Gerd Meyer: Mut und Zivilcourage
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 08.05.2014

Gerd Meyer: Mut und Zivilcourage. Grundlagen und gesellschaftliche Praxis. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 275 Seiten. ISBN 978-3-8474-0172-8. D: 26,90 EUR, A: 27,70 EUR, CH: 37,00 sFr.
Autor
Bis zu seiner Emeritierung 2007 war Gerd Meyer Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Er ist ein ausgewiesener Russland- und Ostmitteleuropa-Experte. Auch die Zivilcourage-Forschung ist einer seiner Arbeitsschwerpunkte. Seit den 1990er Jahren legt er regelmäßig fundierte Publikationen über die Themen Sozialer Mut und Bürgerengagement vor. Der von ihm und Siegfried Frech herausgegebene Sammelband „Zivilcourage. Aufrechter Gang im Alltag“ wurde 2013 bei socialnet besprochen (www.socialnet.de/rezensionen/14157.php).
Was ist Zivilcourage?
Ziviler, also nicht-militanter, bürgerlicher Mut? Bürgermut? Wutbürgermut? – Das Buch gebiert in vielen Anläufen immer wieder neue Definitionen. Will man einen gemeinsamen Nenner versuchen, könnte man sich vermutlich auf folgende Begriffsbestimmung einigen, die freilich fachsprachlich voraussetzungsreich ist: Zivilcourage ist ein humanistisch und altruistisch motiviertes prosoziales Handeln in riskanten öffentlichen Notfall- und Unrechts-Situationen, das sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich der Mittel der gewaltfreien Intervention bedient. Wer Zivilcourage übt, will nicht nur andere in konkreten Notlagen helfen, sondern auch seine Selbstachtung wahren und nicht als Feigling und Drückeberger in Erscheinung treten.
Mehr als individuelle Hilfe
Darüber hinaus ist Zivilcourage eine sozialmoralische Bürgertugend in der Demokratie. „Demokratie ist aus Zivilcourage entstanden … Zivilcourage ist die demokratische Tugend par excellence. Was für eine Diktatur als Bedrohung empfunden wird, ist für die Demokratie Lebenselixier: Courage, Wachsamkeit, Kritik, Widerspruch, Abweichung, Unbequemlichkeit.“ (S. 17; S. 155)
Andere Begriffe für Zivilcourage sind „sozialer Mut“ und „ziviler Ungehorsam“.
Das gesellschaftliche Ideal der Zivilcourage ist die „caring society“ der gegenseitigen Rücksichtnahme und Hilfe. (vgl. S. 57)
Was fördert, was hindert Zivilcourage?
Vier Gruppen von Einflussfaktoren werden ausführlich erörtert: personale, soziale, situative Faktoren und gesellschaftliche Kontexte; letzteres meint: Wie erwünscht ist oder wie ungelegen kommt Zivilcourage der Gesellschaft. „Wollen die Mächtigen überhaupt Widerspruch und aufrechten Gang?“ (S. 195)
Ein besonders erklärungsbedürftiges Phänomen im Zusammenhang dieses Kapitels ist das „Non-helping-Bystander-Verhalten“. Dass bei Unfällen und Überfällen „alle gaffen und keiner hilft“, führte zu der Frage nach der Aktivität der Nichtstuer. Anwesende Zeugen, die nicht eingreifen und nur „gaffen“, sind keineswegs lethargisch und tatenlos, sondern äußerst aktiv, denn sie stiften eine fatale Dreieinigkeit der Passivität: Dadurch, dass niemand in Aktion tritt, vermittelt sich den Anwesenden der Eindruck, der Vorfall sei nicht besonders gravierend: „Plurale Ignoranz“ wird gestiftet. Da niemand etwas macht, fragt sich der Einzelne, warum sollte gerade ich aus der Menge hervortreten – und nicht mein Nachbar: eine „Diffusion von Verantwortung“ wird gestiftet. Zudem hemmt den Einzelnen eine diffuse „Bewertungsangst“, sich zu exponieren und etwas zu tun; schließlich könnte er sich vor den Gaffern, den Juroren seines Eingreifens, ja blamieren: eine „Blamageangst“ wird gestiftet. (vgl. S. 48 f)
Wer die Hemmfaktoren der Ignoranz, Verantwortungsdiffusion und Blamageangst kennt, weiß zugleich auch, wo er pädagogisch ansetzen muss, um die Interpassivität der Bystanders in eine hilfreiche Interaktivität zu überführen.
Whistleblowing
Im Kapitel „Zivilcourage am Arbeitsplatz“ geht es vor allem um die Insider-Courage gegen unfaire, widergesetzliche und ungerechte Vorgänge in Betrieben, Verbänden und Organisationen. Der Name „Whistleblowing“ hat sich dafür eingebürgert. Wie es scheint, bringt erst ein Betriebsklima der Doppelmoral den Whistleblower hervor: „Man postuliert eine Streit- und Konfliktkultur, aber de facto darf nichts Kritisches gegenüber dem Chef … geäußert werden. Man fordert zwar eine Fehler- und Lernkultur, de facto aber werden Fehler unter den Teppich gekehrt…“ (S. 119) In diesem bigotten Klima weiß sich der Whistleblower nicht anders zu helfen als mit den internen Missständen an die Öffentlichkeit zu gehen, um von den einen als „Verräter“ gescholten und von den anderen als „Held“ gefeiert zu werden. Das Buch ergreift eindeutig Partei für die „Scandalizers“ und „Policy-Dissenters“, wie die Pfeifenmänner auch genannt werden: „Den mutigen Einzelnen, die dafür so große Risiken auf sich nehmen, gebührt nachhaltiger Respekt und öffentliche Solidarität.“ (S. 154) – Nun ja, an Zuspruch und Unterstützern fehlt es dem derzeit weltberühmtesten Whistleblower nicht. Aber hilft es Edward Snowden in seinem Moskauer Exil?
Mut in der Politik
Mut in der Politik zeigt, wer sich weigert, Missstände schön zu reden und Fehler zu vertuschen. Mut in der Politik beweist, wer dem Druck von Lobbyverbänden und Partikularinteressen standhält. Der politische Mut wird zur politischen Zivilcourage, wenn der Politiker als einzelner und einziger der Mehrheit in Partei und Fraktion widerspricht. „So handelt es sich um Zivilcourage, wenn ein Minister in einer wichtigen Frage eine Position gegen die Regierungsmehrheit vertritt… Der couragierte Politiker riskiert einen offenen Konflikt und hat dabei Wichtiges zu verlieren, z. B. Amt bzw. Mandat…, Karriereaussichten…, mediale Präsenz und Aufmerksamkeit.“ (S. 160) – Im Allgemeinen aber gilt: Politiker rufen zwar gern zur Zivilcourage auf, zeigen diese selbst aber nur selten. (vgl. ebd.)
Kann man Zivilcourage lernen?
Welche Möglichkeiten haben Erziehung, Unterricht und Training, um Menschen mutig und zivilcouragiert zu machen? Ist Mut nicht eine „Tugend“, die man hat oder nicht hat? Nein, sagt Meyer mit Kant, sie ist eine „moralische Stärke“, die erworben und kultiviert werden muss. (vgl. S. 227) Das ist ein komplexer Er- und Beziehungsprozess. Direktes Training von personalen und sozialen Kompetenzen, von Know-how und „Eingreifregeln“ hilft nur oberflächlich weiter. Eine moralische Empowerment-Erziehung von klein auf scheint der Königsweg zu sein. Zu sozialem Mut erzieht, wer zu Selbstvertrauen (Ich-Stärke), Gerechtigkeitssinn und Lebenslust erzieht. Selbstbewusste Menschen mit einem gesunden Einfühlungsvermögen und einer positiven Einstellung zum Leben wagen das Risiko der Zivilcourage eher als Unsichere und Resignierte. Im Übrigen gilt: Leibhaftige Vorbilder vorgelebter Zivilcourage im Familien- und Freundeskreis sind wichtiger als alle guten Ratschläge.
Schlüssiges und Fragwüdiges
Ein Mann, der ein geübter Schwimmer ist, rettet ein ertrinkendes Kind aus dem See. Das sei eine anerkennenswerte Hilfe, meint das Buch, aber Zivilcourage sei das nicht. Warum? Weil der Retter kein persönliches Risiko eingehe. (vgl. S. 20) – Das ist durchaus schlüssig!
Der Sohn, der im Familienkreis die tabuisierte außereheliche Sexualität seines Vaters zur Sprache bringen will, handle zivilcouragiert. (vgl. S. 108) Vorher haben wir gelesen, dass der Schauplatz von Zivilcourage immer der öffentliche Raum, die Öffentlichkeit sei; hier aber spielt sich das Geschehen im privaten Familienkreis ab. – Das ist fragwürdig!
Einige weitere Malheurs des Buches hätten durch ein aufmerksames Lektorat verhindert werden können. Drei Beispiele: Roberto Saviano habe „Bücher über die Gomorrha“ geschrieben (S. 158) – Sollte es neben den drei bekannten Organisationen der italienischen Mafia noch eine vierte geben? Das „Hambacher Fest“ wird auf das Jahr 1830 statt 1832 datiert (S. 163). Die Sozialwissenschaftlerin Sandra Legge wird Leggewie genannt. (S. 188)
Manches überrascht
Dem Autor fällt auf, dass sich Ältere oft beherzter für andere in Not- und Bedrohungssituationen einsetzen als Jüngere. Das führt ihn zu der Frage, ob es vielleicht eine besondere „Freiheit des Alters“ gebe. Folgendermaßen führt er seine Überlegung aus: „Einige Ältere, Politiker zum Beispiel, die nun keine Rücksicht mehr nehmen oder Angst vor Nachteilen haben müssen, äußern sich manchmal viel offener, kritischer und ‚radikaler‘ als früher im Beruf über Mängel und Versagen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.“ (S. 51) – Das mag wohl so sein, wenn man beispielsweise an ehemalige Bundespolitiker wie Heiner Geißler und Jürgen Todenhöfer denkt. Aber widerspricht nicht diese Form des „Gratismuts“ dem Begriff der Zivilcourage?
Fazit
Der alltägliche Mut und die alltägliche Zivilcourage stehen im Mittelpunkt des Buches: „Zivilcourage ist nicht nur in Not- und Bedrohungssituationen gefragt … Der größte Teil des sozialen Lebens spielt sich im gewaltfreien Alltag ab: In Betrieben und Verwaltungen, in sozialen und Bildungseinrichtungen, in Kirchen, Vereinen und Parteien. Hier entwickeln sich oft Machtstrukturen, Konflikte und Problemlagen, die oft eine gehörige Portion Zivilcourage verlangen, wenn man gegen den Widerstand der Mehrheit oder der Mächtigen etwas verändern oder durchsetzen will.“ (S. 246)
Vor uns liegt ein außerordentlich facettenreiches und systematisches Buch zum Thema Zivilcourage, in dem ein Aspekt allerdings gar nicht vorkommt: Was bedeutet Zivilcourage für die, denen sie zugute kommt? Wie ist die Perspektive derer, denen beigesprungen und geholfen wird? Gibt es in Not- und Bedrohungssituationen – man wagt es kaum auszusprechen - nicht auch eine gewisse „Bringschuld“ des Opfers, und sei es nur, dass es laut um „Hilfe“ ruft, solange es das noch kann? Damit würde es für die Tatzeugen die Situation „eindeutig“ und das beherzte Eingreifen – ob direkt oder indirekt – fast unumgänglich machen.
Insgesamt scheint die vorliegende Arbeit die Summe der jahrzehntelangen Beschäftigung des Autors mit dem Thema Zivilcourage zu sein. Ein reichhaltiges Werk, eine Fundgrube!
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 08.05.2014 zu:
Gerd Meyer: Mut und Zivilcourage. Grundlagen und gesellschaftliche Praxis. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2014.
ISBN 978-3-8474-0172-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16453.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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