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Allen Frances: Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 21.09.2015

Cover Allen Frances: Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen ISBN 978-3-8321-9700-1

Allen Frances: Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. DuMont (Köln) 2013. 430 Seiten. ISBN 978-3-8321-9700-1. 22,00 EUR.

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Thema

In dem Buch geht es um die Frage, warum normales Verhalten für krank erklärt wird. Der Autor beschäftigt sich insbesondere mit der Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer Diagnosen. Er diskutiert über die Grenzen der Psychiatrie und liefert ein kenntnisreiches Plädoyer für das Recht, normal zu sein. Fachkundig und verständlich wird geschildert, was die Ausweitungen und Änderungen des amerikanischen Klassifikationssystems DSM-III, DSM-IV und DSM-5 bedeuten, wie es zu der überhandnehmenden Pathologisierung allgemein menschlicher Verhaltensweisen kommen konnte und welche Gegenmaßnahmen es gibt.

Autor

Dr. Allen Frances ist emeritierter Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung und lehrte an der amerikanischen Duke University. Er ist einer der renommiertesten Psychiater weltweit. Als Koautor war er an der Entwicklung der psychiatrischen Standardwerke DSM-III und DSM-IV maßgeblich beteiligt.

Aufbau …

Das Buch ist in zehn Kapitel untergliedert:

  1. Was ist normal und was nicht?
  2. Von Schamanen zum Seelenklempner
  3. Diagnostische Inflation
  4. Modekrankheiten der Vergangenheit
  5. Modekrankheiten der Gegenwart
  6. Modekrankheiten der Zukunft
  7. Eindämmung der diagnostischen Inflation
  8. Der kluge Konsument
  9. Das Schlimmste und das Beste der Psychiatrie
  10. Das Schlechte mit Gutem aufwiegen

Das Buch wird ergänzt um ein Nachwort von Geert Keil.

… und ausgewählte Inhalte

Zu Kapitel 1

„Normal“ ist ein unscharfer und daher fragiler Begriff. Für Philosophen, Ärzte, Psychologen, und Soziologen sind Normalität und psychische Störung frustrierend schwer fassbare Begriffe und entziehen sich einer klaren, eindeutigen Definition. Eine ständig expandierende Psychiatrie hat sich mühelos über die ohnehin schwachen Grenzen ihres Fachgebiets hinweggesetzt und damit den Bereich des „Normalen“ sehr schnell schrumpfen lassen.

Zu Kapitel 2

Bevor die arabische Welt vor fünfhundert Jahren ein ein dunkles Zeitalter eintrat, war sie die unumstrittene Hochburg des Wissens und des Fortschritts. Die Araber waren weltweit die Ersten, die sich auf die quantitative experimentelle Wissenschaft verlegten, wobei ihnen ihr komfortables Zahlensystem (inzwischen auch unseres) entgegenkam. Nebenbei erfanden die Araber auch die Psychiatrie als Disziplin und den Psychiater als eigenen Berufsstand, und sie brachten die Psychiatrie sowohl in der Diagnose als auch in der Therapie und Theorie auf ein Niveau, das Europa erst weit im 19. Jahrhundert erreichte. Warum die Araber? Weil der Koran eine aufgeklärte Sicht von psychischer Krankheit vertritt, die nichts von der entwertenden Dämonologie der jüdisch-christlichen und der griechisch-römischen Tradition weiß – keine bösen Geister und keine eifersüchtigen Götter. Geisteskrankheiten waren ein praktisches Problem, dem man mit wohlwollenden und humanen Methoden, ohne übernatürliche Scheuklappen, beikommen musste. Der Koran fordert die Gläubigen auf, die psychisch Kranken respektvoll zu behandeln: „Und gebt den Schwachsinnigen nicht euer Gut, das Allah euch zum Unterhalt anvertraut hat; sondern nährt sie damit und kleidet sie und sprecht Worte der Güte zu ihnen“ (Koran: Sure 4,6).

Dieses Gebot führt zu einer völlig säkularen, aufgeklärten klinischen Herangehensweise: Geisteskranke kamen in die Obhut von Krankenhäusern, deren Aufgabe auch darin bestand, ihre Probleme zu dokumentieren und zu verstehen. Das erste eigens für psychisch Kranke eingerichtete Spital öffnete 705 in Bagdad seine Tore; Kairo folgte im Jahr 800, und bald schlossen sich viele andere Großstädte dem Beispiel an. Muslimische Krankenhäuser beschäftigten häufig jüdische und christliche Ärzte und betrieben darüber hinaus Ambulanzen und Apotheken. Der Fortschritt der arabischen Psychiatrie war erstaunlich und nahm exakt die gleichen Schritte vorweg, die Tausend Jahre später in Europa erfolgten, als endlich auch dort eigene Anstalten für Geisteskranke errichtet wurden. Während im Westen die Patienten gegeißelt, gefoltert und verbrannt wurden, kamen Patienten im Osten in den Genuss kluger Beratung, kognitiver Psychotherapie und Traumdeutung, sie wurden mit Arzneien, Bädern, Musik und Arbeitstherapie behandelt. In der arabischen Medizin waren geistige und körperliche Gesundheit eng miteinander verflochten; die eine konnte die andere bedingen.

Die westlichen Psychiater des 19. und und frühen 20. Jahrhunderts waren wenige an der Zahl, arbeiteten ausschließlich in Nervenheilanstalten und trugen die unselige Berufsbezeichnung „Irrenärzte“. Mit Freud änderte sich das alles. Das Fachgebiet der Psychiatrie verschob sein Hauptaugenmerk von den sehr kranken Klinikinsassen auf die weniger kranken ambulanten Patienten, und die Psychiater verließen in Scharen die Irrenanstalten, um eigene Praxen zu eröffnen. 1917 praktizierten in den USA nur 10 Prozent der Psychiater außerhalb eines Krankenhauses, mittlerweile sind es nahezu alle. In den USA schwoll die Zahl der Psychoanalytiker zusätzlich an; einerseits durch prominente jüdische Flüchtlinge aus NS-Deutschland und andererseits durch die Kliniker, die aus den florierenden neuen Berufen der Psychologen und der Sozialarbeiter herkamen.

Gleichzeitig erweiterten die beiden Weltkriege die Grenzen der Psychiatrie und führten sie in die Gesellschaft ein. Psychiatrische Krankheiten galten in den USA als Gefahr für die nationale Kriegsanstrengung, denn sie waren häufig ein Grund für Dienstuntauglichkeit, eine verbreitete Form von Kriegstraumatisierung und Ursache nachhaltiger Behinderung bei den Heimkehrern. Die bestehenden Klassifizierungen für psychische Krankheiten erfüllten nicht mehr die Anforderungen, um die Leiden von Kriegsveteranen zu diagnostizieren. Deshalb wurden zahlreiche Psychiater aufgerufen, das System zu verfeinern und nach Wegen zu suchen, um die US-Soldaten einsatzbereit zu erhalten. Die US-Armee entwickelte eine neue, erweiterte Klassifikation, die dann ein erstes Mal von Veteranenverbänden und ein weiteres Mal von der American Psychiatric Association (APA) überarbeitet und schließlich 1952 als „Diagnostic and Statistical Manual I“ veröffentlicht wurde.

Nach dem 2.Weltkrieg blühte die amerikanische Psychiatrie auf – nachdem sie in Kriegszeiten ihre Tauglichkeit unter Beweis gestellt hatte, erwarb sie sich eine neue, prominente Stellung im zivilen Leben. Erstmals wurden an allen medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Psychiatrie geschaffen und neue Psychiatrieabteilungen an den meisten allgemeinen Krankenhäusern eingerichtet. Das maßgebliche Modell war das psychoanalytische, der Schwerpunkt lag auf der Behandlung, und die Haltung innerhalb des Berufsstandes war unerschütterliches Selbstvertrauen. Die psychiatrische Diagnostik erlebte unterdessen keine Renaissance, sondern führte ein stilles Schattendasein, sn dem die ganze Aufregung spurlos vorüber ging. DSM-I (veröffentlicht 1952) und DSM-II (veröffentlicht 1968) blieben ungelesen, ungeliebt und ungenutzt. Anfang der Siebzigerjahre trat eine Wende ein, und die Diagnostik wurde als die Achillesferse entlarvt, die womöglich die gesamte Psychiatrie zu Fall bringen konnte. Das Budget des National Institute of Mental Health (NIMH), des US-Forschungszentrums für psychische Störungen, wuchs rasant, und an den meisten medizinischen Fakultäten wurde die Psychiatrie zur zweitgrößten Empfängerin von Forschungsgeldern und stand somit hinter der Inneren Medizin und weit vor allen sonstigen wissenschaftlichen und klinischen Abteilungen. Auch die Pharmaunternehmen begannen im Wettrennen um profitable neue Psychopharmaka enorme Summe in die Forschung zu investieren.

1975 setzte die APA eine Kommission zur Erstellung der dritten Ausgabe des DSM ein. Das DSM-III sollte mit der diagnostischen Anarchie in der Psychiatrie aufräumen. Das Hauptaugenmerk sollte dabei auf die sorgfältige Diagnostizierung als unverzichtbare Voraussetzung für präzisere Therapieentscheidungen gelegt werden, und es sollte die lang ersehnte Brücke zwischen klinischer Forschung und klinischer Psychiatrie geschlagen hergestellt werden.

Letztlich aber war die schlimmste Folge des DSM-III die noch weiter ausufernde diagnostische Inflation. Die Schuld daran trägt zum Teil die Art und Weise wie das DSM-III entstand, zum größeren Teil aber der Missbrauch, der unter dem massiven Einfluss der Pharmaunternehmen mit ihm getrieben wurde. Auch die folgende Fassung des DSM-IV aus dem Jahr 1997 hat die Normalität nicht retten können. Drei Jahre nach der Veröffentlichung trugen die Lobbyisten der Pharmaindustrie einen gewaltigen Sieg davon – sie setzten sich gegen eine vernünftige Regulierung durch: Die USA sind einzige Land der Welt, in dem direkt an den Verbraucher gerichtete Arzneimittelwerbung für verschreibungspflichtige Medikamente erlaubt ist.

Zu Kapitel 4

In diesem Kapitel beschäftigt sich der Autor mit den folgenden psychischen „Modekrankheiten“ der Vergangenheit:

  1. Besessenheit: früher, heute, immer
  2. Tanzwut, Tarantismus und Veitstanz: 1300 bis 1700
  3. Vampirhysterie: 1720 bis 1770
  4. Selbstmordwelle infolge des „Werther-Fiebers“: erstmal 1774, Rezidive bis in die Gegenwart
  5. Neurasthenie: Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts
  6. Hysterie/Konversionsstörung: Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts
  7. Hexenjagden: Sexueller Missbrauch in Kitas: ca. 1980 bis 2000 in den USA

Zu Kapitel 5

Psychische Modekrankheiten der Gegenwart:

  1. ADHS
  2. Bipolare Störung im der Kindheit
  3. Autismus
  4. Bipolar-II-Störung
  5. Soziale Phobie macht aus Schüchternheit eine Krankheit
  6. Schwere Depression ist nicht immer so schwer
  7. Posttraumatische Belastungsstörung: die schwere Mitte
  8. Vergewaltigung ist keine psychische Störung, sondern ein Verbrechen

Zu Kapitel 6

Psychische Modekrankheiten der Zukunft:

  1. Aus Wutanfällen werden psychische Störungen
  2. Normale Altersvergesslichkeit wird zur Krankheit
  3. Völlerei wird zur Psychokrankheit: Binge-Eating-Störung
  4. ADHS bei Erwachsenen
  5. Trauer wird mit Melancholie verwechselt
  6. Aus Leidenschaften werden Abhängigkeiten
  7. Missdeutung physischer Krankheit als psychische Störung
  8. Angst und depressive Stimmung gemischt: Jeder wird zum Patienten
  9. Hypersexualität: „Ich bin krank, ich kann nicht anders“

Zu den Kapiteln 7 bis 9

In den letzten drei Kapiteln formuliert der Autor eine Reihe von sachkundigen Ratschlägen und Empfehlungen für Patienten, bei denen von ihrem Arzt eine psychische Störung diagnostiziert wurde.

Diskussion

Anstelle einer Diskussion: Einige wichtige Punkte aus dem Nachwort von Geert Keil:

  1. Die Kritik stammt von einem hochrenommierten Insider der Psychiatrie. Die New York Times hat Frances seinerzeit den „einflussreichsten Psychiater Amerikas“ genannt. Er weiß, wovon er spricht. Unter seinem Einfluss ist die 1994 veröffentlichte Vorgängerversion IV des DSM-Handbuchs entstanden, die nun durch den DSM-5 abgelöst wird.
  2. Menschen, die in verantwortungsvoller Position tätig waren, finden im Alter häufig, dass ihre Nachfolger alles schlechter machen. Diese psychologisierende Erklärung verfängt hier aber nicht. Des Autors j´accuse mischt sich mit einem mea culpa: Frances berichtet selbstkritisch von seiner eigenen Arbeit am DSM-IV und von seinen Fehldiagnosen als junger Psychiater.
  3. Er erklärt nicht alle Übel aus einer Wurzel. Auch wenn die Pharmaindustrie den größten Schaden anrichte, indem sie mit immensem Werbeaufwand Psychopharmaka in den Massenmarkt drücke, sei sie doch noch keine kriminelle Vereinigung. Sie verhalte sich so, wie profitorientierte Unternehmen es eben tun, um am Markt erfolgreich zu sein. Sie kann die diagnostische Inflation auch nicht aus eigener Kraft in Gang setzen, sondern ist auf einen entgegenkommenden Gesetzgeber und auf die Autoren der „Psychiatriebibel“ angewiesen, nach der Ärzte ihre Diagnosen verschlüsseln müssen.
  4. Seine Inflationswarnung macht Frances nicht blind für gegenläufige Entwicklungen. Viele psychische Störungen, beispielsweise die Depression und die posttraumatische Belastungsstörung, würden in großem Ausmaß über- und unterdiagnostiziert. Die schwere Depression nennt er „eine der schrecklichsten Heimsuchungen der Menschheit“, aber ein Drittel der Betroffenen in den USA erhalte keinerlei Behandlung. Durch die Fehlallokation von Ressourcen würden die Mittel für die wirklich Behandlungsbedürftigen verknappt.
  5. Bei aller Schärfe seiner Kritik redet Frances keiner Alternativmedizin das Wort. Insbesondere ist er für die Sirenengesänge der Antipsychiatrie taub.
  6. Wie sehr Frances das Schicksal seines Faches am Herzen liegt, zeigt sein souveräner Schnelldurchgang durch die Psychatriegeschichte im zweiten Kapitel. Frances vermerkt mit grimmigem Sarkasmus, dass das ideologische Erklärungsmuster der Besessenheit durch den Teufel überaus erklärungsbedürftig war – und den psychisch Kranken mehrere dunkle Jahrhunderte bescherte. Der Koran wusste es besser, denn er vertrat eine säkulare, aufgeklärte Sicht von psychischer Krankheit.
  7. So ist Frances´ Ziel am Ende ein konstruktives. Er möchte mit der Normalität im selben Zug die Psychiatrie retten: Die Psychiatrie solle sich auf die Grenzen ihrer Kompetenz beschränken, bei der Überarbeitung des Diagnosekatalogs maximal konservativ und evidenzbasiert vorgehen, sich des hippokratischen Grundsatzes „Primum non nocere“ erinnern und Distanz zur Pharmaindustrie wahren.

Zielgruppen

Zielgruppen sind Patienten mit tatsächlichen oder vermeintlichen psychischen Störungen, Akteure aus der Gesundheits-Selbsthilfebewegung, Psychiater und Allgemeinmediziner, Gesundheitswissenschaftler und Gesundheitspolitiker.

Fazit

Der renommierte amerikanische Psychiater Allen Frances setzt sich in dem Buch mit der Frage auseinander, warum normales Verhalten von Medizinern für krank erklärt wird. Er beschreibt sachkundig und kenntnisreich die Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer Diagnosen und liefert ein engagiertes Plädoyer für das Recht, normal zu sein.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe

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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 21.09.2015 zu: Allen Frances: Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. DuMont (Köln) 2013. ISBN 978-3-8321-9700-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16283.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.


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