Sabine Hering, Richard Münchmeier: Geschichte der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Dr. Winfried Leisgang, 28.07.2014

Sabine Hering, Richard Münchmeier: Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
5. Auflage.
288 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1446-4.
D: 23,95 EUR,
A: 24,70 EUR,
CH: 34,50 sFr.
Reihe: Grundlagentexte Sozialpädagogik /Sozialarbeit.
Autorin und Autor
Die beiden emeritierten Professoren lehrten an der Fakultät für Bildung-Architektur-Künste an der Universität Siegen (Sabine Hering) und am Fachbereich für Erziehung und Psychologie an der freien Universität in Berlin (Richard Münchmeier).
Aufbau
Das Buch enthält acht Kapitel zur Geschichte der Sozialen Arbeit.
Inhalt
Das erste Kapitel befasst sich mit „Problemen und Nutzen einer Geschichte der Sozialen Arbeit“. Dabei werden die Schwierigkeiten, den Gegenstand der Sozialen Arbeit und seine Unschärfe in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Hilfebereichen thematisiert, z.B. Psychotherapie, Strafvollzug, Jugendhilfe, Selbsthilfe. Benannt werden auch gleich einige Begrenzungen der Darstellung der Geschichte der Sozialen Arbeit. Die Themen beleuchten die deutsche Geschichte, die auch noch Berlinorientiert ausfällt. Neben dem geschichtlichen Kontext werden in den folgenden Kapiteln immer wieder auch Personen als Ideenträger genauer vorgestellt.
Die Kapitel zwei: Die Vorgeschichte (1800-1871), setzt sich mit der Industrialisierung und deren sozialen Folgen auseinander. Die Massenarmut wird zunächst nicht sozialpolitisch, sondern repressiv beantwortet. Ab 1850 wird die kommunale Armenfürsorge reformiert (vgl. Elberfelder System). Neben dieser sind es vor allem die Wohltätigkeit der Kirchen und von Privatpersonen, die die soziale Unterstützung im 19. Jahrhundert ausmachen.
Kapitel drei: Das Kaiserreich
(1871-1914). In diese Zeit fällt das Erstarken der
Frauenbewegung, die sich im Feld der Sozialen Arbeit engagieren. Sie
sind verknüpft mit den Namen Alice Salomon, Hedwig Heyl und
Marie Baum. Ein Endpunkt der Aktivitäten der Frauenbewegungen
sind die Gründung von Sozialen Frauenschulen (1908 die erste in
Berlin). Charakteristisch für diese Ausbildungsstätten ist, dass
sie „nicht von pädagogischen oder wissenschaftlichen Kreisen
ausging, … nicht von den Universitäten oder anderen Anstalten mit
sozialwissenschaftlichen Bildungszielen,… sondern von Männern und
Frauen aus der sozialen Praxis.“ (S. 60)
Die Einführung der
Sozialversicherungssysteme löst nicht alle sozialen Probleme.
Parallel dazu entstehen neue Formen der kommunalen Armenpflege und es
existiert weiterhin die „freie Liebestätigkeit“ (S. 65), auf die
kein Rechtsanspruch besteht und die nicht frei ist von
Diskriminierungen. Kinder und junge Menschen werden als Zielgruppe
der Fürsorge definiert. Hintergrund ist zum einen, die
Aufrechterhaltung der Gesundheit der jungen Männer
(Wehrdiensttauglichkeit) und die Betreuungssituation der Kinder von
arbeitenden Müttern.
Kapitel vier: Soziale Arbeit im
ersten Weltkrieg. Die Umstellung auf den Krieg wird politisch so
konsequent vollzogen, dass sich die Frage stellt, ob nicht der Krieg
als Modernisierer für die Entwicklung der Profession sorgt. Die
Wohlfahrtspflege zählt zu den Gewinnern. Überfällige Reformen
wurden durchgeführt. Die Zunahme der durch den Krieg bedingten
Problemfälle seit Kriegsbeginn sorgt für eine Differenzierung der
Hilfeleistung (S.92). Die Kriegsfürsorgeämter bieten einen
Rechtsanspruch auf Hilfe, die die Diskriminierung verringert.
In
diese Zeit fallen die Bekämpfung von Massenelend und die Gründung
der Wohlfahrtsorganisationen, sowie die Entwicklung der
Handlungsfelder (Jugend- und Gesundheitsfürsorge, Wohnungs- und
Betriebsfürsorge und der Familienfürsorge).
Das fünfte Kapitel: Konsolidierung
und Krise der Sozialen Arbeit. Die Weimarer Zeit. Die Weimarer
Zeit ist eine geschichtliche Epoche, in der die Republik um die
Etablierung neuer politischer Rechte ringt. Die Gewerkschaften
erstarken, der Blütezeit der frühen 20er Jahre folgt die Inflation.
Dies hat Auswirkungen auf die Soziale Arbeit. „Not ist um uns,
dringlicher und bitterer denn je.“ Hertha Kraus (S.126). Die
Entwicklung der Profession ist geprägt vom Einbruch der Männer in
ein bis dato von Frauen dominiertes Arbeitsfeld. Dies führt dazu,
dass sich neben den sozialen Frauenschulen nun auch Schulen für
Männer gründen. Die Frauen werden mehr und mehr aus
verantwortlichen Positionen zurückgedrängt. Der Verband der
Sozialbeamtinnen kämpft für ethische Standards.
Den
Wohlfahrtsverbänden gelingt es, den zunehmenden staatlichen Einfluss
durch das Festschreiben des Subsidiaritätsprinzips zu begrenzen. Der
staatliche Einfluss zeigt sich im Reichsjugendwohlfahrts-gesetz
(RJWG), das Jugendgerichtsgesetz (JGG) und die
Reichsfürsorgepflichtverordnung (RFV), die die Soziale Arbeit
verrechtlichen.
Das sechste Kapitel: Von der
Fürsorge zur Volkspflege. Die Machtübernahme durch die NSDAP
verändert das soziale und politische Leben in ganz Deutschland. Vor
allem die Rassenhygiene mit der systematischen Verfolgung und Tötung
von Juden ist zu Beginn kaum vorstellbar. Mit der Parole „Du bist
nichts, dein Volk ist alles!“ verändert sich auch die Soziale
Arbeit. Sie wird für den Staat im Sinne der Volkspflege
funktionalisiert. Soziale Arbeit wird dadurch überflüssig, indem
der „Volkskörper“ gestärkt wird und das Entartete und nicht
Lebenswerte ausgemerzt wird (S. 177). Die Ausbildung wird reformiert,
Schulen z.T. geschlossen und Lehrbeauftragte eingestellt, die nicht
in Sozialer Arbeit ausgebildet sind. Dies wirft die Qualität der
Ausbildung hinter den Stand von 1920 zurück. Dagegen bildet sich
vereinzelt Widerstand und es emigrieren vor allem die jüdischen
Lehrkräfte ins Ausland.
Die Soziale Arbeit wird in der
Nationalsozialistischen Wohlfahrt (NSV) geregelt, eine
Massenorganisation, in der 12 Mio. Menschen organisiert sind. Sowohl
die Jugendpflege als auch die Gesundheitsfürsorge wurden an die
Bedürfnisse der nationalsozialistischen Propaganda angepasst. Der
Paritätische Wohlfahrtsverband wird in den NSV integriert, die AWO
aufgelöst. Soziale Arbeit wirkt zunehmend kontrollierend
(Wohnungsfürsorge) und selektierend (Euthanasie-Programm). Die
Selektion durchdringt auch die Jugendhilfe, in der die erbgesunden
Jugendlichen „in Erziehungsheimen … zu nützlichen Mitgliedern
der Volksgemeinschaft erzogen werden, die nichtgemeinschaftsfähigen,
minderwertigen, erbkranken und asozialen sollen in
‚Bewahrungsanstalten‘ untergebracht und festgesetzt werden.“
(S. 201)
Kapitel sieben widmet sich der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg: Restauration und Reform. Die Soziale Arbeit nach dem Kriege. Dem Wiederaufbau der Strukturen mit der Hilfe für 11 Mio. Flüchtlinge folgt die Akademisierung der Ausbildung. Kurz dargestellt wird auch die Soziale Arbeit in der DDR. 1961 wird das BSHG verabschiedet, die 70er Jahre sind geprägt vom Erstarken der Bürgerbewegungen und die Auseinandersetzung um die ‚neue Armut‘. Vor allem bei der Novellierung des JWG wird wegen der Kosten, die der Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden soll, heftig gestritten.
Das letzte Kapitel: Aus der Geschichte lernen. Ein Ausblick. Die Autoren betonen, dass die Soziale Arbeit nicht ausschließlich als eine Erfolgsgeschichte verstanden werden kann. Vielmehr weisen sie auch auf die Widersprüche hin, mit denen sich die Soziale Arbeit auseinandersetzen muss: zwischen Hilfe und Kontrolle, staatlicher Hilfe oder privat-partikularer Praxisorganisation, zwischen fachlichen Erfordernissen und den finanziellen Rahmenbedingungen.
Den Band vervollständigen ein Glossar und eine Zeittafel.
Diskussion
Am Ende des Buches fragt man sich, was man aus der Lektüre oder wie die Autoren im letzten Kapitel schreiben, aus der Geschichte gelernt hat. Ist es das Eingebettetsein der sozialen Frage in den geschichtlichen Kontext, der in dem von den Autoren beschriebenen Zeitraum ab 1800 zwei Weltkriege mit einschließt? Oder die Erkenntnis, dass die soziale Frage immer auch eine Frage des Umgangs mit sozialer Not ist und die rechtlichen Rahmenbedingungen vom Ziel der Hilfe gesteuert sind? Oder das Wissen, wie sich die Soziale Arbeit im Laufe der Jahrzehnte professionalisiert hat? Um dieses Wissen einordnen zu können hätte es zu Beginn des Buches einer Einführung bedurft, wie die Autoren Soziale Arbeit verstehen, welchen Gegenstand und welche Funktion sie hat. Das wird leider an keiner Stelle deutlich. So bleibt es bei einer historischen Rekonstruktion der Herausforderungen der Sozialen Arbeit in unterschiedlichen Epochen. Was Soziale Arbeit als Profession, nicht in Form von Einzelpersonen, gestaltend zur Lösung der sozialen Fragen beigetragen hat bleibt an vielen Stellen offen. Aber vielleicht gibt es diesbezüglich auch gar nicht so viel Substanzielles zu berichten. Mit mehr Enthusiasmus habe ich das Buch von C.W. Müller zur Methodengeschichte der Sozialen Arbeit gelesen (siehe meine Rezension), die in diesem Punkt deutlich anschaulicher ist.
Die Zeittafel am Ende des Buches endet mit dem Jahr 1991, sprich mit dem Zeitkontext, in dem die erste Auflage erscheint. Als Leser kann man bei der fünften Auflage im Jahr 2014 eine Aktualisierung der Zeittafel über die Jahrtausendwende hinaus berechtigt erwarten. Wie macht eine Neuauflage Sinn, wenn die Geschichte der Sozialen Arbeit vor allem nach der Jahrtausendwende gar nicht mehr vorkommt? Dann lieber gleich einen unveränderten Neudruck der ersten Auflage. Dann weiß man als Leser_in woran man ist und was man erwarten kann. Daran ändert auch nichts das letzte Kapitel, das in seinem Resümee über das Jahr 2000 hinausblickt.
Fazit
Ein Buch, das Studierenden einen Einblick in die neuere Geschichte liefert und das den Umgang mit den sozialen Fragen nachzeichnet. Für die Kollegen in der Praxis ein eher uninteressantes Metier, es sei denn, man ist an der geschichtlichen Entwicklung des eigenen Handlungsfeldes z.B. der Jugendhilfe interessiert.
Rezension von
Dr. Winfried Leisgang
Dipl. Soz.-Päd., Master of Social Work (M.S.W.)
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