Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Silke Baer, Kurt Möller et al. (Hrsg.): Verantwortlich Handeln (rechtsextrem orientierte Jugendliche)

Rezensiert von Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert, 02.02.2015

Cover Silke Baer, Kurt Möller et al. (Hrsg.): Verantwortlich Handeln (rechtsextrem orientierte Jugendliche) ISBN 978-3-8474-0173-5

Silke Baer, Kurt Möller, Peer Wiechmann (Hrsg.): Verantwortlich Handeln. Ansätze der Sozialen Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 250 Seiten. ISBN 978-3-8474-0173-5. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,00 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Entstehungshintergrund

Die Herausgeber_innen betonen, dass die vorliegende Publikation – im Unterschied zu den zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Rechtsextremismus, die aktuell auf dem Buchmarkt Konjunktur hätten – den Fokus auf Erfolg versprechende Praxen Sozialer Arbeit im direkten Umgang mit rechtsextrem orientierten und gefährdeten Jugendlichen setzt. Die Beiträge über adressat_innenbezogene Angebote, praxisrelevante Konzepte und Fortbildungen werden in diesem Sammelband sowohl von praktisch als auch wissenschaftlich tätigen Autor_innen verfasst, darin spiegelt sich das besondere Ergebnis einer gelungenen Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft.

Aufbau

Die Publikation besteht aus einer kurzen Einleitung der Herausgeber_innen und 24 Beiträgen von insgesamt 31 Autor_innen in folgender Struktur:

  1. Rechtsextremismus – die Problematik und ihr pädagogisches Handlungsfeld (2 Beiträge)
  2. Praxisansätze der Sozialen Arbeit mit rechtsextrem orientierten und gefährdeten Jugendlichen in zentralen Arbeitsfeldern
    • Arbeitsfeld: Jugendbildung und schulbezogene Präventionsarbeit (4 Beiträge)
    • Arbeitsfeld: Jugend-, Straffälligen- und Familienhilfe (4 Beiträge)
    • Arbeitsfeld: Offene Jugendarbeit (3 Beiträge)
    • Arbeitsfeld: Aufsuchende Arbeit (4 Beiträge)
  3. Handlungsorientierte Ansätze in aktuellen Problembereichen (3 Beiträge)
  4. Strukturbedingungen für erfolgreiche Arbeit (3 Beiträge)
  5. Konklusio (1 Beitrag)

Inhalt

In der Einleitung beschreiben die Herausgeber_innen ihren Schwerpunkt der direkten Bezugnahme auf die Jugendlichen und formulieren zahlreiche Fragen, die ihrer Arbeit und der Publikation zugrunde liegen: Wird die Soziale Arbeit mit rechtsextrem orientierten bzw. gefährdeten Jugendlichen dem Problem an sich gerecht? Ist sie hinreichend auf aktuelle Erkenntnisse über Rechtsextremismus bezogen? Wo fangen rechtextreme Orientierungen bzw. Gefährdungen an? Werden die Chancen der möglichen Einflussnahme von pädagogischen Ansätzen und Sozialer Arbeit überschätzt, da wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun haben? Innerhalb welcher Arbeitsfelder ist Soziale Arbeit, in welcher Weise und mit welchen Erfolgsaussichten sinnvoll? Welche Rahmenbedingungen sind notwendig? Auf diese Fragen werden in den hier versammelten Beiträgen sehr differenzierte Antworten gegeben.

Schwerpunkt des ersten Kapitels sind zwei grundlegende Beiträge zum Thema ‚Rechtsextremismus und Soziale Arbeit‘. Beate Küpper und Kurt Möller nehmen Begriffsklärungen zu Rechtsextremismus und ‚Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ vor und stellen empirische Befunde und Erklärungsansätze zur Verbreitung rechtsextremer Einstellungen und Verhaltensmuster vor. Sie plädieren abschließend für eine differenzierte und umfassende Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, bei dem es sich nicht um „ein typisches Jugendproblem“ handele. Entsprechend brauche eine erfolgversprechende Jugendarbeit bzw. Soziale Arbeit zuträgliche politische Rahmenbedingungen, um ihre Potentiale entfalten zu können. Silke Baer fragt in ihrem Beitrag „Pädagogische Zugänge in der Rechtsextremismusprävention und Intervention – Entwicklungen und Standards in Deutschland und Europa“, wie man eigentlich mit rechtsextrem orientierten Menschen arbeitet und wie man sie erreicht, welche Zugänge und Ansätze Erfolg versprechen und bis zu welchem Radikalisierungsgrad diese Arbeit Sinn macht. Sie bilanziert die Erfahrungen mit dem AgAG Programm (Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, 1992-1996), das vom Bundesjugendministerium 1992 als Reaktion auf die Ausschreitungen gegen Migrant_innen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda ins Leben gerufen wurde. Die AgAG-Projekte gerieten unter der Stichwort „Glatzenpflege auf Staatskosten“ massiv in die Kritik, das Scheitern des Programms wurde, so Baer „fälschlicherweise mit einem Scheitern des ‚akzeptierenden Ansatzes‘ gleichgesetzt“. Damit sei die Komplexität von Interventionsansätzen aus dem Blick geraten, die sowohl akzeptierende als auch konfrontierende Elemente benötigen, sowie auch bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen und sozialpädagogische Rahmenbedingungen. Im Jahr 2001 beginnt eine neue Ära der Rechtsextremismusprävention, „weg von den bösen Buben, hin zur zivilgesellschaftlichen Förderung“ so Baer. Gleichzeitig konstatiert sie eine finanzielle und pädagogische Unterversorgung in der Jugendarbeit, vor allem in ländlichen Regionen der ostdeutschen Bundesländer. So lautet ihr Fazit, dass es sowohl um Prävention und zivilgesellschaftliche Stärkung einer demokratischen Gesellschaft gehe als auch um die Unterstützung einer professionellen sozialpädagogischen Präventions- und Interventionsarbeit mit rechtsextrem orientierten und gefährdeten Menschen. Sie stellt vor dem Hintergrund einer Einteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention vor, wie entsprechende Maßnahmen und Zielgruppen aufeinander abzustimmen sind. Silke Baer diskutiert pädagogische Zugänge wie akzeptierende Jugendarbeit, konfrontative Pädagogik, subversive Verunsicherungspädagogik sowie biografisch-narratives Arbeiten und formuliert zusammenfassen wichtige Rahmenbedingungen für die Soziale Arbeit.

Im 2. Kapitel werden zahlreiche arbeitsfeldspezifische Ansätze vorgestellt. Für das Arbeitsfeld „Jugendbildung und schulbezogene Präventionsarbeit“ sind das Beiträge zur Jugendkultur- und Bildungsarbeit (Silke Baer, Peer Wiechmann) und zur Schule (Regina Bossert) sowie geschlechterreflektierende (Heike Radvan, Esther Lehnert) und männlichkeitskritische Ansätze (Andreas Hechler). Unter der Überschrift „Zwischen Prävention und Intervention: Jugendkultur- und Bildungsarbeit“ stellen Silke Baer und Peer Wiechmann den zivilgesellschaftlichen und jugendkulturellen Ansatz von Cultures interactive e.V. (CI) vor. Neben einer lebensweltlich orientierten politischen Bildungsarbeit und vielfältigen Jugendkulturworkshops geht es in der Arbeit um intensiv-pädagogische Projekte einer sozial-therapeutischen Gruppenarbeit. Sie haben begonnen einen ‚Time-Out-Bereich‘ mit einem kleinen Interventionsteam auf Veranstaltungen einzurichten, für Jugendliche, die durch destruktives Verhalten, durch zynische, ideologische und menschenverachtende Provokationen die Durchführung von Workshops oder Projekten an Schulen belasten. In dem Beitrag schildern die Verfasser anschaulich die Vorgehensweise des Interventionsteams: mit Geschichten aktivieren und möglichen konfrontativ Zugängen werden die hohen Anforderungen an die pädagogische Arbeit in den Time-Out-Teams verdeutlicht.

Den Arbeitsfeldern der „Jugend-, Straffälligen- und Familienhilfe“ widmen sich die Beiträge zur narrativen Einzel- und Gruppenarbeit (Michaela Köttig), zur Elternberatung (Torsten Niebling), zur Verantwortungspädagogik im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe (Judy Korn, Thomas Mücke) sowie zu Ausstiegshilfen für Angehörige der rechtsextrem orientierten Szene (Stefan Wesche). Radikalisierungen und Gewalthandlungen im eigenen biographischen Kontext zu erkennen und zu verstehen, als Voraussetzung für eigene Veränderungsprozesse – das ist das Ziel der Arbeit mit jungen Inhaftierten, die Judy Korn und Thomas Mücke in ihrem Beitrag über Verantwortungspädagogik im Strafvollzug vorstellen. Dabei betonen sie eine die Person akzeptierende Arbeitsbeziehung als Grundbedingung um spannungsgeladene Themen überhaupt besprechen zu können. Das vorgestellte Programm beinhaltet ein Gruppentraining in Haft, Übergangsmanagement in der Entlassungsvorbereitung und Stabilisierungscoaching nach der Haftentlassung.

Für das Arbeitsfeld der „Offenen Jugendarbeit“ werden in drei Beiträgen das Verfahren der „Wir unter uns Gruppe“ (Harald Weilnböck), die Jugendclubarbeit (Peter Steger) sowie das „Hako_reJu„: Ein Handlungskonzept für die Offene Jugendarbeit mit rechtsextrem gefährdeten und orientierten Jugendlichen im ländlichen Raum Ostdeutschlands (Peer Wiechmann) vorgestellt. Um auf die prekären Bedingungen der Offenen Jugendarbeit einzugehen wurden in dem Projekt „Hako_reJu“ ein Interventionsplan für einen systematischen Umgang mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen sowie eine Qualifizierungsreihe entwickelt, erprobt und intern evaluiert. Außerdem wurde als eine zentrale Handlungsempfehlung der Aufbau von überregionalen Unterstützungsstrukturen für das professionelle Handeln in der Intervention und Prävention gegen Rechtsextremismus formuliert.

Aufsuchende Jugendarbeit“ wird im urbanen Raum Bremens (Dennis Rosenbaum, Isabell Stewen), im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns (Volker Haase, Michél Murawa, Samuel von Frommanshausen) und Sachsens (Karola Jaruczewski, Enrico Glaser) sowie im Rahmen von Fanprojekten bundesweit (Gerd Dembowski) diskutiert. Dennis Rosenbaum und Isabell Stewen berichten in ihrem Beitrag „Aufsuchende Jugendarbeit mit rechtsextrem und menschenfeindlich orientierten Cliquen im urbanen Raum“ über die konzeptionellen Entwicklungen und Erfahrungen der jahrzehntelangen Arbeit des Bremer Vereins zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit e.V. (VAJA e.V.). Im Zentrum des Beitrags steht die Reflexion der Cliquenbegleitung: aus Cliquenbegleitung resultierende individuelle Hilfen, der Stellenwert von aufsuchender Arbeit in Social-Media-Plattformen als Ergänzung zur Cliquenbegleitung und Beispiele von Cliquenbegleitung im Kontext von anlassbezogener sozialräumlich orientierter Arbeit.

Im Fokus des dritten Kapitels stehen „Handlungsorientierte Ansätze in aktuellen Problembereichen„: medien- und internetgestützte Interventionen im Ansatz der ‚Deradikalisierenden Narrative‘ (Harald Weilnböck), rechtsextreme Eventkultur und gute Interventionen (Gerhard Bücker) sowie Beispiele der Jugendkulturarbeit (Nicola Canio Di Marco, Ralf Mahlich).

Im vierten Kapitel werden die „Strukturbedingungen für erfolgreiche Arbeit“ diskutiert. Hier versammeln sich Beiträge zu den politischen Programmen zur Förderung einer Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen (Kerstin Palloks), zu Problemen und Perspektiven pädagogischer Arbeit gegen Rechtsextremismus (Wilfried Schubarth, Juliane Ulbricht) und zur Aus- und Weiterbildung von Sozialen Fachkräften (Benno Hafeneger, Reiner Becker). Wilfried Schubarth und Juliane Ulbricht verweisen in ihrem Beitrag auf immer wiederkehrende Probleme der pädagogischen Arbeit, die zum strukturell bedingt sind, z. B.: In der Praxis der Mediengesellschaft erhalten Taten und Täter große Aufmerksamkeit, während die pädagogische Arbeit im Schatten des öffentlichen Interesses steht. Durch parteipolitische Interessen werden immer wieder unterschiedliche Schwerpunkte in der Programmförderung gesetzt, so dass keine langfristig gesicherte und pädagogisch begründete Strategie besteht, die kontinuierliches Arbeiten ermöglicht.

In der “Konklusio“ mit dem etwas irritierenden Titel „Gegenstandswissen, Praxis, Strukturen – Welche Erkenntnisse liegen vor, welche Desiderate und Handlungsperspektiven sind Erfolg versprechend?“ fasst Kurt Möller zentrale Ausgangspunkte für eine gesamtgesellschaftliche Problembearbeitung zusammen und formuliert grundlegende Orientierungen für soziale und pädagogische Praxis.

Diskussion und Fazit

Die Publikation bietet einen guten Überblick über aktuelle Handlungsansätze in der Praxis der Sozialen Arbeit mit rechtsextrem orientierten und gefährdeten Jugendlichen. Die Beiträge sind sehr informativ und nachvollziehbar geschrieben. An ganz wenigen Stellen wäre noch etwas mehr Sensibilität im Umgang mit Sprache anzuraten, wenn beispielsweise von „brisanten Jugendlichen“ oder „belasteten Regionen“ die Rede ist.

Insgesamt ist die Veröffentlichung sehr differenziert und hochaktuell, sie ist für Berufspraktiker_innen, Studierende, Lehrende, Eltern, Lehrer_innen und (kommunal-)politische Akteure außerordentlich wichtig, um „verantwortlich zu handeln“.

Rezension von
Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert
Hochschule Mittweida, Fakultät Soziale Arbeit
Website
Mailformular

Es gibt 32 Rezensionen von Gudrun Ehlert.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Gudrun Ehlert. Rezension vom 02.02.2015 zu: Silke Baer, Kurt Möller, Peer Wiechmann (Hrsg.): Verantwortlich Handeln. Ansätze der Sozialen Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. ISBN 978-3-8474-0173-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16462.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht