Astrid Stölzle: Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg
Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 03.04.2014

Astrid Stölzle: Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreichs.
Franz Steiner Verlag
(Stuttgart) 2013.
227 Seiten.
ISBN 978-3-515-10481-4.
D: 42,00 EUR,
A: 43,20 EUR,
CH: 55,90 sFr.
Reihe: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft - 49.
Thema
Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung von Astrid Stölzle stehen die Schwestern und Pfleger, die im Rahmen der freiwilligen Krankenpflege während des Ersten Weltkrieges (1914-1918) in den Lazaretten und Lazarettzügen der Etappen gearbeitet haben. Aus ihrer Perspektive wird der Pflege- und Lebensalltag im Krieg dargestellt.
Autorin
Astrid Stölzle studierte Archäologie und Geschichte an der Universität Mannheim, bevor sie von 2008 bis 2011 Promotionsstipendiatin zum Thema „Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg“ am Institut für Geschichte der Medizin (IGM) der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart war. Die Autorin, die seit 2012 am IGM als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitet, hat zusammen mit Susanne Rueß „Das Tagebuch der jüdischen Kriegskrankenschwester Rosa Bendit, 1914 bis 1917“ in der Reihe „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ (Beiheft 43) herausgegeben und kommentiert (Stuttgart 2012).
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Arbeit, die im August 2012 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart als Dissertation angenommen wurde und nun als „Beiheft 49“ der von Prof. Dr. Robert Jütte herausgegebenen renommierten Schriftenreihe „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ erscheint, entstand am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, die hierzu sowohl ein Stipendium als auch für die Veröffentlichung einen Druckkostenzuschuss gewährte.
Aufbau
Nach Vorwort (S. 9) und Zusammenfassung (S. 10) enthält die Studie die folgenden Hauptkapitel:
- Einleitung (S. 13)
- Struktur und Organisation der
freiwilligen Krankenpflege (S. 28)
- Entwicklung, Aufbau und Aufgaben des Kaiserlichen Kommissars, der Delegierten, der Ritterorden, des Roten Kreuzes und des Pflegepersonals von 1866 bis 1920 (S. 28)
- Einsatzplanung (S. 42)
- Lazarettpflege (S. 56)
- Pflegetätigkeiten und Besonderheiten in der Lazarettpflege (S. 56)
- Der Umgang mit verwundeten und erkrankten Soldaten (S. 103)
- Lazarettpersonal (S. 114)
- Zusammenarbeit (S. 114)
- Erkrankungen des Pflegepersonals (S. 148)
- Kriegserlebnisse (S. 160)
- Lebensbedingungen (S. 174)
- Soziale Absicherung für das
Pflegepersonal (S. 190)
- Gehalt und Versorgung während des Krieges (S. 190)
- Situation und Versorgung nach Kriegsende (S. 196)
- Zusammenfassung und Ausblick (S. 202)
- Quellen und Literatur (S. 207).
Erschlossen wird der Band, der gut ein Dutzend zeitgenössischer Schwarzweiß-Abbildungen enthält, durch ein Register (S. 221).
Inhalt
Im Ersten Weltkrieg wurde der militärische Sanitätsdienst nach jahrzehntelanger Vorbereitung erstmals in großem Umfang von zivilem Pflegepersonal der sogenannten freiwilligen Krankenpflege ergänzt. Sie wurde von staatlicher Seite zentral von einem Kaiserlichen Kommissar geleitet und vom Roten Kreuz und den Ritterorden organisiert.
Der zeitliche Untersuchungsrahmen beginnt mit der Planungsphase der freiwilligen Krankenpflege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und endet mit der Auflösung der freiwilligen Krankenpflege im Jahr 1920. Ab November 1918 wurde das Pflegepersonal aus den Etappen nach und nach wieder zurückgezogen. Im Januar 1919 war der größte Teil des weiblichen und männlichen Pflegepersonals aus der Etappe und aus den Vereinslazaretten entlassen worden. In der Heimat lief der Dienstbetrieb der freiwilligen Krankenpflege bis zum 31. März 1920.
In den Fokus ihrer Studie hat Astrid Stölzle den Pflegealltag der Schwestern und Pfleger gestellt, die in den Lazaretten und Lazarettzügen der Etappen gearbeitet haben, sowie ihre dort gemachten Wahrnehmungen und Erfahrungen. Ihre Darstellung stützt sie dabei auf amtliche Korrespondenz der militärischen und zivilen Führungskräfte der freiwilligen Krankenpflege, normative Quellen (zum Beispiel Dienstvorschriften, die Kriegs-Sanitäts-Ordnung, Unterrichtsbücher) und sogenannte Ego-Dokumente (rund 2.000 Briefe, sieben Tagebücher sowie rund 90 zu einem späteren Zeitpunkt verfasste Berichte) aus einer Vielzahl von Staats- und Landesarchiven sowie diversen Vereins- und Ordensarchiven.
Untergliedert in einzelne Kapitel beleuchtet die Autorin zunächst die Organisation der freiwilligen Krankenpflege vor Kriegsbeginn, um die Rahmenbedingungen der Arbeit des Pflegepersonals zu verdeutlichen. Anhand von gedruckten Quellen und amtlicher Korrespondenz stellt sie dabei die Entwicklung ab 1866 dar, also ab dem Jahr, in dem nach den Beschlüssen der Genfer Konvention die freiwillige Krankenpflege als solche ihren ersten Einsatz im deutschen Krieg (Preußen gegen Österreich) hatte, bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Schließlich beschreibt sie den Aufbau der freiwilligen Krankenpflege bis zu seiner Auflösung im Jahre 1920. Die beiden daran anschließenden Kapitel („Lazarettpflege“ und „Lazarettpersonal“), die zugleich den Hauptteil der Arbeit ausmachen und sich hauptsächlich auf die Auswertung von Archivalien stützen, behandeln die praktischen Pflegetätigkeiten und die Besonderheiten in der Lazarettpflege, das Arbeitsumfeld, die Eindrücke und Erfahrungen der Pflegerinnen und Pfleger, ebenso wie deren Lebensbedingungen. Ergänzt wird die Darstellung durch einen Blick auf die soziale Versorgung des Pflegepersonals und auf seine Arbeitsmarktsituation nach der Rückkehr in die Heimat am Ende des Krieges.
Diskussion
Seit Mitte der 1980er Jahre beschäftigt sich die historische Forschung zum Ersten Weltkrieg verstärkt mit dem „Kriegserlebnis“, das heißt den individuellen Erfahrungen der Menschen in den Schützengräben und an der sogenannten Heimatfront. Auch der gezielte Einsatz von modernen Medien wie Film und Fotografie zur Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg gehörte zum Kriegsalltag und ist Gegenstand breiter Forschungen. Eine Untersuchung zum Pflegealltag von Etappenschwestern und Pflegern, die ihre Pflegetätigkeit und ihre Lebensbedingungen beschreibt, fehlte allerdings bislang. Die fundierte Studie von Astrid Stölzle, deren Betreuung beziehungsweise Begutachtung in Händen von Prof. Dr. Robert Jütte und Prof. Dr. Wolfram Pyta lag, ist dabei umso begrüßenswerter, als zur Geschichte der Kriegskrankenpflege im deutschsprachigen Raum – im Gegensatz zu anderen Ländern, wie beispielsweise Großbritannien und Amerika – bislang nur wenige Forschungsarbeiten vorliegen. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die jüngst (Stuttgart 2013), ebenfalls in der Reihe „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ als „Beiheft 47“, erschienene Veröffentlichung von Annett Büttner „Die konfessionelle Kriegskrankenpflege im 19. Jahrhundert“ (vgl. die Besprechung des Verfassers in www.socialnet.de/rezensionen/16407.php).
Mit ihrer Untersuchung kann die Autorin zeigen, dass die freiwilligen Kräfte eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Verletzten spielten. Die Schwestern und Pfleger erlebten zusammen mit den Ärzten und dem Sanitätspersonal den Krieg aus allernächster Nähe dort, wo seine Auswirkungen am deutlichsten erkennbar waren. Ihre Mitteilungen in Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen, auf deren Auswertung sich Astrid Stölzle bei ihrer Darstellung stützt, dokumentieren nicht nur unmittelbar den Lazarettalltag im Krieg, sondern bieten auch konkrete Einblicke in die Tätigkeiten der Pflege und damit verbunden in die Verantwortung, die bei den einzelnen Schwestern beziehungsweise Pflegern lagen. Demnach waren auch die Führungsebenen der Wohlfahrtsverbände überzeugt davon, mit der freiwilligen Krankenpflege einen humanitären und politisch wichtigen Beitrag geleistet zu haben. Sie hatten nicht nur in großem Maße ihr Krankenpflegepersonal zur Verfügung gestellt, sondern auch Geld- und Sachspenden aufgebracht und Lazarette sowie Lazarettzüge eingerichtet. Der sich im Laufe des Krieges stetig steigernde Bedarf an Pflegepersonal ging freilich zu Lasten der „Heimatpflege“, so dass viele Gemeinden und wohlhabende Einrichtungen in pflegerischer Hinsicht nicht versorgt werden konnten.
Für das Personal, das bereits zu Beginn des Krieges in die Etappen gekommenem war, bedeutete der Einsatz eine überraschende Mehrbelastung, nämlich statt der ursprünglich vorgesehenen drei Monate für eine immer unbestimmtere Zeit in den Lazaretten zu arbeiten. Um sie zum Durchhalten zu motivieren, wurde ihnen, wie die Autorin zeigt, auf verschiedene Weise Anerkennung zuteil: Das Rote Kreuz und die einzelnen Bundesstaaten etwa verliehen den Pflegenden Medaillen, während der Kaiser, die Könige, Prinzen und hochrangige Generäle die Schwestern und Pfleger in den Etappen besuchten, wo sie ins Gespräch mit einzelnen von ihnen traten.
Mit ihrer Untersuchung kann Astrid Stölzle zugleich belegen, dass die Grenzen einer Hilfsorganisation im Krieg schnell erreicht waren. So konnte, entgegen der propagierten Meinung in den Tageszeitungen, lange nicht jedem geholfen werden. Die ausgewerteten Quellen belegen zudem, dass bei den Schwestern und Pflegern die Arbeitsteilung von Arzt und Pflegepersonal „weitgehend bestehen“ blieb. Wenngleich man an die fachliche Kompetenz des Pflegepersonals große Anforderungen stellte, wurde die Ausbildung während des Krieges nicht anspruchsvoller, die der Hilfskräfte sogar zu Beginn des Krieges verkürzt.
Die Beziehung vor allem der Schwestern zum Patienten war unterdessen durch die Besonderheit geprägt, dass der Patient als „Vaterlandsverteidiger“ gesehen wurde und somit in ihren Augen ein Held war. Die Notwendigkeit eines Krieges stellten die meisten Pflegenden nicht in Frage, da sie sich in einem Verteidigungskrieg glaubten. Mit der Fortdauer des Krieges wurden jedoch vereinzelt Zweifel deutlich, ob ein Krieg solche Opfer rechtfertige.
Der Erste Weltkrieg, dessen Ausbruch sich im Jahre 2014 zum hundertsten Mal jährt, gibt Anlass für eine Fülle von Publikationen, Ausstellungen und Veranstaltungen. Es ist sehr erfreulich, dass dank der Studie von Astrid Stölzle hierzu nun erstmals auch ein fundierter pflegehistorischer Beitrag vorliegt. Die mit einem profunden Anmerkungsapparat ausgestattete Untersuchung ist dabei umso bedeutender, als es sich hierbei um einen bislang sehr wenig beachteten und erforschten Aspekt der Pflegegeschichte handelt.
Bleibt lediglich der Hinweis, dass man sich im Zusammenhang mit den im Text namentlich erwähnten Personen wie Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), Elsa Brandström (1899-1948), Friedrich von Criegern-Thumitz (1834-1895), Julius Disselhof (1827-1896), Henry Dunant (1828-1910), Gustav Feldmann (1872-1947), Elsbeth von Keudell (1857-1953), Georg Körting (1844-1919), Florence Nightingale (1820-1910), Paul Rupprecht (1846-1920) und Kaiserin Augusta Victoria (1858-1921) Hinweise auf die entsprechenden Einträge im – bisher im Umfang von sechs Bänden vorliegenden – von Horst-Peter Wolff (Bände 1-3) und Hubert Kolling (Bände 4-6) herausgegebenen „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte“ (vgl. die Rezensionen unter: www.socialnet.de/rezensionen/11459.php und www.socialnet.de/rezensionen/14183.php) gewünscht hätte.
Trotz der vorliegenden Studie ist das Thema noch keineswegs in allen Fassetten bearbeitet. So weist die Autorin zu Recht darauf hin, dass sie mit ihrer Arbeit bei weitem nicht alle Fragen beantworten konnte, die die Kriegskrankenpflege aufwirft. So sei es mit Blick auf den Ersten aber auch Zweiten Weltkrieg interessant zu wissen, mit welchen Problemen beispielsweise die Heimatpflege, sowohl die militärische als auch die zivile, zu kämpfen hatte. Eine weitere Forschungslücke betreffe die jüdische Krankenpflege im Ersten Weltkrieg. Ebenso seien für die Zeit nach dem Krieg verschiedene Fragen unbeantwortet, wie etwa, was aus den Kriegsschwestern geworden ist, wie sie den Krieg psychisch verarbeitet haben, wie viele von ihnen durch die Kriegsarbeit krank oder gar invalide geworden sind oder ob sie als ehemalige Kriegsschwestern beruflich Vorteile hatten. Hier besteht also weiterhin grundlegender Forschungsbedarf.
Fazit
Mit ihrer Untersuchung „Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg“, in deren Mittelpunkt der Pflegealltag der Etappenschwestern und -pfleger sowie ihre in den Kriegslazaretten gemachten Wahrnehmungen und Erfahrungen stehen, hat Astrid Stölzle ein bislang kaum beachtetes Thema der Pflegegeschichte aufgegriffen und gründlich beleuchtet. Ihrem Buch ist daher weite Verbreitung und eine große Leserschaft zu wünschen.
Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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