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Helmut Hartmann: Hartz IV. Jobwunder oder Armut per Gesetz?

Rezensiert von Arnold Schmieder, 29.01.2014

Cover Helmut Hartmann: Hartz IV. Jobwunder oder Armut per Gesetz? ISBN 978-3-7841-2472-8

Helmut Hartmann: Hartz IV. Jobwunder oder Armut per Gesetz? Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2013. 64 Seiten. ISBN 978-3-7841-2472-8. D: 7,50 EUR, A: 7,80 EUR, CH: 11,50 sFr.
Reihe: Soziale Arbeit kontrovers - 8.

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Thema

Die Schrift ist in der Reihe „Soziale Arbeit kontrovers“ erschienen, die das Ziel hat, die Komplexität der jeweils behandelten Themen zu entfalten, was möglichst übersichtlich, knapp und dabei ohne Substanzverlust präsentiert werden soll. Daran ist die Arbeit von Hartmann formal wie inhaltlich orientiert. Wie im Titel provokativ formuliert, stellt er das Hartz IV-Thema allgemeinverständlich vor und kontrastiert Positionen von Befürwortern und Kritikern, was mit empirischem Material unterfüttert ist, um zum Schluss seine eigene Einschätzung vorzustellen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch, vom Umfang her gesehen eher ein größerer Essay, ist in sieben Hauptkapitel gegliedert. Es beginnt mit der Entstehungsgeschichte von Hartz IV, wobei die wirtschaftliche Situation und zu jener Zeit anwachsende Arbeitslosigkeit sowie politische Interventions- und Innovationsideen und schließlich rechtliche Maßnahmen zur Revision der Sozialgesetzgebung im Vordergrund stehen.

Im folgenden Kapitel, das als einziges untergliedert ist und den meisten Raum einnimmt, wird das „System Hartz IV“ dargestellt, und zwar in der Bandbreite von Zusammenlegung von zwei Fürsorgeleistungen bis zu Widersprüchen und Klagen, deren Zahl bekanntlich beträchtlich war, wobei die ergangenen Bescheide aber nur zu einem geringen Prozentsatz aufgehoben bzw. geändert wurden. In der Folge werden Prozesse und Abläufe im SGB II unter der Perspektive von Dienstleistungen am Arbeitsmarkt dargestellt, um dann die Neujustierungen aus den Jahren 2007 bis 2010 zu erläutern, wie sie auf höchstrichterliche Beschlüsse folgten und vor allem auf praktische Schwierigkeiten z.B. der Koordination verschiedener ‚Leistungsanbieter’ reagierten.

Den Fragen, was Hartz IV kostet und wie Hartz IV wirkt, geht der Autor in zwei weiteren Kapiteln nach, um abschließend mit Blick auf Perspektiven recht bündig zu formulieren, welche Problematiken Hartz IV in naher Zukunft noch aufwerfen wird, die dringend zur Bearbeitung anstehen werden. Hartmann sieht unter dem Strich in Hartz IV eine nach wie vor „große sozialpolitische Herausforderung, für die vorgeblich ‚einfache Lösungen’ wenig tauglich erscheinen.“ (S. 58)

Worauf Hartz IV reagiert hat, was über das zum Schlagwort verdichtete ‚Fördern und Fordern’ hinaus intendiert war, was im öffentlichen Diskurs positiv hervorgehoben oder kritisch eingewandt wird, kommt bei Hartmann zusammen mit relevanten Informationen zur Sprache, deren Quellen im Literaturverzeichnis angegeben sind. Kurz und bündig verweist er darauf, dass die viel diskutierte Agenda 2010 stagnierendes Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit abzuwenden angetreten war. Wesentlicher Punkt der Agenda war die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe im Zuge einer Modernisierung der Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, was zum Zweiten Buch Sozialgesetzgebung (SGB II) führte, bekannt unter dem Kürzel Hartz IV. Dass hier auch die Kritik an der Bundesanstalt für Arbeit eine Rolle spielte, verschweigt der Verfasser nicht: ein „undurchschaubare(r) Apparat mit hohen Kosten und wenig guten Ergebnissen.“ (S. 8) Woran sich die Geister schieden und bis heute scheiden, ist die Bemerkung des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder: „‚Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern – der wird mit Sanktionen rechnen müssen’“. (S. 10) Zumutbarkeit und Sanktionen wurden und sind häufig Stein des Anstoßes, wobei der Autor anmerkt, dass im Hinblick auf alle getroffenen Entscheidungen die Sanktionsquote „recht klein“ ist. (S. 30) Zwar habe sich der Arbeitsmarkt seit 2007 positiv entwickelt, was hier wie anderenorts betont wird, doch die Zahl der Leistungsempfänger nach SGB II nur geringfügig gesunken. Es sind all diejenigen, die „ihren Lebensunterhalt und den ihrer Angehörigen nicht aus eigener Kraft, d.h. aus eigenen Einkommen sichern können“, in 2012 immer noch mehr als 6,1 Mio. Menschen, wobei es sich zu 72,3% um erwerbsfähige und zu 27,7% um nicht erwerbsfähige HilfeempfängerInnen handelt und bei letzteren im Wesentlichen um Kinder unter 15 Jahren. (S. 56 f) Allerdings ist auch festzuhalten, dass die Zusammenlegung der vor der Reform eigenständigen Systeme von Arbeitslosen- und Sozialhilfe „eine um 20% höhere Zahl von Leistungsempfänger/innen“ erbrachte, was die Ausgaben für Hartz IV sprunghaft ansteigen ließ (S. 24), wiewohl diese Kosten differenziert zu betrachten sind: Für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit wurde weniger ausgegeben als veranschlagt, wobei dem „Mehrausgaben des Bundes für die Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende“ gegenüber standen. (S. 52) Von Relevanz ist dabei auch (und hinlänglich bekannt), dass eine Integration in ein Beschäftigungsverhältnis „nicht zwangsläufig einen Abgang aus der Hilfebedürftigkeit zur Folge“ hat, „da möglicherweise nicht unmittelbar oder kein bedarfsdeckendes Einkommen erzielt werden kann.“ (S. 23) Auch daran ist der „grundlegende Konflikt“ zwischen Positionen aufzuhängen, die einerseits betonen, „dass es wertvoll ist, überhaupt irgendeiner Beschäftigung nachzugehen und nicht allein von Sozialleistungen zu leben“, wohingegen andererseits der große „Umfang prekärer Beschäftigungsverhältnisse“ beklagt wird, „deren Entlohnung für ein soziales Existenzminimum nicht ausreicht.“ (S. 13 f) Dabei stellen sich u.a. die Fragen, in welchem Umfang das zentrale Anliegen einer Arbeitsmarktintegration „durch ein Jobcenter überhaupt zu beeinflussen“ ist und ob ggf. bei einer Fokussierung auf Quotensenkung im Hinblick auf Langzeitarbeitslose die „Gesamtzahl der Integrationen weniger dringlich bearbeitet“ würde. (S. 29) Unbeschadet davon bleibt das Problem einer weiteren Verwaltungs- und Bearbeitungsvereinfachung nicht nur für den Zweck der Kundefreundlichkeit in dem Sinne, „möglichst nur einmal ‚die eigene Geschichte erzählen müssen’“, wovon die Realität der Jobcenter „noch ein ganzes Stück entfernt“ ist. (S. 35)

Diskussion

Perspektivisch sieht der Autor im Hinblick auf sich „zunehmend verfestigende Hilfebedürftigkeit mit Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II“ neue strategische Ausrichtungen auf die Jobcenter zukommen, ebenso ist Sozialpolitik gefordert nach Möglichkeiten zu suchen, „den Leistungsbezug nach SGB II zu reduzieren“. (S. 57 f) Nicht die „absolute (und hohe) Zahl der Leistungsbeziehenden“ müsste „Anlass zur Sorge“ geben, schätzt Hartmann abschließend die Situation ein, „sondern die langfristige Ausgrenzung großer Personenkreise aus dem regulären Arbeitsmarkt“, wobei nicht zu vernachlässigen sei, wie andere, nicht im engeren Sinne den Arbeitsmarkt betreffende Leistungen auf die „Abhängigkeit von ‚Hartz IV’-Leistungen wirken“. (S. 58) Besonderes Augenmerk muss nach wie vor Alleinerziehenden, Menschen mit Migrationshintergrund und älteren Erwerbsfähigen gelten, also ‚Risikogruppen’, wie ebenso regionalen Unterschieden der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes.

Damit sind zwei Punkte angesprochen, die bei Hartmann thematisiert werden, jedoch keinen prominenten Stellenwert haben und eher kursorisch zur Sprache kommen. Darin kristallisiert sich jedoch, was aber auf vermutlich nicht allzu lange Sicht überlegt werden muss und bereits diskutiert wird: Wenn viele Experten der Auffassung sind, „dass die Chancen für eine Integration in den überwiegend vom externen Faktor ‚Arbeitsmarktsituation’ abhängig“ ist und daher „vom Jobcenter kaum zu beeinflussen“ (S. 29), dann ist die Auseinandersetzung mit Sinn und Folgen von Hartz IV enger mit Analysen zur ökonomischen und soziökonomischen Entwicklung zu verknüpfen. Das Bild jener ‚positiven’ Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung, das bei Hartmann wie anderen Autoren im Hinblick auf Hartz IV immer bemüht wird, dürfte prognostisch kaum übersehbare Risse bekommen, wobei sich der eine oder andere Ökonomie-Kritiker an das Kapitel „Entgegenwirkende Ursachen“ bei Marx (MEW 25, S. 242 ff) erinnern dürfte, das an die Analyse zum tendenziellen Fall der Profitrate anschließt. Herunterdrücken des Arbeitslohnes unter seinen Wert gilt da als eine der „bedeutendsten Ursachen“ (ebd., S. 245), auswärtiger Handel und Zunahme des Aktienkapitals kommen zur Sprache. Doch solche Ursachen wie auch deren schon spürbaren und nicht unproblematischen Folgen sind bereits Inhalt öffentlicher Diskurse. Zum anderen wären soziologische Analysen einzubeziehen, die nicht erst am Horizont, sondern schon sehr nahe eine noch randständische, aber anwachsende Zahl von Exkludierten ausmachen, die nicht nur von einem noch harten Kern nicht zu vermittelnder Langzeitarbeitsloser merklich erhöht wird. Die bei Hartmann beispielhaft aufgezählten ‚Risikogruppen’ werden hinzu kommen. Dagegen scheint es eher möglich, Struktur- und Effizienzprobleme der Verwaltung der Jobcenter in den Griff zu bekommen. Nicht nur die unterschiedlichen ‚Verwaltungskulturen’ von Arbeitsagenturen und Sozialämtern warfen Probleme auf; es existiert in kleinerem Rahmen fort, was als „‚Vermittlungsskandal’ bei der Bundesanstalt für Arbeit“ (S. 8) kritisiert wurde und in Anlehnung an den Soziologen C. N. Parkinson ironisierend zum Bürokratiewachstum vorgebracht werden kann, dass Organisationen mit überhöhter Mitgliederzahl in der Hauptsache für ihren Selbsterhalt sorgen – cum grano salis. Doch hier wurde und wird erfolgversprechend interveniert.

Insoweit ist die mit dem Buchtitel gestellte Frage „Hartz IV: Jobwunder oder Armut per Gesetz?“ nur mit ‚weder noch’ zu beantworten, weil weder Erholungen (oder Atempausen) auf dem Arbeitsmarkt noch eine weiter auseinander klaffende Schere von Armen und Reichen und zunehmende Deprivation bis in die Mittelschicht und insgesamt breiter werdender Rand der Gesellschaft von Hartz IV ‚mitgestaltet’, aber nicht verantwortet sind.

Fazit

Das sehr übersichtlich gegliederte und nach Maßgabe der Herausgeber knapp und lesefreundlich gehaltene Buch dient jedem, der sich über Hartz IV in einer Weise informieren möchte, die eine das Für und Wider abwägende Meinungsbildung erlaubt und zum kritischen Weiterdenken anregt.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Es gibt 134 Rezensionen von Arnold Schmieder.

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ISSN 2190-9245