Georg Cremer: Was hilft gegen Armut?
Rezensiert von Laura Sturzeis, 14.02.2014

Georg Cremer: Was hilft gegen Armut?
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2013.
64 Seiten.
ISBN 978-3-7841-2465-0.
D: 7,50 EUR,
A: 7,80 EUR,
CH: 11,50 sFr.
Reihe: Soziale Arbeit kontrovers - 7.
Thema
Dem Essay liegt die Annahme zugrunde, dass die wirkungsvollste Prävention gegen Armut die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt ist. Dass diese Integration oft nicht gelingt, ist mit Blick auf die Arbeitslosenstatistiken augenscheinlich. Georg Cremer zeigt in „Was hilft gegen Armut?“ die Gründe für das Scheitern der Integration auf und analysiert, wie sich der Sozialstaat bei der Erreichung des zentralen Zieles Armut zu verhindern oftmals selbst ein Bein stellt. Was es gemäß Cremer braucht, ist ein differenzierter Blick auf die Gründe für Armut einerseits, aber auch auf die Widersprüchlichkeiten in Konzeption und Umsetzung sozialstaatlicher Maßnahmen.
Autor
Der Autor Georg Cremer ist Generalsekretär und Vorstand für Sozial- und Fachpolitik des Deutschen Caritasverbandes. Zudem lehrt er als außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg i. Breisgau.Entstehungshintergrund
Die Motivation für das Verfassen dieser Schrift speiste sich aus der Unzufriedenheit mit den oftmals simplifizierenden Sozialstaats-Diskussionen im Allgemeinen und der Fruchtlosigkeit der Debatten kurz nach der Veröffentlichung des vierten Armuts- und Reichtumsberichts der deutschen Bundesregierung.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in folgende Kapitel:
- Einleitung: Teilhabe als Verfassungsauftrag
- Armutsindikatoren und ihre Grenzen
- Massive Defizite in der Basisqualifizierung
- Wirkungsverluste in und zwischen den Hilfesystemen
- Inklusionshemmende Widersprüche in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
- Wie weit hilft ein Mindestlohn?
- Die soziale Dimension der Teilhabe
I. Gesellschaftliche Teilhabe als Ausgangspunkt
Im einleitenden Kapitel legt der Autor sein Verständnis der Aufgaben und damit verbundenen Zielsetzungen des (deutschen) Sozialstaats dar. Ausgangspunkt ist die verfassungsmäßige Verpflichtung des Gesetzgebers „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu[zusichern] (…), die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (BVerfG 2010, Leitsatz 1 zit. in Cremer, S. 9). Hierbei zentral ist, so Cremer, dass das Recht auf Teilhabe nicht nur eine materielle Dimension beinhaltet, sondern auch soziale und kulturelle Teilhabe meint. In unserer gegenwärtigen Marktökonomie ist die Voraussetzung für die gesellschaftliche Inklusion des/der Einzelnen stark an die Integration in den Arbeitsmarkt gekoppelt. Um Armut zu vermeiden, kommt deshalb jenen Maßnahmen die größte Bedeutung zu, die den/die Einzelne/n zur Inklusion in den Arbeitsmarkt befähigen (sollten). Doch genau hier steht sich der Sozialstaat oftmals selbst im Weg – insbesondere, wenn es um die Beseitigung der beiden größten Risikofaktoren für Armut geht: Langzeitarbeitslosigkeit und Bildungsarmut.
II. Armutsrisiko durch Bildungsarmut
„Unter dem Gesichtspunkt von Teilhabe und Armutsprävention ist die Vermeidung des Scheiterns im allgemeinbildenden Schulsystem von hoher Relevanz; der Schulabschluss hat weitreichende Steuerungsfunktion für eine erfolgreiche Integration und künftige Erwerbsverläufe.“ (S. 19) Die Erlangung einer Basisqualifizierung (in Form eines Hauptschulabschlusses) ist Voraussetzung für die anschließende Absolvierung einer (Berufs-)Ausbildung – und diese wiederum ist ihrerseits zentral für die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Fehler im System der Basisqualifizierung wiegen von daher besonders schwer. Bei der Analyse der Gründe für das Scheitern von jungen Menschen, legt Cremer dar, dass „[d]ie Bildungschancen vom Wohnort ab[hängen]“ (S. 20) aber auch, dass „Kooperation vor Ort einen Unterschied [macht]“ (S. 23). Präventionsmaßnahmen greifen dann am besten, wenn unterschiedliche Akteure miteinbezogen werden. „Sehr vorläufige Ergebnisse aus Workshops mit Fachleuten der Caritas aus Städten und Kreisen, die weit niedrigere Quoten von SchulabgängerInnen ohne Hauptschulabschluss aufwiesen als nach ihrer sozioökonomischen Ausgangslage und ihrer Bundeslandzugehörigkeit zu erwarten wäre, lassen vermuten, dass politischer Wille, die Kooperation aller Akteure im Bildungssystem, den anschließenden Unterstützungssystemen bis hin zu ortsansässigen Unternehmen, frühe Intervention bei Kindern mit Anzeichen von Schulmüdigkeit und Fehlzeiten und Sozialarbeit in Brennpunktschulen eine erhebliche Rolle [Anm. d. Verf.: für einen erfolgreichen (Haupt-)Schulabschluss] spielen.“ (S. 24) Der Fokussierung auf schulische Basisqualifizierung kommt bei der präventiven Bekämpfung von Armut eine zentrale Bedeutung zu. Aus sozialstaatlicher Sicht liegt diesbezüglich der wohl dringlichste Auftrag in der Reduzierung der Schnittstellenprobleme – insbesondere zwischen dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) und dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) (S. 26) - um „junge Menschen trotz Versäumnissen in der familiären Sozialisation in ihrer persönlichen Reifung zu unterstützen. Hier steht sich der Sozialstaat oft selbst im Weg.“ (S. 55)
III. Armutsrisiko durch Langzeitarbeitslosigkeit
Langzeitarbeitslosigkeit wird aus ökonomischer Perspektive oftmals dadurch erklärt, dass die Arbeitsanreize aufgrund bestehender Transferleistungen zu gering seien. Ausgeblendet wird bei diesem als „Armutsfalle“ bekannten Erklärungsmodell, dass es die psychischen und sozialen Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit für die Betroffenen völlig ausblendet. Bestehende Vermittlungshemmnisse von Langzeitarbeitslosen sind ein Beispiel dafür, dass ein monokausales Erklärungsmodell zu kurz greift. Denn die Integration in den Arbeitsmarkt fällt aufgrund mannigfaltiger Gründe schwer (psychische Probleme, soziales Stigma Arbeitslosigkeit, gesundheitliche Einschränkungen, etc.). Die rechtliche Berücksichtigung vielfältiger Ursachen für Langzeitarbeitslosigkeit alleine ist jedoch zu wenig. Am Beispiel der Berücksichtigung multipler Problemlagen zeigt Cremer paradigmatisch die Entkopplung zwischen der bereits erfolgten de jure Berücksichtigung (§ 16 a SGB II) und der Praxis des sozialstaatlichen Maßnahmenvollzugs auf. In den tatsächlich stattfindenden Beratungsgesprächen werden die sozialen Problemlagen der Menschen nämlich kaum angesprochen. Eine „„Aktivierung“ vorbei an sozialen Problemen“ (S. 35), so Cremer, wird aber nur schwerlich gelingen.
Ein weiteres Problem bei der Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit liegt in der Fehlsteuerung ursprünglich sinnvoller Maßnahmen. Der Autor kritisiert, dass die massenhafte Anwendung der 1-Euro-Jobs als „Regelinstrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik“ (S. 37) durch ihren undifferenzierten Einsatz das Gegenteil vom ursprünglich definierten Ziel – der Integration in den Arbeitsmarkt – bewirkt. 1-Euro-Jobs sind konzipiert als arbeitsmarktferne Tätigkeiten. Daher stellen sie nur für eine sehr spezifische Gruppe und vor allem aufgrund ihrer alltagsstrukturierenden Funktion eine sinnvolle Maßnahme dar. Für all jene hingegen, die durchaus aussichtsreiche Chancen auf eine Integration in den Arbeitsmarkt hätten, führt die wiederholte Beschäftigung im Rahmen von 1-Euro-Jobs aufgrund ihrer Realitätsferne zur zunehmenden Exklusion aus dem regulären Arbeitsmarkt. Auch in diesem Bereich ist eine stärkere – an Zielgruppen orientierte – Differenzierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen dringend notwendig, meint Cremer.
Diskussion
Theoretisch stringent und überzeugend breitet der Autor auf den ersten Seiten sein Verständnis der zentralen Aufgaben einer modernen Sozialpolitik aus. Insbesondere die Rückbindung geltender Sozialgesetze an sozialwissenschaftliche Theorie, wie den Befähigungsansatz Amartya Sens, machen die manches Mal sehr detailreichen Analysen der Widersprüche in den bestehenden sozialstaatlichen Regelungen und Maßnahmen auch für LeserInnen nachvollziehbar, die weniger mit den Tiefen des deutschen Sozialstaats vertraut sind. Hier liegt auch die Stärke dieses Essays. Denn durch den hohen Stellenwert, der der Befähigung des Einzelnen zur Teilhabe an Gesellschaft beigemessen wird, wird der Erfolg sozialstaatlichen Handelns in konkreten Situationen messbar – und in weiterer Folge einer differenzierten Kritik zugänglich gemacht. Der Autor arbeitet klar heraus, dass viele Hemmnisse aus den unterschiedlichen Logiken einer zentral gesteuerten Sozialstaatsbürokratie auf der einen Seite und den armutsbetroffenen Individuen auf der anderen Seite erwachsen. Für den Autor braucht es statt ideologisch aufgeladener und letztlich an der Oberfläche verharrender Diskussionen einen stärker auf das Ziel der Befähigung hin fokussierten und nach Risikogruppen differenziert geführten Diskurs über sozialstaatliche Maßnahmen. Cremer selbst löst diese Forderung nach Differenziertheit in der Fehleranalyse des Sozialstaatssystems in seinem Essay ein. Dabei behält er immer beide Ebenen – jene der rahmengebenden Gesetze und jene der armutsbetroffenen Personen – im Blick und kritisiert konkrete Fehlsteuerungen (Bsp.: 1-Euro-Jobs), Schnittstellenprobleme (Bsp.: Grundsicherung für Arbeitssuchende vs. Kinder- und Jugendhilfe) und Konzepte (Bsp.: Mindestlohn). Cremer gehört glücklicherweise zu jener (sich im Übrigen immer mehr Gehör verschaffenden) Gruppe von ExpertInnen, die Armut als gesellschaftliches – und damit zu politischen Ressorts querliegendes – Problem begreifen (ein weiteres Bsp.: Moser/Schenk 2010, Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/15952.php).
Fazit
Mit seinem lediglich knapp 60 Seiten umfassenden Essay hat Georg Cremer ein kenntnisreiches Werk vorgelegt, das das Ziel der Schriftenreihe „Soziale Arbeit kontrovers“, nämlich „die Komplexität der Themen vor dem Hintergrund der Entstehungs- und Rahmenbedingungen und der jeweiligen Einflussfaktoren darzustellen“ (S. 3), im besten Sinne erfüllt. Die differenzierte Betrachtungsweise eint die heterogenen – aber freilich miteinander verbundenen – Problemfelder, die Cremer diskutiert und macht das Buch zu einer gewinnbringenden Lektüre. Möge sie ihren Weg auf den Tisch des einen oder der anderen Entscheidungsträger/s/in finden.
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
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