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Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 19.02.2014

Cover Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus ISBN 978-3-17-023352-2

Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2013. 220 Seiten. ISBN 978-3-17-023352-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.

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Thema

Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Autismus ein relativ häufiges Phänomen ist. Kennzeichnend ist das breite Spektrum, das von einer geistigen Behinderung bis zur Hochbegabung, von milden bis zu deutlich ausgeprägten Formen reicht. Das Buch ist an Betroffene, Eltern und Fachleute gerichtet und es erläutert, was sich hinter der Diagnose Autismus-Spektrum verbirgt. An erster Stelle steht immer das Verstehen! Nicht selten stoßen Betroffene auf Unverständnis, weil nicht bekannt ist, dass sie anders wahrnehmen/denken und sich deshalb anders verhalten. Girsberger stellt hilfreiche Strategien für den Erziehungs- und Schulalltag vor.

Autor

Dr. med. Thomas Girsberger ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit 25 Jahren betreibt er eine eigene Praxis in der Nähe von Basel. Seine fachlichen Schwerpunkte sind das Autismus-Spektrum und ADHS.

Entstehungshintergrund

Während des Studiums im Fachgebiet Humanmedizin spezialisierte Girsberger sich 1982 auf die Psychiatrie. 2007, nachdem er schon lange als Kinder- und Jugendpsychiater gearbeitet hat, veränderte sich sein Blick völlig. Ihm wurde klar, dass in seinem unmittelbaren persönlichen Umfeld Menschen mit Autismus gelebt haben. Sein Vater und dessen Schwestern waren immer schon „komisch“ gewesen. Girsberger erkannte, dass seine Angehörigen Asperger Autisten sind. Seine Tante lebte viele Jahre mit der Diagnose Schizophrenie in der Psychiatrie, weil nicht erkannt worden war, dass sie schwerhörig und autistisch war. Diese Erfahrung machte ihm hautnah bewusst, dass eine korrekte Autismus-Diagnose zentrale Bedeutung hat, weil auf dieser Basis passende therapeutische und pädagogische Maßnahmen vorgenommen werden können. Auch in seiner Praxis konnte er viele Male mitverfolgen wie plötzlich jahrelange Leidenswege eine positive Wendung bekamen, vor allem bei den milderen Formen von Autismus. Er warnt allerdings vor dem Irrtum, dass mildere Formen mit milderen Problemen gleichzusetzen sind.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst 220 Seiten in sieben Kapiteln plus einem ausführlichen Anhang.

  1. Wie entsteht Autismus?
  2. Autismus-Spektrum und Entwicklungsstörungen
  3. Abklärung und Diagnose
  4. Verlauf in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter
  5. Therapie und Beratung
  6. Komorbiditäten
  7. Schulische Integration

Der Text ist gut gegliedert, die Erläuterungen werden durch Schaubilder ergänzt. Neben biografischen Portraits stellt der Autor Konzepte vor u.a. die „So macht me das“ Gebrauchsanweisungen für den Alltag, in denen es darum geht Selbstkompetenzen und Selbstständigkeit zu fördern (S. 115-126). Ergänzend zum gedruckten Werk wird mit ContentPLUS elektronische Zusatzmaterialien, die mit einem persönlichen Zugangscode eingesehen, ausgedruckt und teilweise herunter geladen werden können, beim Kohlhammer Verlag zur Verfügung gestellt.

Das Buch beginnt mit der Frage wie Autismus entsteht. Der Autor erläutert genetische Faktoren und Fragen nach einer Schädigung des Gehirns. Es folgt die Betrachtung von Besonderheiten der autistischen Wahrnehmung, Besonderheiten des autistischen Denkens und Besonderheiten des autistischen Fühlens. Daran schließt die Bedeutung des Stress-Niveaus, der Umgebungseinflüsse und gesellschaftlicher Veränderungen an.

Das 2. Kapitel handelt vom Autismus-Spektrum und Entwicklungsstörungen. Als Orientierungshilfe entwickelte der Autor ein Farbschema. Er stellt das Konzept der Entwicklungsstörungen vor und erklärt, warum heutzutage der Begriff Autismus-Spektrum dem Terminus Autismus vorgezogen wird.

Im Kapitel 3 „Abklärung und Diagnose“ nimmt er die verschiedenen Ebenen der Diagnostik in den Blick und beschreibt, welche Schwierigkeiten sich bei der Diagnostik ergeben können. Neben den Diagnosen des Autismus-Spektrums im Einzelnen beleuchtet Girsberger die Plastzität (Veränderbarkeit) des Autismus.

Im 4. Kapitel stellt der Autor anhand Lebensgeschichten aus verschiedenen Altersgruppen den Verlauf in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter vor. In Form von Portraits werden Mirjana (12 J.), Mirco (13 J.) und Juraj (42 J.) vorgestellt, die alle die Diagnose Asperger-Syndrom bekommen haben. Daniela ist 10 Jahre alt und sie erhielt die Diagnose Atypischer Autismus. Im Mittelpunkt der Vorstellung stehen neben Schattierungen des Asperger-Syndroms alters- und geschlechtsspezifische Probleme. Das Kapitel schließt mit dem Thema Autismus und Computerwelt ab.

Im Kapitel 5 geht es um Therapie und Beratung. Der Autor stellt den systemischen Ansatz vor, die Arbeit an sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie die Förderung von Kompetenzen zur Selbstständigkeit. Er beschreibt, welche Möglichkeiten es gibt mit dem Fixiertsein (im Sinne von Sturheit) und mit Verweigerung umzugehen. Auch Medikamente sind dabei ein Thema.

Das 6. Kapitel widmet sich den Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) wie Depressionen, Ängste, Zwänge, Essprobleme und Essstörungen, Schlafstörungen, Verhaltensstörungen, ADHS sowie körperliche Krankheiten und Beschwerden. In diesem Zusammenhang betrachtet der Autor Autismus in der Dynamik der Familien.

Das letzte Kapitel befasst sich mit der schulischen Integration. Es wird der Frage nachgegangen, wie autistisches Denken und Schule zusammenpassen, wo die typischen Schwierigkeiten in der Schule liegen und welche möglichen Lösungen für eine Schulkarriere erfolgreich sein können. Nicht unwesentlich ist, dass ein Nachteilsausgleich gewährt werden kann.

Im Anhang findet man ein kleines ABC des Autismus, in dem Begriffe im Zusammenhang von Autismus erläutert werden. Es beginnt mit „ADHS“ und endet bei der „zentralen Kohärenz“. Das Buch schließt mit einem Literaturverzeichnis, nützlichen Adressen im Internet und dem Farbteil, der die Farben des Autismus Spektrums darstellt, ab.

Diskussion

Schon mit der Wahl des Titels macht der Autor klar, dass es ihm nicht darum geht, eine Störung zu beschreiben, sondern Autismus als Spektrum menschlichen Seins betrachtet werden sollte. Es ist ihm ein Anliegen, eine ganzheitliche Diagnose zu erstellen, bei der auch die Familienanamnese nicht unwichtig ist. Aus seiner Sicht muss ein diagnostischer Prozess immer interaktiv und dialogisch sein. „Eltern sind die größten Experten, wenn es um ihr eigenes Kind geht“ (S. 67). Das Buch ist Ergebnis seiner Arbeit in eigener Praxis, die er seit 25 Jahren in der Schweiz betreibt. In seinem beruflichen Alltag erlebt er tagtäglich, wie vielfältig die Erscheinungsformen und Probleme von Betroffenen aus dem Autismus-Spektrum sind. Es gibt viele Überschneidungen mit Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) und leider werden deshalb immer noch Autismus-Diagnosen verpasst. Ein großes Anliegen dieses Buchs ist, für die Vielfalt, für die verschiedenen Farben des Autismus zu sensibilisieren.

Neben theoretischen Informationen, die der Aufklärung dienen, kommen im Buch auch Betroffene aus verschiedenen Altersstufen zu Wort. Die Jüngste ist Daniela mit 10 Jahren und der Diagnose Atypischer Autismus, der Älteste ist Juraj, der 42 Jahre alt ist und die Diagnose Asperger-Syndrom hat. Girsberger entwickelte geeignete Konzepte wie das „So-macht-me-das“, welches er als „Gebrauchsanweisungen für den Alltag“ für Betroffene, Eltern und Professionelle entwickelt hat. Kinder können zudem auch von seinem Therapieangebot SPASS profitieren, das er vorzugsweise in Gruppen durchführt. Das Kürzel SPASS steht für „Strukturiertes Programm für Kinder mit ausgeprägten Stärken und Schwächen“. Mit diesem Titel wird die Haltung Girsbergers deutlich: für ihn ist es eine einseitige Zuschreibung, Autismus als Störung bzw. als Behinderung zu betrachten. Es sollte vielmehr darum gehen, den jeweiligen Menschen in seiner Individualität zu sehen und ihm bei Problemen adäquate Hilfestellung zu geben. Mit dieser Haltung befördert Girsberger den längst überfälligen Paradigmenwechsel in der Betrachtung des Phänomens Autismus Spektrum, der nicht allein die Schwächen, sondern verstärkt Stärken in den Mittelpunkt stellt. Durch diese Grundhaltung eröffnen sich neue Perspektiven, die die einseitige Defizitorientierung durch den Blick auf die Ressourcen und Möglichkeiten ersetzt.

Fazit

Die Zahl der Publikationen zum Thema Autismus ist weiterhin steigend. Die Frage, ob ein weiteres Buch notwendig ist darf gestellt werden. Bei dieser Neuerscheinung kann die Frage mit einem klaren Ja beantwortet werden, denn Bücher, die aus einer systemischen Sichtweise heraus geschrieben werden sind nach wie vor eher selten. Es ist dem Autor ein Anliegen deutlich zu machen, dass es sich beim Autismus nicht um eine Störung an sich handelt, sondern, dass es um das Ergebnis anderer Denkweisen geht. Besonders lesenswert sind die biografischen Portraits, die in Erzählform geschrieben sind. Die Gebrauchsanweisungen aus seinem Konzept „So-macht-me-das“ sind 1:1 in die Praxis einsetzbar und geben konkrete Anregungen für die Entwicklung eigener Ideen.

Lesenswert sind seine Ausführungen zu den Mischformen Asperger-Syndrom und ADHS. Der Autor entwickelte ein Schema, das der Tatsache gerecht wird, dass Diagnosen nicht streng voneinander abgrenzbar sind, da es Abstufungen und Übergänge gibt.

Girsberger engagiert sich in Selbsthilfeorganisationen („Autismus Deutsche Schweiz“ und „Asperger-Hilfe Nordwestschweiz“), wobei er die Erfahrung gemacht hat, dass viele, die sich für Kinder aus dem Autismus-Spektrum engagieren, aus einer persönlichen Betroffenheit heraus handeln. So ist es auch bei ihm. Er hat sich oft gefragt, was wohl aus seiner autistischen Tante geworden wäre, wenn sie als Kind richtig beurteilt und behandelt worden wäre. Er kommt zu dem Schluss, dass sie sicherlich nicht ihr ganzes Leben in einer psychiatrischen Klinik verbracht hätte.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Es gibt 311 Rezensionen von Petra Steinborn.

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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 19.02.2014 zu: Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2013. ISBN 978-3-17-023352-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16352.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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