Colette de Bruin, Frank Ziesing: Die entscheidenden 5: Ein Leitfaden (Kinder mit Autismus)
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 01.04.2014

Colette de Bruin, Frank Ziesing: Die entscheidenden 5: Ein Leitfaden zur Erziehung und Betreuung von Kindern mit Autismus.
Graviant Educatieve Uitgaven
(Doetinchem) 2013.
198 Seiten.
ISBN 978-949-1337-22-2.
Frank Zeising (Übersetzer), Wim Harzing (Illustrationen). 29.95 Dollar (Listenpreis) .
Thema
Autistische Kinder haben ein erhöhtes Bedürfnis an Klarheit und Vorhersehbarkeit. Sie brauchen Antworten auf die 5 entscheidenden Fragen: „WAS ist meine Aufgabe, WIE führe ich sie aus, WO findet sie statt, WANN muss ich sie erledigen und WER ist daran beteiligt?“. Colette de Bruin hat mit diesem Buch eine Sammlung praxistauglichen und alltagserprobten Vorgehensweisen zur Erziehung und Betreuung von Kindern mit Autismus vorgelegt, die man leicht an individuelle Umstände anpassen kann.
AutorIn oder HerausgeberIn
Colette de Bruin arbeitet als Coach und Betreuerin für Familien, in denen es Kinder mit Autismus gibt. Sie ist selbst Mutter von fünf autistischen Pflegekindern. Ihr Vater ist selber Asperger-Autist.
Aufbau
- Autismus
- Wahrnehmung als Puzzlespiel
- Anders Denken
- Wie ein Computer
- Sinnesbereiche
- Entwicklung
- Die Auti-Brille
- Zusammenhang herstellen durch die fünf Ws
- Der Weg der Auti-Kommunikation
- Kommunikationsstörungen
- Sprachstörungen
- Verständnisschwierigkeiten
- Weitere Kommunikationsprobleme
- Auti-Kommunikation
- Dem Kind etwas beibringen
- Seine Entwicklung unterstützen
- Visuelle Unterstützung
- „Stopp“
- Eine Aufgabenliste nutzen
- Ben geht „normal“ zu Bett
- Eine Vereinbarung nutzen
- Einen Vertrag nutzen
- Mit Strategiekarten arbeiten (Schulunterricht)
Anlagen
Inhalt
In 23 Kapiteln auf 220 Seiten werden umfassendes Wissen und alltagstaugliche Strategien vorgelegt. Jeder Seite ist zweigeteilt: eine Spalte für die Erläuterungen und eine Spalte am Außenrand, in der Stichworte entsprechend der beschriebenen Inhalte abgedruckt sind. Dieses Layout erleichtert die Übersicht und gibt Orientierung. Zahlreiche Tabellen, Bilder und Strich-Zeichnungen verdeutlichen die Inhalte. Die Autorin hat Gedichte ihres Vaters eingestreut, die die Ausführungen durch persönliche Erfahrungen ergänzen und zum Nachdenken anregen. Zudem vertiefen zahlreiche Beispiele aus der Praxis die Inhalte. Jedes Kapitel beginnt mit einer sog. Mind Map, die die Inhalte gliedert und skizziert.
Das erste Kapitel befasst sich mit der Diagnose Autismus. Im Zusammenhang mit Autismus trifft man auf zahlreiche Fachbegriffe, die erläutert werden. Tabellarisch werden der frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom unterschieden. Zudem werden die Folgen dieser Diagnosen in Bezug auf das Kind, die Eltern und die Geschwister dargestellt.
Im zweiten Kapitel geht es um die Wahrnehmung als Puzzlespiel. Menschen mit Autismus nehmen die Welt anders wahr. Informationen müssen wie bei einem Puzzle zusammengesetzt werden, was nicht selten überfordert.
Das 3. Kapitel „Anders Denken“ beleuchtet Denkweisen von Menschen aus dem autistischen Spektrum. Die Autorin geht auf die Konzepte der sog. Theory of Mind, zentrale Kohärenz und die exekutiven Funktionen ein.
De Bruin vergleicht das Gehirn eines Autisten mit einem Computer (Titel des 4. Kapitels: „Wie ein Computer“). Informationen werden in Ordnern abgespeichert. Es kann vorkommen, dass Ordner nicht geschlossen werden, ein Zustand, unter dem Menschen mit Autismus leiden und sich folglich intensiver mit offenen Ordnern beschäftigen müssen, mehr als andere Menschen.
Das 5. Kapitel beschreibt Sinnesbereiche wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tastsinn und Schmerzen. Ein autistisches Kind kann sowohl über- als auch unterempfindlich sein, wodurch die Reaktionsweise maßgeblich bestimmt wird. Sinnesbereiche sind unveränderbar, aber es besteht die Möglichkeit zu lernen, mit der Informationsaufnahme und -verarbeitung anders umzugehen.
Im 6. Kapitel geht es um die Entwicklung von Kommunikation, Gefühle, Mimik, Fantasie, Motorik und Talente. Autismus ist eine tief greifende Entwicklungsstörung, die alle Entwicklungsbereiche betrifft.
Eltern und Betreuer autistischer Kinder merken, dass die üblichen Erziehungsmethoden nicht funktionieren. Sie sind darauf angewiesen, einen anderen Blick auf das betroffene Kind zu bekommen. Die Autorin empfiehlt in diesem Zusammenhang von der Auti-Brille (Kap 7) Gebrauch zu machen. Diese ermöglicht, die Sicht des Kindes und seine Denk- und Reaktionsweisen zu verstehen und nachzuvollziehen.
Das Kapitel 8 ist dem Konzept der „entscheidenden 5“ gewidmet. Durch die Antworten auf die 5 W- Fragen wird ein Zusammenhang hergestellt. Menschen aus dem autistischen Spektrum suchen Antworten auf diese Fragen: „WAS ist meine Aufgabe, WIE führe ich sie aus, WO findet sie statt, WANN muss ich sie erledigen und WER/mit WEM ist daran beteiligt?“. Manchmal ist es auch nötig Antworten auf das WARUM zu geben, was ein sechstes Puzzleteil darstellt.
Im folgenden 9. Kapitel wird jede dieser Fragen vertieft und anhand von Alltagsbeispielen erläutert. Dadurch öffnet sich der Weg der Auti-Kommunikation. Ausgangspunkt ist die natürliche Kommunikation, die bestimmten Regeln folgt und aus vielen Elementen besteht, die für ein Kind mit Autismus problematisch sein kann. „Es ist tatsächlich nicht fähig auf unsere Art zu kommunizieren. Es kommuniziert auf seine eigene Art.“ (S. 70). Das autistische Kind kann sich nicht an die natürliche Kommunikation anpassen. Es ist darauf angewiesen „Vorfahrt“ zu bekommen, was bedeutet, dass das Umfeld aufgefordert ist, die Kommunikation anzupassen, was die Autorin als Auti-Kommunikation bezeichnet.
In den Kapiteln 10, 11, 12 und 13 werden die Schwierigkeiten vertieft. Es handelt sich um Kommunikationsstörungen, Sprachstörungen und Verständnisschwierigkeiten. Darüber hinaus gibt es weitere Kommunikationsprobleme wie zu viele Bemerkungen, die Schwierigkeit etwas zu relativieren und unsichtbare Beziehungen zu erkennen bzw. zwischen den Zeilen zu lesen. Es wird zudem erklärt, warum Strafen nicht wirken.
Eine Auti -Kommunikation (Kap 14) stellt sich auf die Art der Wahrnehmung, des Denkens und der Kommunikation von Menschen mit Autismus ein. Sie sind auf eine Umgebung angewiesen, die passt. Die Autorin hat an dieser Stelle eine Liste zusammengefasst, was man in der Kommunikation mit einem autistischen Kind beachten sollte (S. 97/98). Damit ist es möglich, dem Kind etwas beizubringen (Kap 15) und seine Entwicklung zu unterstützen (Kap 16). Sie nennt drei wichtige Bezugselemente: 1. die Abhängigkeit von bestimmten Personen, 2. die Abhängigkeit von Strukturen und 3. die Selbstständigkeit. Diese Elemente sind in einer Tabelle auf Seite 102 anschaulich skizziert. Ziel der Unterstützung ist immer die Förderung der Selbstständigkeit des Kindes, die es von sich aus kaum entwickeln kann. Ein Muss der Förderung ist die visuelle Unterstützung (Kap 17). Das Konzept der visuellen Unterstützung zieht sich durch das gesamte Buch. Visuelle Hilfsmittel bilden das Fundament durch das Entwicklung geschieht. Es wird Vorhersehbarkeit gegeben und damit eine für das Kind notwendige Sicherheit wie z.B. mithilfe des sog. Tagesschema (S. 119). Durch Bilder wird dargestellt, was erlaubt ist und wo eine Grenze ist.
Im Kapitel 18 geht es um das „Stopp“ Konzept. Kinder mit Autismus brauchen Klarheit und Orientierung. Der Einsatz des Stopp-Zeichens kann „überlebenswichtig, unentbehrlich und äußerst hilfreich“ (S. 126) sein.
Ebenso nützlich kann es sein eine Aufgabenliste zu nutzen (Kap. 19). Aufgabenlisten machen Details bestimmter Situationen deutlich und vorhersehbar. Eine Aufgabenliste beginnt mit dem WANN. Beim Einsatz einer Aufgabenliste werden Eltern und Kind koordiniert. Auf Seite 132 findet man ein Muster für eine Aufgabenliste, die in Tabellenform Antworten auf die zentralen W-Fragen gibt. Als Wiederholung erinnert die Autorin am Ende des Kapitels nochmals an die drei Denkstrategien der zentralen Kohärenz, der Theory of Mind und der exekutiven Funktionen. Mithilfe der Auti-Brille können Eltern sich in das Kind besser hineinversetzen und die Umgebung passend gestalten.
Im 20. Kapitel Ben geht „normal“ zu Bett wird erklärt, wie es gelungen ist, mit Schlafproblemen von Ben umzugehen. Er kam nicht zur Ruhe, zerriss sein Bettzeug und verunreinigte das Bett. Anhand der 5 W- Fragen wurde eine Aufgabenliste entwickelt, mit deren Hilfe es Ben, gelang seine Probleme in den Griff zu bekommen. Hilfreich können auch Vereinbarungen oder Verträge (Kap 21 und 22) sein. In einem Vereinbarungsheft oder einem Vertrag werden Regeln und Absprachen sichtbar dokumentiert. Die Autorin stellt viele Zeichnungen aus realen Beispielen vor, mit deren Hilfe das Verstehen und Verhaltensänderungen unterstützt wurden. Dabei ist es nicht erforderlich bestimmte Zeichentechniken zu beherrschen, sondern es geht allein um die Visualisierung von Fakten, Regeln und Vereinbarungen.
Auch der Einsatz von Strategiekarten (Kap 23) hat sich vor allem im Schulunterricht bewährt. Es werden verschiedene Strategiekarten vorgestellt. Sie dienen dem Verhaltensmanagement und stellen eine Art Spickzettel dar, um z.B. Probleme zu lösen. Die Strategiekarten werden passend zur Fragestellung entwickelt. Das kann damit beginnen, dass man zum Beispiel eine Erinnerungshilfe hat, wie Rechenoperationen (plus, minus, mal, geteilt) durchführt und geht bis dahin, dass man visualisiert, wie man eine Buchbesprechung macht.
Diskussion
Die Aussage des Buches ist klar: es bedarf einer Auti-Brille im Umgang mit Menschen aus dem autistischen Spektrum. Diese Brille kann jeder tragen. Der Blick durch diese Brille hilft zu verstehen, wie ein Mensch mit Autismus wahrnimmt, wie er denkt und warum seine Reaktionsweisen anders sein können, als man es gemeinhin erwartet. Gelingt es, klar durch diese Brille zu sehen, führt es bei allen Beteiligten dazu, dass sie „fröhlicher und munterer“ sein können (S. 189).
Menschen aus dem Autismusspektrum haben viele Stärken. Eine ist, dass Details genau wahrgenommen werden können. Wie bei jedem Menschen kann eine Stärke zugleich eine Schwäche sein: Wenn allein Details wahrgenommen werden und der Zusammenhang vernachlässigt wird bleibt die Welt fragmentarisch. Mit dem Titelbild (bunte Puzzleteile, die ineinander greifen), welches die Autorin Colette de Bruin für das Buch gewählt erinnert sie daran. Das Leben besteht aus einzelnen Teilen, die in einen Zusammenhang gestellt werden müssen, verbunden werden müssen, um sich darin zu Recht zu finden und die Dinge zu verstehen. Menschen aus dem autistischen Spektrum machen nicht selten die Erfahrung, dass sie zu wenig Informationen über die Zusammenhänge erhalten, mit der Folge, dass sie die Welt oft als unzusammenhängendes Puzzle wahrnehmen.
Die Autorin verfügt über ein großes Erfahrungswissen: neben ihrer Tätigkeit als Beraterin in Familien ist sie selber Mutter von 5 autistischen Pflegekinder und ihr Vater erhielt im Alter von 45 Jahren die Diagnose Autismus. Auf diesem Hintergrund ist ihr hautnah bekannt, dass Antworten auf 5 W-Fragen entscheidend sind. Das Verstehen wird durch die Zuhilfenahme visueller Hilfsmittel unterstützt. Die Autorin ermutigt die Leser, Situationen und Zusammenhänge aufzuzeichnen, statt sie ausschließlich verbal zu erklären. Menschen aus dem autistischen Spektrum lernen bevorzugt anhand visueller Informationen, hinzukommt, dass Sprache flüchtig ist und oft mehrdeutiger als visuelles Bildmaterial
Zielgruppe des Buches sind vor allem Eltern, Bezugspersonen und Betreuer. Die Autorin zeigt auf, dass jeder angemessen handeln kann, wenn er weiss, worauf es ankommt. Was mir an dem Buch gefällt ist die Beschreibung (und die Belegung durch konkrete Beispiele), dass es möglich ist zu unterstützen und wirksam zu sein, auch wenn man keine spezielle mehrjährige therapeutische Ausbildung hat. Diese Haltung stärkt das Umfeld aber auch die Person selber, weil klar wird, dass es alltagstaugliche Lösungsperspektiven gibt.
Mir fällt auf, dass z.B. in Bildungseinrichtungen oft unreflektiert nach Spezialisten gerufen wird, die die Probleme lösen sollen. Diese Haltung begrenzt die eigenen Möglichkeiten. Natürlich ist es wichtig, überlegt und angemessen zu handeln, aber das ist nicht nur Fachleuten vorbehalten, die über ein exklusives Wissen verfügen, auch das Umfeld kann kompetent handeln, was die Beispiele in dem Buch belegen. Der Ruf nach Fachleuten gibt die Verantwortung ab, die notwendig ist im Zusammenlernen und Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen.
Das Buch ermuntert sich im Umgang mit Autismus kompetent (statt ohnmächtig zu fühlen). Es trägt dazu bei, zu erkennen, dass man etwas tun kann, wenn man bereit ist eine autistische Perspektive einzunehmen, z.B. mithilfe der Auti-Brille. Der Ansatz von Frau de Bruin kommt dem Handeln im TEACCH Ansatz sehr nah, der in Deutschland leider noch zu wenig verbreitet ist. Dabei handelt es sich um einen Zwei-Wege-Ansatz: 1. Gestaltung der Umgebung und 2. Erweiterung der individuellen Möglichkeiten mit dem Ziel die Stärken zu maximieren und die Schwächen zu minimieren um größtmögliche Unabhängigkeit und Lebensqualität zu erlangen.
Fazit
Dieses Buch ist aus der Praxis für die Praxis geschrieben. Es wird aber nicht versäumt, notwendige theoretische Hintergründe im Sinne eines psychoedukativen Ansatzes zu erläutern, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen ein Mensch mit Autismus lebt. Jede Therapie, Förderung oder Begleitung muss in eine Haltung der Akzeptanz des Menschen mit einer autistischen Störung als einmalige Persönlichkeit eingebettet sein. Der Autist Christian Köhler sagt in seinem youtube Film zu Recht: Autismus heilen zu wollen ist ein schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeit.
Es geht um Aufklärung zu Beeinträchtigungen und Besonderheiten für alle beteiligten Personen: der Person selber, dessen Eltern und Geschwister und Verwandte sowie Menschen in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen wie Erziehern und Lehrern.
Es geht dabei – nicht nur – um eine reine Informationsvermittlung, sondern um die Auseinandersetzung mit einem realen Bild und einem Wunschbild. Diese Auseinandersetzung ist begleitet von Wünschen, Gedanken, Emotionen sowohl auf Seiten des Betroffenen selbst als auch der Eltern und des Umfeldes. Dafür wird eine behutsame und sensible Unterstützung, Begleitung und Aufklärung benötigt.
Die Autorin schreibt in ihrem Buch darüber, wie sehr Menschen aus dem autistischen Spektrum darauf angewiesen sind „Vorfahrt“ zu bekommen, was bedeutet, dass das Umfeld aufgefordert ist, die Kommunikation und Interaktion anzupassen.
Das Buch von Frau de Bruin ist ein Meilenstein auf dem Weg zu dem mit der UN Konvention einhergehenden Paradigmenwechsel, bei dem unterstrichen wird, dass nicht ausschließlich Defizite und Normabweichungen in den Fokus genommen werden, sondern auch Stärken und Möglichkeiten der Varianten des Menschseins. Die Autorin zeigt jahrelang erprobte Möglichkeiten und Wege für das Umfeld auf, durch die es gelingen kann, die Umgebung individuell anzupassen und Entwicklungsmöglichkeiten zu gestalten, die oft einfach und dennoch sehr effektiv sind wie die 5 entscheidenden W-Fragen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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