Anthea Innes: Die Dementia Care Mapping Methode (DCM)
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 05.10.2004
Anthea Innes: Die Dementia Care Mapping Methode (DCM). Erfahrungen mit dem Instrument zu Kitwoods personenzentriertem Ansatz. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2004. 160 Seiten. ISBN 978-3-456-84040-6. 29,95 EUR. CH: 52,50 sFr.
Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension
Zur Thematik des Buches
Ein neues Konzept ist in den Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker in Deutschland eingedrungen - das Modell von Tom Kitwood und das von ihm maßgebend beeinflusste Erhebungsverfahren "Dementia Care Mapping" (DCM). Dieser Ansatz, in den 90er Jahren in Bradford (England) entwickelt, enthält zwei Dimensionen zugleich: ein Modell für den richtigen Umgang mit Demenzkranken und ein Messinstrument zur Überprüfung der Interaktionen mit diesen Personen.
Im vorliegenden Sammelband ist eine Reihe von Beiträgen über verschiedene Aspekte des DCM zusammengetragen. Die Autoren sind überwiegend Anhänger und zugleich auch Anwender dieses Verfahrens.
Inhalt
- Im ersten Abschnitt (Die DCM-Methode) wird u. a. das Erhebungsverfahren eingehend dargestellt. Beim DCM handelt es sich um eine strukturierte Verhaltensbeobachtung Demenzkranker dergestalt, dass über sechs Stunden hinweg alle fünf Minuten das Verhalten bestimmter Bewohner auf der Grundlage von 24 Verhaltenskategorien wie z. B. Essen und Trinken kodiert wird. Zugleich wird auch der Status des Wohlbefindens bei diesen Handlungen mittels einer sechsstufigen Skalierung (von +5 = außerordentliches Wohlbefinden bis -5 = extreme Zustände von Apathie, Wut etc.) aufgezeichnet. Ein dritter Kodierungsrahmen erfasst Momente so genannter Erniedrigung wie z. B. Ignorieren, wobei die Kategorien der so genannten "malignen Sozialpsychologie" nach Kitwood entnommen sind, die als "personale Detraktionen" bezeichnet werden. Hinzu kommt als vierter Kodierungsrahmen die Auflistung positiver Ereignisse im Umfeld des Demenzkranken. Diese Daten werden anschließend ausgewertet und in grafischen Diagrammen übertragen, die den Pflegeteams in so genannten "Feed-back-Sitzungen" teils mit der Auflage unterbreitet werden, Konzepte und Modelle zur Verbesserung der Milieustrukturen zu entwickeln.
- Der zweite Abschnitt (Der Einsatz des DCM zur Verbesserung der Pflegepraxis) enthält u. a. Beiträge über die Verwendung des DCM bei der Pflegeplanung und bei der Personalentwicklung.
- In Abschnitt III (Politik und die Prinzipien des DCM) werden allgemeine Ausführungen über die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Gesellschaft hinsichtlich des Stellenwertes der Alterung und der demenziellen Erkrankungen gemacht.
- Abschnitt IV (Zukünftige Anwendungen des DCM) befasst sich mit u. a. mit der Weiterentwicklung des DCM in Gestalt der 8. Auflage des DCM-Manuals.
Kritische Würdigung
Um dieses Erhebungsverfahren angemessen beurteilen zu können, bedarf es des Rekurses auf die Ideen von Tom Kitwood, die diesem Instrumentarium als Fundierung und Bezugsrahmen zugleich dienen.
Das Demenzkonzept von Tom Kitwood
In wenigen Worten zusammengefasst kann das Demenzmodell von Kitwood in zwei Teilbereiche unterschieden werden: Kritik an dem bestehenden "Standardparadigma" und als Alternative hierzu die "Neue Kultur" der Demenzpflege. Unter dem Standardparadigma versteht Kitwood die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, dass jedwede pathologische kognitive und motorische Dysfunktion gemäß dem Kausalzusammenhang von Hirn und Verhalten auf neuropathologische Prozesse zurückgeführt werden kann. Diese neurowissenschaftliche Sichtweise scheint ihm nicht ausreichend genug, um das Phänomen Demenz erklären zu können. Erst durch die Einfügung des Wirkfaktors Sozialpsychologie in ihrer "malignen" oder "bösartigen" und auch positiven Gestaltungsform in das Konzept Demenz lassen sich nach Kitwood die Symptome und der Verlauf der Erkrankung erklären. Das Konstrukt Sozialpsychologie bildet in seinem Modell den Bezugsrahmen, um einerseits die "neuropathologische Ideologie" (das "Standardparadigma") in Frage zu stellen und zugleich andererseits die Demenz zu "entpathologisieren" gemäß der Annahme, dass letztlich soziale, zwischenmenschliche Kontakte die Symptome und den Verlauf der Demenz entscheidend beeinflussen. Die Kernkategorie bei diesem Verhaltensbezogenen Ansatz besteht aus dem "Personsein", einem sozialphilosophisch konstruierten Identitätsmodell, das für Kitwood den Rahmen zur Erklärung der positiven als auch negativen Prozesse ("Erhalt oder Untergraben des Personseins") bildet. In diesem Kontext entwickelt er seine "Neue Kultur" der Demenzpflege, die aus einem normativen Katalog von Verhaltensempfehlungen und einem eklektizistischen Konglomerat an Konzepten (u. a. der Ansatz der "Transaktionsanalyse") besteht.
Es kann konstatiert werden, dass durch die Vermengung von biologischen, psychologischen, sozialphilosophischen und ethisch-normativen Ansätzen ein Gedankenkonstrukt entstanden ist, das nicht mit den Prinzipien der Kohärenz und Stringenz in Einklang zu bringen ist.
Das DCM-Verfahren
Diese Vermengung verschiedener Seinsbereiche findet sich auch im Erhebungsverfahren DCM wieder: Einerseits werden bloße Verhaltensweisen erhoben (Empirie), andererseits werden zugleich diese Daten auf zweifacher Ebene normativ bewertet (Ethik).
Legitim wäre dieses Vorgehen jedoch nur, wenn ein allgemeingültiges Verhaltensmodell demenzieller Erkrankungen als Bezugsrahmen bestehen würde. Dieses Wissen liegt gegenwärtig noch nicht vor, sodass jede Bewertung noch einen spekulativen Charakter besitzt.
Auswirkungen auf die Demenzpflege
Die fehlende Fundierung des normativen Rahmens des DCM ist wiederum für die Demenzpflege in mehrfacher Hinsicht dysfunktional. Einerseits wird das genuin intuitive und empathische Verhalten der Pflegekräfte wie Ablenken und Beruhigen als "betrügerisches Verhalten" ("Detraktion") diskreditiert und damit negativ im DCM gewichtet. Andererseits wird den Pflegeteams auf so genannten "Feed-back-Sitzungen" teils mittels so genannter "Gruppenwerte" nicht nur vorgeschrieben, wie sie sich in Zukunft zu verhalten haben. Sondern darüber hinaus wird zwischen den Pflegegruppen ein Konkurrenz- und Rivalitätsverhältnis aufgrund unterschiedlicher "Gruppenwerte" aufgebaut. Dass Pflegende dieses Verfahren meist als unangemessen und praxisfern einschätzen, kann in diesem Kontext gut nachvollzogen werden. Denn es werden ihnen nicht nur realitätsferne Verhaltensvorgaben gemacht, die keinen direkten Bezug zu ihrer alltäglichen Arbeit besitzen, sondern es werden ihnen auch ihre effektiven und effizienten Ablenkungs- und Beruhigungsstrategie untersagt, ohne dass bessere Vorgehensweisen offeriert werden.
Fazit
Es kann das Fazit gezogen werden, dass mit dem DCM die Demenzpflege sich in einer Sackgasse befindet. Es gilt jedoch, die Demenzpflege von den vielen gängigen Fehlentwicklungen zu befreien. Andernfalls droht Stagnation und Schaden, sowohl für die Demenzkranken als auch für die Pflegekräfte.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Kommentare
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension von Herrn Sven Lind (Angaben zur Person des Rezensenten am Ende) wurde am 5.10.2004 veröffentlicht. Am 16.1.2005 wurde folgender Kommentar des deutschen Herausgebers des Buches, Herrn Christian Müller-Hergl (Angaben zur Person siehe Ende des Kommentars) veröffentlicht.
Kommentar des Herausgebers der deutschen Ausgabe zur Rezension:
Rezensionen haben die Aufgabe, Leser über Inhalt und Qualität von Literaturen zu informieren. Über das Buch erfährt man in der Rezension von Lind wenig. Er verwendet die Form der Rezension, um seine persönliche Auffassung zum DCM-Verfahren und zum Demenzverständnis Kitwoods darzulegen. Dazu soll hier kurz Stellung bezogen werden:
- Lind bezweifelt die Validität der Demenztheorie, die dem DCM-Verfahren zugrunde liegt. Allerdings ist dieser Zusammenhang sehr viel weniger ausgeprägt, als Kitwood selbst behauptet hat. Da eben genau dieser Zusammenhang im ersten Aufsatz des Buches kritisch beleuchtet ist, kommen einem Zweifel, ob Lind das Buch überhaupt zur Kenntnis genommen hat.
- Kitwoods Theorie ist viel weniger eine Eigenschöpfung als der Versuch, eine Synopse unterschiedlicher Ansätze zur Demenztheorie zusammenzutragen und zusammenzufügen. Kitwood verbleibt dabei im Rahmen bio-psycho-sozial-ökologischer Erklärungsansätze, wie sie seit Anfang der 90er Jahre international Verbreitung gefunden haben. Im Rahmen eines modernen Theorietypus wird auf monokausale Erklärungszusammenhänge verzichtet zugunsten einer Systemtheorie, in der Ursachen unterschiedlicher Ebenen (Neurophysiologie, Umwelt, Beziehungserfahrungen, Persönlichkeit) zugleich Wirkungen darstellen und sich dialektisch aufeinander beziehen. Eben diesem Modell entspricht die Darstellung des Zusammenhangs physiologischer Substrate und Umwelt-, besonders aber Beziehungserfahrungen entsprechend den neusten neuropsychologischen und neuropsychiatrischen Erkenntnissen (vgl J.Bauer, Das Gedächtnis des Körpers; Bessel van der Kolk 1994 & Allan N. Schore 2001 zum Rahmenthema Trauma). Das Rahmenmodell Kitwoods erlaubt es, die ausgeprägte Heterogenität (Cohen-Mansfield 2000) von Erscheinung und Entwicklung von Demenzen zu erklären sowie Möglichkeiten abzuleiten, die Subjektivität und Individualität von Menschen mit Demenz möglichst lange zu erhalten. Was könnte dagegen sprechen? Wohl nur ein „craving for generality“, eine in der Naturwissenschaft längst aufgegebene Idee von Einheitswissenschaft im Sinne der Physikalisten Carnap oder Neurath.
- Man benötigt kein allgemeingültiges Verhaltensmodell demenzieller Erkrankungen, um festzustellen, ob Menschen mit Demenz in Institutionen angemessen gepflegt und betreut werden. Es besteht international Konsens über die wesentlichen Bedingungen, unter denen Umgebung und Beziehung förderlich oder nicht förderlich sind: Beschäftigung, Kontakt- und Beziehungsarbeit, Anregung der Sinne, Humor, Entwicklung förderlicher Rollen, Umgebungsfaktoren, um nur einige zu nennen. Dies ist genauso wenig notwendig, wie man einen Klimakollaps abwarten muss, und endgültig festzustellen, on Umweltverschmutzung wirklich dazu einen Beitrag geleistet haben. Beobachter nehmen auf dem Hintergrund dieser oben genannten Annahmen am Leben von Menschen mit Demenz teil um festzustellen, welche Personen Kontakt erfahren, Beschäftigung erleben, unangemessenem Umweltstress ausgesetzt sind.
- Es ist irrig, dass Verhalten bewertet wird. Ziel der Datenerhebung ist es, Verhalten und Befinden im Kontext stationärer Pflege und Betreuung einzuschätzen (nicht zu messen) und möglichst wertfrei zu beschreiben. Der dabei involvierte subjektive Anteil wird nicht bestritten; ein Netzwerk plausibler Regeln und Maßstäbe, wie sie für Befindlichkeitsbeschreibungen international üblich sind (Mimik, Körpersprache, Atmung, Tonus, Rhythmus etc) geben Hilfestellung, um den subjektiven Anteil in Grenzen zu halten. Dies ist in anderen, vergleichbaren Einschätzungsinstrumenten (Apparent Affect Rating Scale, FACE, QUIS, EBIC) nicht anders und entspricht dem Standard. Eine „ethische Bewertung“ ist eine Erfindung von Herrn Lind.
- Es ist weiterhin falsch, dass in der Rückmeldung MitarbeiterInnen Vorgaben zu Verhalten und Umgang gemacht werden. Hätte Herr Lind das Buch gelesen, müsste ihm an mindestens drei Stellen aufgefallen sein, dass vor eben genau diesem Schritt ausdrücklich gewarnt wird. Der Beobachter trägt seine Daten vor und strebt danach, unter den Teammitgliedern eine Diskussion anzuregen mit dem Ziel, die Betreuung und Pflege zu verbessern. Was das Team hier zu tun beschließt ist dessen Angelegenheit, da diese die Klienten viel besser kennen als der Beobachter. Der Beobachter bringt eine Fremdsicht ein mit dem Ziel, Entwicklungsprozesse im Team anzuregen. Dies gilt auch für die Kodierung der Personalen Detraktionen. Auch diese werden eher in Frageform zurückgemeldet mit dem Ziel, Verhalten gegenüber Klienten zu reflektieren.
- Pflegende fassen die Einschätzungen in der Regel nicht als praxisfern und angemessen ein. Meistens geschieht die Beobachtung und Rückmeldung durch KollegInnen aus Pflege und Betreuung, die den Alltag genau kennen und wissen, wo der Schuh drückt. Wie jedes reflexionsorientierte Instrument ist der Entwicklungskontext der Einrichtung für die Annahme dialogischer, ergebnisoffener Verfahren entscheidend. Sind diese Kontextbedingungen ungünstig, ergeben sich abträgliche Dynamiken wie wir sie aus Fortbildungen und Supervision sehr wohl kennen. Zudem ist die Präsens eines externen Beobachters gewöhnungsbedürftig. In den Bundesmodellprojekten in Main-Kinzig-Kreis und Marburg-Biedenkopf hätte Herr Lind sich eines besseren belehren können, wie auch in einigen Aufsätzen des rezensierten Buches.
Christian Müller-Hergl, Arnold-Böcklin-Str. 27, 44141 Dortmund. Email: herglboecklin27@aol.com
Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 05.10.2004 zu:
Anthea Innes: Die Dementia Care Mapping Methode (DCM). Erfahrungen mit dem Instrument zu Kitwoods personenzentriertem Ansatz. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2004.
ISBN 978-3-456-84040-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1647.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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