Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.05.2004

Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift.
Verlag C.H. Beck
(München) 2003.
5. Auflage.
187 Seiten.
ISBN 978-3-406-49486-4.
12,90 EUR.
CH: 22,60 sFr.
Reihe: Beck'sche, Band 1132. Originaltitel: Deschooling society. Aus dem Englischen von Helmut Lindemann und Thomas Lindquist.
Ein Buch mit Geschichte
Die Schule sei eine Quelle der Ungleichheit; diese These hat 1971 die Bildungsöffentlichkeit und den pädagogischen Diskurs auf- und zum erneuten Nachdenken darüber angeregt, was Schule ist, was sie macht und wie sie zu verändern ist: Ivan Illich (1926 - 2002) legte damals seine Schrift "Deschooling Society", die vom Münchener Kösel-Verlag im gleichen Jahr mit dem deutschen Titel "Entschulung der Gesellschaft" herausgegeben wurde. Mit dem (falschen) Reizwort "Schafft die Schule ab!" entwickelte sich in der bildungspolitischen und gesellschaftlichen Diskussion ein kontroverser Schlagabtausch, der bis heute nicht an Brisanz eingebüßt hat. Während Hartmut von Hentig in seiner überwiegend zustimmenden Entgegnung "Guernavaca oder: Alternativen zur Schule? (1971/1972) lieber für eine "Entschulung der Schule" als für deren Abschaffung plädierte und der curricularen und institutionellen Diskussion zur Veränderung der Schule eine "naive Schulreform" vorwarf, die eine notwendige Wandlung der Erziehung verhindere und der Schule und den Vorwurf erhob, ganz im Sinne Ivan Illichs, dass ein großer Teil der Lernprozesse Schule nur deshalb stattfinde, weil sie die Gesellschaft in ihren anderen Tätigkeiten stören könnte und mit Hilfe der Schule die Einstellungen und Vorstellungen, die Art und das Maß der Leistungen der nächsten Generation kontrollieren und regeln würde, werfen andere den psychoanalytisch-pädagogischen Blick auf die Institution Schule mit der Frage: "Was macht die Schule mit den Kindern? Was machen die Kinder mit der Schule" (Volker Fröhlich / Rolf Göppel, 2003) und formulieren wieder andere den Hilferuf "Schule in Not" (Olga Graumann / Siegfried Mrochen, 2001). Mit dem Blick über die nationalen Gartenzäune hinweg prognostiziert der Bildungswissenschaftler der Harward-Universität Fernando Reimers (UNESCO-Kurier 3/2000), dass sich weltweit die Bildungskluft zwischen Arm und Reich weiter vertiefe, wenn nicht einschneidende Reformen in der Schule stattfänden. Schließlich plädiert die von der UNESCO 1993 berufene unabhängige internationale Kommission "Bildung für das 21. Jahrhundert" dafür, dass sich die verschiedenen Bildungssysteme verstärkt den vier Faktoren für das Menschsein zuwenden müsse: Schlüsselfaktor für Entwicklung zu sein; den globalen Wandel vorzubereiten; ein Gleichgewicht zwischen Staat und Bildungsangebot herzustellen; den Anspruch auf Universalität in der Bildung zu erheben (Jacques Delors, Lernfähigkeit. Unser verborgener Reichtum, 1997).
Themen des Buchs
Die Gesellschaft erziehlich machen, heißt ja für Illich deutlich zu machen, dass es einen Zusammenhang zwischen den institutionalisierten Werten und Normen, wie sie (auch) die Schule vermittelt, gibt und der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit, hier bei uns, in den Ländern des Südens der Erde, überall auf der Welt. Wenn Chancengleichheit immer noch ein Defizit in den menschlichen Existenzen darstellt und Schule weiterhin in erster Linie ein (ungerechter) Verteilungsapparat von Lebenschancen ist, muss diese Institution in Frage gestellt werden. Inhalte und Methoden, die beim schulischen Lernen angewandt werden, orientieren sich, das wissen wir nicht erst seit der Diskussion um die Curriculumrevision der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, überwiegend an Strategien zur Reproduktion der Gesellschaft, wie sie ist und nicht an deren Veränderung hin zu einer größeren gesellschaftlichen Gerechtigkeit, lokal und global: "Die Entschulung der Gesellschaft setzt voraus, dass man die Komplexität des Lernvorgangs erkennt und der Unterschiedlichkeit seiner Verlaufsformen Rechnung trägt". Wenn Illich der Schule vorwirft, sie lehre "den Mythos vom grenzenlosen Konsum", dann gilt das heute um so mehr. In gleicher Weise ist sein Wort von der "neuen Entfremdung" aktueller denn je: "Die Schule macht die Entfremdung zur Vorbereitung auf das Leben, und so spaltet sie Erziehung von Wirklichkeit ab und Arbeit von Kreativität".
- Ivan Illichs "positive Provokation" für ein "gutes Bildungswesen" plädiert dafür, dass allen, die lernen wollen, zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens Zugang zu vorhandenen Möglichkeit gewährt werde. Das ist eine Forderung, wie sie weltweit die UNESCO propagiert.
- Zweitens sollen alle, die ihr Wissen mit anderen teilen wollen, in die Lage versetzt werden, die zu finden, die von ihnen und mit ihnen lernen wollen ("Lernen miteinander und voneinander");
- drittens schließlich soll jeder Mensch die Möglichkeit haben, eine Sache der Öffentlichkeit vorzutragen (demokratische, humane Entwicklung).
Illichs Vision von der "Wiedergeburt des epimetheischen Menschen", was nach der griechischen Sage von Prometheus und Epimetheus nicht für eine rationale und autoritäre Gesellschaft plädiert, sondern als "Nachbedacht" zu tun hat mit Nachdenken, kreativem Handeln, Gutwilligkeit und sozialer Klugheit. "Der heimliche Lehrplan definiert und bewertet ... nicht nur, was Bildung ist, sondern bestimmt auch, auf welches Maß an Produktivität der Bildungskonsument ein Anrecht hat"; er diene damit als Rechtfertigung für den immer engeren Zusammenhang zwischen Arbeitsplatz und entsprechenden Privilegien. Diese Prognose aus Anfang der 70er Jahre kann auch heute gesprochen werden; ja, im Zeitalter der Globalisierung gilt dies noch wahrhaftiger.
Es ist also, bei diesem Diskurs, der Dringlichkeit der Frage "Was für morgen lebenswichtig ist" (Hans Jonas) und dem, was Hans A. Pestalozzi als "positive Subversion" ("Nach uns die Zukunft", 1979) bezeichnet hat, wichtig, sich Ivan Illichs Streitschrift von 1971 erneut vor zu nehmen. Das Schlagwort "Wider die Verschulung" trifft ja nicht zu, worauf Hartmut von Hentig in seinem nach wie vor informativen Büchlein aus 1971 hinweist. Illichs Vorschläge sollen nicht das Gruseln lehren, sondern erklären, warum es das Gruseln gibt. Zu fragen, welches Interesse wir und die gesellschaftlichen Kräfte eigentlich haben, dass Schule so ist, wie sie ist und warum sie sich nicht verändern soll, ist heute dringlicher denn je.
Zur heutigen Bedeutung der Streitschrift
Der kritische Leser von Ivan Illichs Streitschrift hätte sich gewünscht, dass in einem einführenden Text auf die Bedeutsamkeit seiner Aussagen für uns Hier und Heute hingewiesen worden wäre; denn der Blick auf die Nach-Pisa-Auseinandersetzung in unserem Land unter dem kritischen Blickwinkel von Illichs "Schule entschulen" und von Hentigs "Schule neu denken" wäre besonders wichtig. Wenn z. B. in Niedersachsen die Orientierungsstufe, die den SchülerInnen in den 5. und 6. Jahrgängen mehr Zeit lassen sollte, sich zu entwickeln, abgeschafft und wieder die Verteilung auf das dreigliedrige Schulsystem nach vier Klassen Grundschule erfolgt; wenn gleichzeitig die Landesregierung einen Stopp der Gesamtschulgründungen verhängt; wenn schließlich die curricularen Reformen sich (wieder) verengen auf fächerbezogenes Lernen mit Schülerbeurteilung und Leistungsmessung, dann müssen wir uns auf die Suche nach Alternativen machen. Die Visionen, die Illich für den epimetheischen Menschen zeichnet, wären auch hoffnungsvolle Denkmodelle für uns. Es gilt, Menschen zu bilden, die Menschen mehr lieben als Produkte; die die Erde lieben, auf der jedermann dem anderen begegnen kann.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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