Erol Karayaz: Männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund
Rezensiert von Prof. Dr. Claus Melter, 10.02.2014
Erol Karayaz: Männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund. Ergebnisse eigener Untersuchungen und was diese für eine diversitätsbewusste Pädagogik bedeuten können.
BIS-Verlag
(Oldenburg) 2013.
227 Seiten.
ISBN 978-3-8142-2280-6.
17,80 EUR.
Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen
Thema
Über männliche Jugendliche mit türkischem und russischem/polnischem Migrationshintergrund gibt es eine Vielzahl von Vorurteilen und stereotypen Zuschreibungen durch die Mehrheitsgesellschaft. Erol Karayaz untersucht anhand einer quantitativen Studie, in welchem Umfang und in welcher Weise 220 Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund und 220 Jugendliche aus Polen und den GUS-Staaten/Russland im Vergleich zu 220 männlichen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund Zuschreibungen und Diskriminierung erleben, wie sie mit diesen Erfahrungen umgehen und wie sie sich und ihre Lebensverhältnisse einschätzen.
Aufbau
Nach der Einleitung und einer Kurzgeschichte „Papa, Charly hat gesagt…“, mit der die Kontinuität des Verleugnens rassistischer Praxen in Deutschland seitens angeblich kritischer Personen dargestellt wird, folgt im Kapitel zu „gegenstandsbezogenen Theorien und Begriffen“ (vgl. S. 23-72) eine Auseinandersetzung mit Rassismustheorien und Kulturverständnissen; z.B. Kultur verstanden als wandelbare und historisch sowie lokal zu verortende Handlungspraxen in Machverhältnissen (vgl. S. 28-31). Zudem werden Bourdieus Unterscheidung verschiedener Kapitalarten, Connels Theorie hegemonialer Männlichkeit sowie Ergebnisse der Forschungen zu Jugendlichen und zu institutioneller Diskriminierung und Rassismus im Bildungssystem dargestellt und zentrale theoretische Aspekte zusammengefasst.
Im zweiten Kapitel werden Forschungsergebnisse zu männlichen Jugendlichen mit (und ohne) Migrationshintergrund dargestellt, z.B. die PISA-Studien, Forschung zu erlittener und ausgeübter Gewalt sowie zu Rassismuserfahrungen und deren (De-)Thematisierung in den Medien, Bildungseinrichtungen, Politik und Sozialer Arbeit (vgl. S. 73-104).
Nach Überlegungen zu rassismuskritischer, gender- und diversitätsbewusster Pädagogik im dritten Kapitel (vgl. S. 105-102) wird im vierten Kapitel ausführlich das Forschungsdesign mit Erhebungs-, Analyse- und Auswertungsmethoden präsentiert (vgl. S. 113-124).
Im fünften Kapitel werden detailliert und nachvollziehbar die Ergebnisse, auch mittels vieler Grafiken, dargestellt und interpretiert (vgl. S. 125-174). Abschließend erfolgen ein ausführliches Fazit (vgl. S. 175-178), die Literaturliste und der Anhang mit dem verwendeten Fragebogen.
Inhalt
Nach der Darstellung der theoretischen Zugänge aus Migrations-, Jugend-, Migrations- und Diskriminierungs-/Rassismusforschung werden im empirischem Teil die Ergebnisse der quantitativen Befragung von 660 Jugendlichen und jungen Männern mit und ohne Migrationshintergrund zu ausgewählten Bereichen vorgestellt. Themen waren u.a.
- Sprachkompetenz der jungen Männer mit Migrationshintergrund
- Elementarbildung und Unterstützung in der Schule
- Zugehörigkeiten
- interaktive, institutionelle und strukturelle Diskriminierungserfahrungen
- ausgeübte Gewalt/erlebte Gewalt
- Vorstellungen und Bilder in Verbindung mit Geschlechterverhältnissen
- Wirkung von Vorstellungen zu ‚Männlichkeiten‘
- Zwangsverheiratung
- Vorstellung zur ‚Stellung der Religion‘ und zur ‚Stellung der Frau‘.
Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass männliche Jugendlichen und junge Männer mit Migrationshintergrund – so berichten sie – vielfache Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen machen und diese im Vergleich zu jungen Männern ohne Migrationshintergrund signifikant häufiger vorkommen. So müssen sich die Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Alltag systematisch mit den dominierenden Negativbildern, die in der Mehrheitsgesellschaft über männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund verbreitet werden, auseinandersetzen, auch in der Schule.
Karayaz weist darauf hin, dass die deutsche Sprache im medialen und politischen Diskurs stets als grundlegend für das Zusammenleben und die so genannte „Integration“ dargestellt und als zentraler Schlüssel für Bildungs- und Arbeitsmarkterfolg angesehen wird. Wenn die Menschen mit Migrationshintergrund die deutsche Sprache einigermaßen beherrschen würden, dann könnte die „Integration“ funktionieren. In der Untersuchung wird anhand der Fragen zur Sprache deutlich, dass ein großer Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund berichtet, die deutsche Sprache gut zu beherrschen und diese gerne zu sprechen. Gleichzeitig machen sie vielfach die Erfahrung, dass sie in der Schule ihre nicht-deutschen Herkunftssprachen nicht sprechen dürfen und als „Andere“ angesehen und abgewertet werden. Die Schule in der Bundesrepublik Deutschland – faktisch ein Einwanderungsland – hat, so Karayaz in Anschluß an Gogolin, immer noch einen starken monolingualen Habitus. Aus den Antworten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird deutlich, dass sie ausreichend Möglichkeiten zum Deutsch-Lernen gehabt zu haben und diese auch genutzt haben. Dies hat sie jedoch nicht vor ausgrenzenden und diskriminierenden Situationen, die sie systematisch erlebt haben, geschützt.
Eine weitverbreitete gesellschaftliche Vorstellung – so Karayaz mit Bezug auf aktuelle Studien – ist, dass die männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu spät mit dem ‚wirklichen‘ Leben in der Bundesrepublik in Berührung kommen oder viel zu spät erkennen, dass es Regeln gibt, an denen sie sich halten müssen. Nicht selten werden sie von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft als ‚kleine Paschas‘ wahrgenommen. Auch hierzu wurden die Jugendlichen befragt. Die meisten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund geben an, einen Kindergarten besucht zu haben und die sogenannten „deutschen“ Lebensgewohnheiten, Regeln und Lebensweisen früh kennengelernt zu haben und weitestgehend dementsprechend zu leben.
Im Leben der befragten Jugendlichen spielen Aspekte institutioneller Diskriminierung eine erhebliche Rolle. Die männlichen Jugendlichen wurden danach gefragt, ob und welche Unterstützung sie durch Lehrkräfte bekommen haben. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund gaben mit fast 20 % an, dass sie keine richtige Förderung durch Lehrkräfte erfahren haben. So kann gefragt werden, wie diese Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu „Anderen“ gemacht werden und sie signifikant in der Schule weniger Unterstützung erfahren als Jugendliche ohne Migrationshintergrund (hier liegt der vergleichbare Wert lediglich bei ca. 6 %).
Die Jugendlichen wurden auch zu ihren Zugehörigkeitsgefühlen sowie zur Aufnahmebereitschaft und Offenheit der Mehrheitsgesellschaft befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheitsgesellschaft noch offener und toleranter sein muss, um den Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein Gefühl von gleichberechtigter Zugehörigkeit zu geben.
Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die verschiedenen Formen von Diskriminierung. Auch hier gibt es bedeutsame Unterschiede zwischen den Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund: Jugendliche mit Migrationshintergrund machen zu einem großen Anteil verschiedene Diskriminierungserfahrungen – etwa die Hälfte von ihnen gibt an, die nachgefragten Diskriminierungssituationen erlebt zu haben und diese als belastend zu empfinden. Jugendliche ohne Migrationshintergrund erleben nur in Ausnahmefällen solche Situationen. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund schildern den Eindruck, dass sie in Bezugnahme auf ausgewählte äußere Merkmale, die nicht den Vorstellungen in breiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft über ‚Standarddeutsche‘ entsprechen, als „Andere“ und als „nicht-dazugehörig“ wahrgenommen und in stereotype Schubladen gesteckt werden. Darauf verweist auch das signifikant unterschiedliche Antwortverhalten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund bei den Fragen zu der Differenz in der Selbst- und Fremdwahrnehmung und der Eindruck, dass andere – den einzelnen Jugendliche unbekannte Menschen – häufig Vorurteile gegenüber ihnen haben. Es sind die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die zu deutlich größeren Anteilen berichten, dass andere Menschen sie nicht so wahrnehmen, wie sie sich selbst sehen.
Bei der Lektüre der Ergebnisse kann der Gedanke aufkommen, ob vor allem die Mehrheitsangehörigen so ‚einfach gestrickt‘ und nur auf das Äußerliche fokussiert sind oder ob ‚Selbstverständlichkeiten der Privilegierung von Herkunftsdeutschen ohne Migrationshintergrund‘ als vorherrschende ‚Normalitäten‘ verteidigt werden.
In der Öffentlichkeit werden Diskriminierungserfahrungen oft nicht beachtet. Was in der Regel im Vordergrund steht, ist das Bild von gewaltbereiten und gewalttätigen jungen Männern mit Migrationshintergrund. Auf der Seite der stereotypen Zuschreibungen scheinen diese auch vergeschlechtlichen Bilder in der Mehrheitsgesellschaft und damit indirekt auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu wirken: Männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund machen, so zeigt die Studie von Karayaz, zu einem deutlich größeren Anteil bestimmte Diskriminierungserfahrungen als weibliche Jugendliche mit Migrationshintergrund – so zeigt der Vergleich u.a. mit der Studie „Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund“ von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaşoğlu (2006).
Gleichzeitig bieten die Ergebnisse der Studie von Karayaz keine Indizien, die die medialen Bilder gewalttätiger und traditioneller Migrantenjugendliche bestätigen könnten. Im Gegenteil. Die Jugendlichen wurden nach ihren eigenen Gewalthandlungen und Gewalterfahrungen befragt. Und es lassen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den drei befragten Gruppen feststellen. Die Vorstellung, dass die Jugendlichen mit Migrationshintergrund erst durch oder wegen eigener Gewalttätigkeit Diskriminierung erfahren, also gewissermaßen ‚selbst schuld‘ sind, erscheint vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse als sehr unangemessen. Bei der Frage zur Stellung der Frau innerhalb der Familie findet man bei allen befragten drei Gruppen (zwei Gruppen mit und eine ohne Migrationshintergrund) ein sehr ähnliches Bild und keine signifikanten Unterschiede. Einzig die Frage nach der Wahl des Ehepartner/der Ehepartnerinnen zeigt, dass eine kleine Minderheit von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund traditionellere Vorstellungen der Partnerinnen-/Partnerwahl hat. Allerdings gibt auch hier eine große Mehrheit (ca. 70 %) an, es nicht gut zu finden, wenn die Eltern die Partnerin/den Partner aussuchen, und nur sehr wenige (ca. 6 %) können sich dieses ‚Modell‘ für ihre eigene zukünftige Ehe vorstellen. Trotzdem gibt es einen signifikanten Unterschied gegenüber den beiden anderen Vergleichsgruppen: Dort ist es jeweils nur eine kleine Minderheit, die diese Position vertritt. Die traditionelleren Vorstellungen der kleinen Minderheit bei Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund lassen sich möglicherweise damit erklären, dass diese jungen Menschen tendenziell exkludiert sind, ihre eigenen Eltern einen wichtigen Schutzraum bieten und zudem die potentiellen Partnerinnen/Partner in der ‚eigenen‘ Gruppe gesucht werden sollen, wobei den Eltern zugetraut wird, in dieser ‚feindlichen‘ Welt ‚die Richtige‘ auszuwählen.
Ausgehend von der verbreiteten Annahme, dass die islamische Religion die Frau unterdrückt, wird in der Arbeit auch der Frage nachgegangen, wie die Befragten diesbezüglich die verschiedenen Religionen einschätzen. Eine Mehrheit der jungen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund (52,9 %), geht davon aus, dass die Frau in ihrer Religion gleichwertig zu sehen ist, wie in allen anderen Religionen auch. Die Fragen zur Religion machen auch deutlich, dass Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund entgegen vieler verbreiteter Negativ-Bilder keine fanatischen oder radikalen Vorstellungen haben. Die Befunde dieser Untersuchung sind hier geradezu unauffällig und wenig spektakulär.
Diskussion
Es handelt sich um eine Arbeit, die in Bezug auf die Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund eindrücklich die Erfahrungen alltäglicher Diskriminierung und von Formen des Rassismus zeigen. Die gesellschaftliche und pädagogische Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird deutlich aufgezeigt. Die Ergebnisse sind transparent und nachvollziehbar dargestellt, so dass die Leser_innen die Interpretationen teilen oder ihnen widersprechen können. Im Theorieteil hätten die theoretischen Ansätze noch vertiefter verbunden und in Kapitel 5 die Forschungsergebnisse mit den Resultaten anderer Studien intensiver verglichen werden können. Die unkommentierte Verwendung des N-Wortes und das unkommentierte Kant-Zitat, welcher ja vielfach rassistische Positionen vertrat, erscheinen veränderungswürdig.
Es handelt sich jedoch um eine insgesamt schlüssige und inspirierende Arbeit, die durch seine kritischen Kommentierungen und Ideen zum Nachdenken anregt.
Fazit
In dieser Arbeit von Erol Karayaz wird sehr deutlich, dass die Mehrheitsgesellschaft junge Menschen mit Migrationshintergrund auf verschiedene Weise ausgrenzt und in verschiedenen Bereichen diskriminiert. Auf überzeugende Weise werden Handlungsnotwendigkeiten und das Leidvolle von Diskriminierungserfahrungen dargelegt. Trotz kleiner Schwächen handelt es sich um ein eindrucksvolles und lesenswertes Buch, das sich sowohl an Studierende, Lehrende und Politikerinnen/Politiker als auch an Nicht-Fachleute richtet, die sich für Migrations- und Diskriminierungsthemen interessieren.
Rezension von
Prof. Dr. Claus Melter
Hochschule Bielefeld, Arbeitsschwerpunkte diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Krankenmorde in Bethel im Nationalsozialismus, Koloniale Völkermorde in Tanzania und Namibia.
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Es gibt 17 Rezensionen von Claus Melter.
Zitiervorschlag
Claus Melter. Rezension vom 10.02.2014 zu:
Erol Karayaz: Männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund. Ergebnisse eigener Untersuchungen und was diese für eine diversitätsbewusste Pädagogik bedeuten können. BIS-Verlag
(Oldenburg) 2013.
ISBN 978-3-8142-2280-6.
Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen
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