Edda Klessmann: Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 25.05.2004
Edda Klessmann: Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben. Die Doppelbotschaft der Altersdemenz.
Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2004.
5., durchgesehe und ergänzte Auflage.
212 Seiten.
ISBN 978-3-456-83551-8.
17,95 EUR.
CH: 31,30 sFr.
Mit einem Beitrag zur stationären Betreuung von Alzheimer-Kranken von Peter Wollschläger.
Zur Thematik des Buches
Die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft führt u. a. auch dazu, dass die Zahl der Demenzkranken ständig zunimmt. Gegenwärtig leben ca. 1 Millionen Demenzerkrankte in Deutschland. Meist werden sie von Angehörigen oft rund um die Uhr gepflegt und betreut. Erst im fortgeschrittenen Stadium überwiegt der Anteil der im Heim versorgten pflegebedürftigen alten Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind. Für die Angehörigen ist die Pflege in der Regel mit immensen physischen und auch psychischen Belastungen verbunden, denn sie müssen nicht nur zunehmend alle Verrichtungen des alltäglichen Lebens wie Ankleiden, Waschen, Nahrung eingeben für die Betroffenen durchführen, sondern sie erleben hautnah tagtäglich den unaufhaltsamen geistigen und körperlichen Abbau.
Von betroffenen Angehörigen sind bereits eine Reihe von Büchern verfasst worden, die sich mit dieser Thematik des Eingebundenseins und Verarbeitens eingehend beschäftigt haben. Das vorliegende Buch kann auch in diese Rubrik "Angehörige von Demenzkranken" eingeordnet werden. Es handelt sich hierbei um die Schilderung einer Tochter, die erstmalig bereits 1990 erschien und nun schon in der fünften Auflage vorliegt.
Die Autorin
Edda Klessmann ist promovierte Kinderärztin mit der Fortbildung zur Psychotherapeutin. Neben ihrer eigenen psychotherapeutischen Praxis hat sie als Leiterin der Familien- , Ehe- und Jugendberatungsstelle des Kreises Lippe in Lemgo gearbeitet.
Inhalt
In Anlehnung an die klassische Gliederung des Krankheitsverlaufes in leicht, mittelgradig und schwer ist das Buch in drei Kapitel unterteilt, die wiederum jeweils in sieben Abschnitte eingeteilt sind, die zusätzlich mit Kommentaren versehen sind.
Im ersten Kapitel mit dem Titel "Erstes Stadium der Alzheimer Krankheit" beschreibt sie die ersten Symptome im Verhalten ihrer Mutter: sie hörte mit ihrem jahrzehntelang gepflegten Hobby der Malerei auf, das altvertraute Stricken gelang nicht mehr, ständig waren Geldbörse und Brieftasche verlegt. Sie vergaß die Wohnungstür zu schließen, die Wasserhähne abzudrehen und den Herd auszustellen. Die Tochter nahm die Mutter, die vorher weit entfernt allein lebte, in das Haus ihrer Familie auf, wo sie einen separaten Teil mit eigener Küche und Bad beziehen konnte.
Das folgende Kapitel mit dem Titel "Zweites Stadium" enthält die wachsenden Schwierigkeiten in der Betreuung der Mutter: die nächtliche Unruhe, die Harn- und Stuhlinkontinenz , die erforderlichen Hilfestellungen beim Aufstehen, Ankleiden, Waschen und Essen. In dieser Phase sind die Tochter und auch ihr Ehemann am Ende ihrer Kräfte, so dass eine Heimeinweisung in die Wege geleitet wird. Ausführlich werden die anfänglichen Schwierigkeiten der Eingewöhnung in den Heimalltag beschrieben. Es wird auch von der einfühlsamen Pflege und Betreuung der Pflegekräfte berichtet, die über jahrelange Erfahrungen im Ungang mit Demenzkranken verfügen und daher recht umsichtig und gelassen auf die vielen Konfliktsituationen reagieren.
"Drittes Stadium" bezeichnet die Autorin das letzte Kapitel, in dem sie den zunehmenden körperlichen Verfall aufzeichnet. Ein kleiner Schlaganfall, die Gangunsicherheit, die Schwäche und der Kräfteverlust werden registriert. Durch die ständige Bettlägerigkeit entstehen Druckgeschwüre (Dekubitus). Auch das Reden hat die mittlerweile 90jährige verlernt, die Kontaktaufnahme vollzieht sich zusehends über Berührungen und Streicheln. Die Tochter berichtet aufrichtig, wie schwer ihr nun die Besuche fallen. Die abschließenden Ausführungen haben das Sterben und Abschiednehmen zum Inhalt.
Anhangartig folgen noch mehrere Nachworte - zehn und zwölf Jahre nach der ersten Auflage - und zwei Beiträge von Peter Wollschläger, einem Psychiater, über die Veränderungen in der stationären Betreuung demenzkranker alter Menschen in einem Zeitraum von zwölf Jahren.
Kritische Würdigung
Den Rezensenten stören an der vorliegenden Veröffentlichung die Kommentare, die jedem Unterkapitel folgen. Es sind hierbei vor allem die Analysen und Interpretationen, die auf verschiedenen psychotherapeutischen Konzepten beruhen: die "Transaktionsanalyse" mit ihrem Modell des "Kind-, Eltern- und Erwachsenen-Ichs", die so genannten "Übergangsobjekte" aus der tiefenpsychologischen Kinderpsychotherapie und Begrifflichkeiten aus der Familientherapie (Wenn Eltern Kinder werden). All diese Erklärungsmodelle sind wissenschaftlich nicht fundiert, somit bloße spekulative Konstrukte. Zudem werden sie auch dem Gegenstandsbereich der krankheitsbedingten hirnpathologischen Veränderungen und ihren Auswirkungen auf das Verhalten und Reagieren nicht gerecht.
Sieht man von dieser eher berufsbedingten Schwäche der Autorin einmal ab, so kann festgestellt werden, dass hier ein äußerst anschauliches Dokument der Begleitung und Beobachtung eines nahen Angehörigen im langjährigen Leidensprozess vorliegt. Die prägnante Sprache, die sachliche Beschreibung und gleichzeitig die subjektiven Eindrücke und Empfindungen lassen die Ausführungen zu einer ausgewogenen und wertvollen Arbeit werden, die viele Leserkreise anzusprechen vermag.
Fazit
Dieses Buch kann allen Interessierten, die sich über die alltäglichen Probleme eines Demenzkranken und den Belastungen pflegender Angehöriger informieren möchten, zur Lektüre empfohlen werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 25.05.2004 zu:
Edda Klessmann: Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben. Die Doppelbotschaft der Altersdemenz. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2004. 5., durchgesehe und ergänzte Auflage.
ISBN 978-3-456-83551-8.
Mit einem Beitrag zur stationären Betreuung von Alzheimer-Kranken von Peter Wollschläger.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1649.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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