./Soz.Päd. (FH) Oliver König, 16.07.2014

Paco Roca: Kopf in den Wolken (Alzheimer, Graphic Novel). Reprodukt (Berlin) 2013. 104 Seiten. ISBN 978-3-943143-71-3. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 24,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Als der alternde ehemalige Bankdirektor Emilio sich immer weniger in der Realität zurechtfindet, sich immer öfter wieder in seiner Bankfiliale und der Vergangenheit wähnt, sehen seine Kinder keine andere Möglichkeit, wie ihn in einem Altersheim unterzubringen. Emilio ist an Alzheimer erkrankt.
Das Buch schildert den Alltag der BewohnerInnen und MitarbeiterInnen im Heim mit all ihren Gewohnheiten, Ängsten, Verschrobenheiten und auch den teilweise absurden Mechanismen, die die Routine in einer stationären Einrichtung mit sich bringt. Der Autor und Zeichner Paco Roca hat dafür die Form der Graphic Novel gewählt, einer Art „Comic für Erwachsene“, in der durchaus auch komplexe Themen und Abläufe, etwa aus Historie und Politik, mit Bildern und wenigen Textelementen anschaulich dargestellt werden.
Roca hat sich zu seiner Geschichte durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden und dem der Eltern inspirieren lassen. Die handelnden Personen im Buch sind zum Teil realen Szenen nachempfunden, gesammelt bei Hospitationen in Altersheimen und bei Gesprächen im Freundeskreis.
Autor
Paco Roca, Jahrgang 1969, ist ein spanischer Comicautor. Für „Kopf in den Wolken“, 2007 in Spanien veröffentlicht, erhielt er den National Comic Award, für die filmische Adaption, zu der er das Drehbuch schrieb, zwei Goya Awards.
Aufbau und Inhalt
Roca erzählt eine fortlaufende, nicht durch Kapitel eingeteilte Geschichte. Sie beginnt damit, dass Emilio mal wieder seinen eigenen Sohn, der ihm doch nur das Abendessen bringen will, nicht erkennt. Er hält ihn für einen Bankkunden, dem er den Kredit verweigern muss. Als die Situation eskaliert, steht für den Sohn fest: Das kann so nicht mehr weitergehen. Emilio muss ins Heim.
Man sieht ihn dort zunächst einmal überaus distanziert auf die Situation reagieren: Schließlich sind die, auf die er dort trifft, etwas seltsam, besonders für einen würdevollen ehemaligen Bankdirektor. Da ist Juan, der nur noch stereotyp aufgeschnappte Wörter wiederholt, Doña Sol, die auf der Suche nach einem Telefon rastlos durch die Gänge läuft und die vornehme Doña Rosario, die aus dem Fenster starrt und dabei denkt, sie sitzt im Orientexpress Richtung Istanbul.
Und da ist vor allem der großspurige „Hans-Dampf-in-allen Gassen“ Miguel, der mit kleinkrimineller Energie die anderen Bewohner über´s Ohr haut, sich an ihnen bereichert, sie vorführt und sich dabei meist herablassend über sie lustig macht. Er ist der Zimmergenosse von Emilio und führt ihn in die Gepflogenheiten des Heimes ein. Man sieht sie beim Essen im Speisesaal, wo Dolores liebevoll ihrem dementen Mann Modesto Essen gibt und im Fernsehraum, in dem zahlreiche BewohnerInnen vor „spannenden“ Tierfilmen vor sich hindösen. Bei der Seniorengymnastik mit dem überangepassten Pellicer, der heute noch von seiner Medaille bei einer Meisterschaft 1953 schwärmt und damit allen gehörig auf die Nerven geht. Beim „Riesenspaß Bingo“. Man lernt den tauben Agustín kennen, der seine Finger nicht vom Ausschnitt der Mitarbeiterinnen lassen kann und: „Die Treppe“, die hinauf in die zweite Etage führt, dorthin, wo die Pflegefälle wohnen, die, „die nicht mehr klar im Kopf sind“, wie Miguel es ausdrückt.
Doch auch Emilio hat immer öfter geistige Aussetzer, er versteht Zusammenhänge nicht und die räumliche Orientierung fällt ihm schwer. Schließlich bestätigt sein Arzt den Verdacht: Alzheimer! Schockiert will er wissen, wie seine Zukunft aussieht und schleicht mit Miguel in den zweiten Stock. Danach ist klar: so will er nicht enden! Niemand darf merken, dass er sich immer weniger zurechtfindet. Eine Aufgabe, die wie geschaffen ist für Miguel: Mit viel Energie schafft er es, Emilios Aussetzer im Alltag zu überspielen und die Tests des Arztes zu manipulieren. Doch dann der Schock: Modesto wurde „nach oben“ verlegt und Dolores ist mit ihm gegangen. „Das ist doch Scheiße… Wir müssen etwas unternehmen. Die letzten Jahre auskosten. Sollen wir hier etwa nur schlafen, Bingo spielen und auf den Tod warten?“ fragt Miguel und startet mit Emilio und Antonia zu einem letzten großen Abenteuer…
Diskussion
Paco Roca zeichnet treffend und plakativ den (Klischee-) Heimalltag nach: die Monotonie, das endlose Warten – auf das Essen, den Abend, auf ein kleines bisschen Abwechslung (und sei es nur Bingo), den Tod – die sich auflösende Individualität, die Entmündigung, die Resignation. Ihm gelingt es, all diese Schwere in seinen Bildern spürbar zu machen. Unbestritten gab und gibt es diese Atmosphäre in Heimen (wenn auch hoffentlich immer weniger), die Massenabfertigung, die bleierne Langeweile. Leider läuft Roca dabei aber immer wieder Gefahr, allzu stereotyp, allzu holzschnittartig zu werden. Andererseits kann diese Darstellungsweise aber vielleicht auch einen AHA-Effekt bewirken, ein genaueres Hinschauen auf die Situation in unseren Heimen. Und vielleicht Auslöser sein, Veränderungen anzugehen, wo eingefahrene Routinen, Personalmangel, Bequemlichkeit oder Traditionen Menschen noch so leben lassen wie in Rocas Buch.
Roca macht uns in seinem Buch mit Charakteren bekannt, die durchaus realistisch dargestellt sind und denen man in der einen oder anderen Weise durchaus schon begegnet zu sein meint. Dabei lässt er ihnen auch in ihrer Verschrobenheit eine Würde, mögliche Skurrilität ist ein Teil der Person, sie wird (außer von Miguel) nicht bewertet. Oft in ganz kleinen Sequenzen, ganz kleinen Details gibt er dem/der LeserIn Einblicke in die Biografie und die Gefühle der Protagonisten. Auch das Personal wird weitestgehend positiv und sympathisch dargestellt, den BewohnerInnen zugewandt, bemüht und zugleich gefangen in ihre unreflektierten Gewohnheiten und Abläufe.
Etwas schade ist Rocas Umgang mit dem Thema Alter/alt werden/alt sein. Natürlich ist es für niemanden sonderlich erbaulich, wenn die Kräfte schwinden und man auf Hilfe angewiesen ist. Aber das ist ein zwangsläufiger Prozess im Leben eines jeden Menschen, der vom Autor leider durchgängig eher angstbesetzt und negativ abgebildet wird. Auch die Erkrankung Alzheimer scheint gleichbedeutend mit rasantem totalem Verfall zu sein. Um nicht stigmatisiert und entsprechend behandelt zu werden, muss man die Diagnose – so die Botschaft – möglichst lange verbergen, anstatt offensiv damit umzugehen.
Paco Rocas Zeichenstil ist ansprechend und recht ausgefeilt. Er versteht es, auch mit kleinen feinen zeichnerischen Details, etwa minimalen Veränderungen in der Mund- und Augenpartie Emotionen zu erzeugen, Stimmungsänderungen und Gefühle darzustellen.
Fazit
Graphic Novel, Bildergeschichte, Altersheim und Alzheimer – eine Kombination, die auf den ersten Blick eher ungewöhnlich scheint. Paco Roca ist es gelungen, daraus ein – mit kleinen Einschränkungen (s.o.) – lesenswertes Buch zu machen. Emotional sicher nicht so intensiv wie „Das große Durcheinander“ (www.socialnet.de/rezensionen/15490.php), eine andere aktuelle Graphic Novel zum Thema Alzheimer, ist es zeichnerisch sehr gut und regt durchaus auch zum Nachdenken über die beschriebene Situation im Heim an.
Rezension von
Dipl.-Soz.Arb./Soz.Päd. (FH) Oliver König
Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e.V.| Selbsthilfe Demenz
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