Georg Theunissen: Menschen im Autismus-Spektrum Verstehen, annehmen, unterstützen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 02.09.2014
Georg Theunissen: Menschen im Autismus-Spektrum Verstehen, annehmen, unterstützen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2014. 293 Seiten. ISBN 978-3-17-025393-3. 34,90 EUR.
Thema
Theunissen läutet mit diesem Buch einen radikalen Paradigmenwechsel ein. Dabei verabschiedet er sich endgültig von einer pathologischen und defizitorientierten Perspektive. Das Buch eröffnet nicht nur völlig neue Sichtweisen auf Menschen im Autismus-Spektrum, sondern liefert auch richtungsweisende Impulse für einen neuen Umgang mit Autismus in der Praxis.
Autor
Dr. päd. Georg Theunissen ist Professor für Pädagogik bei Autismus am Institut für Rehabilitationspädagogik der Philosophischen Fakultät III Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Er ist der erste Professor für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum. Acht Jahre war er als pädagogischer Leitung einer großen Behinderteneinrichtung tätig und fünf Jahre Professor für Heilpädagogik an der Kath. Fachhochschule Freiburg.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst 294 Seiten. Auf jeder Seite ist am oberen Rand links die Überschrift für den Teil vermerkt, in dem man gerade liest und rechts das Kapitel, sodass man sich im Buch schnell orientieren kann. Das Buch ist textlich sehr verdichtet, die Seiten sind eng bedruckt. Überschriften und Beispiele lockern auf. Letztere sind vom Fließtext abgehoben (senkrechter Balken am linken Textrand). Die Ausführungen von Theunissen sind durch zahlreiche Hinweise auf andere Autoren und Fußnoten ergänzt.
Das Buch gliedert sich in drei große Teile:
- Verstehen,
- annehmen,
- unterstützen.
Teil I „Verstehen“ (100 Seiten) enthält zwei Kapitel: 1. Kapitel: Autismus heute und morgen: Spektrum-Sicht und funktionale Betrachtung beginnt mit der Beleuchtung des Autismus von der Tradition zur Innovation. In diesem Zusammenhang wird auch der DSM 5 vorgestellt. Autismus ist eine Verhaltensdiagnose. Um ihn zu verstehen müssen autistische Verhaltensmuster in ihrer Funktion betrachtet werden. Theunissen empfiehlt auf Grundzüge des sog. „Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell“ zurückzugreifen, das zur Erklärung von Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angststörungen, schizophrene Störungen und Verhaltensauffälligkeiten eine Rolle spielt. Beobachtungen und Auswertungen mehrerer Studien ergaben 9 Faktoren, die autistische Personen „‚vulnerabler und weniger resilient‘“ (S. 41) als neurotypische Personen machen. (Groden und Team 2011)
Das 2. Kapitel in diesem Teil mit dem Titel Innovative Erklärungsansätze befasst sich ausführlich mit vier Modellen: die Monotropismus-Hypothese, die sog. „Intense World Theory“, die „Empathy Imbalance Hypothesis und Extreme Male Brain Theory“ sowie dem Konzept des „Enhanced Perceptional Functioning“. Diese Erklärungsansätze sind multiperspektivisch. Vertreter der Monotropismus-Hypothese gehen von veränderten neurobiologischen Strukturen, Prozessen und Funktionsweisen des Gehirns aus und sie versuchen nachzuweisen, dass eine veränderte Hirnstruktur nicht konsequenterweise mit einem Defizit gleichzusetzen ist. Vertreter der „Intense World Theory“ gehen von einem übersensiblen Gehirn aus. Im Einzelnen befassen sie sich mit der Bedeutung der Amygdala, dem Erklärungsmodell „Theory of Mind“, dem Modell der „Schwachen Zentralen Kohärenz“ und dem Modell der „Exekutiven Dysfunktion“. Es wird ein Resümee im Hinblick auf eine verstehende Sicht gezogen. Die Betrachtung endet mit Konsequenzen für die Praxis und einem Ausblick. Die „Empathy Imbalance Hypothesis“, also die Hypothese der empathischen Unausgewogenheit unterscheidet zwei Formen der Empathie: die emotionale Empathie und die kognitive Empathie. Beide Formen der Empathie sind verschieden, ergänzen sich aber komplementär. Das Modell des „Enhanced Perceptional Functioning“ wurde von autistischen und nichtautistischen Wissenschaftlern in Montreal entwickelt. Es versteht sich als Modell zur Erklärung von Wahrnehmungsbesonderheiten autistischer Personen. Der defizitorientierte Betrachtung des Autismus wird eine klare Absage erteilt. Dabei werden besonders auch Fragen „autistischer Intelligenz“ aufgegriffen. Alle vier Modelle werden ausführlich dargestellt und mit Beispielen und Forschungsergebnissen belegt.
Der II. Teil „Annehmen“ (50 Seiten) enthält wiederum zwei Kapitel: 1. Innovative Leitprinzipien: Empowerment und Inklusion. Exemplarisch wird die Geschichte von Kayla Takeuchi vorgestellt, die 1991 in Kalifornien geboren wurde. Kayla Takeuchi ist Autistin. Sie spricht nicht. Aufgrund ‚irritierender‘ Verhaltensweisen wurde sie als geistig behindert diagnostiziert und somit von anderen nichtbehinderten Kindern separiert. Dank der Förderung der Mutter und der Unterstützung eines Kinderarztes gelang es, mit ihr das Schreiben am PC zu etablieren. Mit 18 Jahren wurde Kayla Takeuchi aufgrund sehr guter Testergebnisse am College aufgenommen, wo sie jetzt ihrem akademischen und naturwissenschaftlichen Interesse folgen kann. Das 2. Kapitel Paradigmenwechsel im Zeichen von Empowerment und Konsequenzen für die Praxis erläutert an der Geschichte von TW den Unterschied von der Top-down-Partizipation zur Bottom-up-Partizipation und Formen personenzentrierter Planung (der Persönlichen Zukunftsplanung, der Persönlichen Lebensstilplanung, der Sozialen Netzwerkplanung, dem Instrument „My Plan“, der Individuelle Hilfeplanung (IHP-3) und dem Resümee und Organisation der Personenzentrierten Planung). Es schließt mit der Sozialraumorientierung sowie mit Möglichkeiten der Beteiligung von Behinderten-Beiräten und Betroffenen.
Teil III „Unterstützen“ (100 Seiten) enthält fünf Kapitel: 1. Leitperspektive und Ressourcenaktivierung. Im 2. Kapitel Frühe Hilfen werden die Erläuterungen am Beispiel der Person Jeff gegeben. Vorgestellt werden die Elternberatung und Familienarbeit, Unterstützerkreis und Programmplanung sowie pädagogische und therapeutische Methoden. ABA wird aus der Perspektive von der restriktiven zur ressourcenorientierten Praxis beleuchtet. Das 3. Kapitel Schule und Unterricht befasst sich mit der Betrachtung schulischer Inklusion (im Speziellen um das Vertrauen in die Lernfähigkeit autistischer Schüler(innen), mit allgemeinen Unterstützungsmöglichkeiten, mit einer individuellen Unterstützungsplanung, Lehrplanimplementierung, mit der subjektzentrierten Unterstützung, der Kontextgestaltung sowie der Planung eines inklusiven Unterrichts). Das 4. Kapitel Arbeit und Wohnen beginnt mit einleitenden Bemerkungen zur Teilhabe am Arbeitsleben; Bildungs- und Unterstützungssystemen zur Teilhabe am allgemeinen Arbeitsleben, Übergangsschulen, Angebote und Systeme zur beruflichen Bildung Unterstützte Beschäftigung, Integrationsfirmen, -projekte und soziale Unternehmen, Unterstützte Hochschulausbildung oder Weiterbildung. Das Thema Wohnen wird einmal aus der Betroffenen-Sicht und einmal unter dem Aspekt der Realität des Wohnens beleuchtet. Im 5. Kapitel Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten stellt der Autor die Positive Verhaltensunterstützung (PVU) im Arbeitsfeld Schule an einem Beispiel aus der Praxis (nach Hyman 2009) vor. Im Mittelpunkt steht das Verständnis von Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklung und Grundzüge der PVU sowie das Vorgehen der PVU als Einzelhilfe. Den Abschluss bildet der pädagogische Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten im außerschulischen Bereich (Autismus positiv Denken) am Beispiel von Frau F.. Das Buch endet mit einem Literaturverzeichnis und Quellennachweisen.
Diskussion
Die drei großen Teile stehen für drei zentrale Leitmotive, die der Paradigmenwechsel von einer pathologischen zu einer ressourcenorientierten Sichtweise verfolgt. Das 1. Leitmotiv „Verstehen“ befasst sich mit der Innensicht und den Selbstbildern autistischer Personen. Das 2. Leitmotiv „Annehmen“ stellt als Kernthema die Wertschätzung von Autisten als „Experten in eigener Sache“ in den Mittelpunkt. Das 3. Leitmotiv befasst sich mit dem „Unterstützen“. Es liefert einen Einblick in pädagogische Unterstützungsformen in unterschiedlichen Handlungsfeldern wie dem schulischen, außerschulischen, beruflichen und privaten Bereich.
Angeregt durch die US- amerikanische Empowermentbewegung behinderter Menschen, wie z.B. ASAN bricht Theunissen „mit traditionellen Vorstellungen über Autismus als pathologisches Phänomen sowie mit einer einseitig ausgerichteten Autismusforschung und Praxis, die bislang über eine an Defiziten orientierte Denkfigur kaum hinausgekommen ist“ (Vorwort). Der Autor will deutlich machen, dass mit der Inklusion eine andere Forschung, andere Denkweisen und Haltungen einhergehen, die sich vor allem auch in einer anderen Sprache ausdrücken.
In den vergangenen Monaten sind zahlreiche Bücher über Autismus vor allem aus dem Fachbereich Psychologie erschienen. Auffällig ist, dass darin Inklusion zwar als gesellschaftliche Aufgabe benannt und hervorgehoben wird, gleichzeitig bleiben die Autoren aber in alten Sprach- und Denkmustern verhaftet: Autismus wird als Pathologie klassifiziert, als Defizit oder Abweichungen von einer Norm definiert, was mit entsprechenden Forschungsergebnissen belegt wird. Diese Berufsgruppe hat an Universitätskliniken und Autismusambulanzen die Aufgabe, Diagnosen zu stellen, auf deren Grundlagen finanzielle Mittel fließen.
Hier bildet sich ein Spannungsfeld, in dem beide Perspektiven (Defizitorientierung und Ressourcenorientierung) nebeneinander stehen und mir drängt sich die Frage auf, wie es gelingen kann, im Zeitalter der Inklusion Abschied vom Denken in Normen zu nehmen, die Vielfalt des Menschseins in den Mittelpunkt zu stellen und ein Umfeld zu schaffen, in dem Lernen und Entwicklung möglich ist.
Es ist sicher kein Zufall, dass ein Professor für Pädagogik dieses bahnbrechende Buch geschrieben hat und damit den längst überfälligen Paradigmenwechsel einleitet, der einer personenzentrierten ressourcenorientierten Perspektive Vorschub gibt.
Fazit
Theunissen läutet mit diesem Buch einen radikalen Paradigmenwechsel ein. Dabei verabschiedet er sich endgültig von einer pathologischen und defizitorientierten Perspektive. Das Buch eröffnet nicht nur völlig neue Sichtweisen auf Menschen im Autismus-Spektrum, sondern liefert auch richtungsweisende Impulse für einen neuen Umgang mit Autismus in der Praxis. Dieses Buch hat das Potential zum bedeutsamen Standardwerk eines zeitgemäßen Paradigmas zu werden, welches das pathologische durch das ressourcenorientierte Leitmotiv ablöst und die (Neuro-)Diversität des menschlichen Seins akzeptiert!
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 02.09.2014 zu:
Georg Theunissen: Menschen im Autismus-Spektrum Verstehen, annehmen, unterstützen. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2014.
ISBN 978-3-17-025393-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16379.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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