Reiner Klingholz: Sklaven des Wachstums - die Geschichte einer Befreiung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.03.2014

Reiner Klingholz: Sklaven des Wachstums - die Geschichte einer Befreiung. Campus Verlag (Frankfurt) 2014. 352 Seiten. ISBN 978-3-593-39798-6. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,90 sFr.
Das Zeitalter des Postwachstums
Als vor 42 Jahren sieben junge Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in ihren zentralen Computer die vorhandenen Informationen über die Entwicklung der Welt – zur Bevölkerungsentwicklung, den Rohstoffreserven, zur Nahrungsmittel- und Industrieproduktion, Umweltverschmutzung – eingaben und die wahrscheinlichen Tendenzen bis zum Jahr 2100 hochrechneten, da wackelte zum ersten Mal in der neueren Menschheitsgeschichte das auf scheinbar festen Fundamenten gebaute (Glaubens-)Gebäude vom unbegrenzten ökonomischen Wachstum. Die als selbstverständlich hingenommenen und liebgewonnenen Einstellungen, dass die Menschheit sich immer schneller, immer höher, immer weiter und mit immer mehr Gütern entwickeln würde, wurden mit dem MIT-Bericht an den Club of Rome 1972 in Frage gestellt: Die Grenzen des Wachstums seien erreicht! Ein Erschrecken ging um die Welt! Sollte sich der homo sapiens wieder zurück entwickeln und auf die Bäume zurückkehren? Die Horrorszenarien beherrschen seitdem den Diskurs um die Entwicklung der Menschheit genau so wie die Visionen, dass es gelingen könne, den homo oeconomicus hin zum homo mundanus (Wolfgang Welsch) und zum homo empathicus (Jeremy Rifkin) weiter zu entwickeln.
Vor 27 Jahren wurden im Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung die Empfehlungen zum Perspektivenwechsel, weg vom „business as usual“ und „throuput growth“ und hin zur „sustainable development“, einer umweltverträglichen und tragfähigen Entwicklung, eindringlich bekräftigt und die gemeinsame Zukunft der Menschheit beschworen; und vor 19 Jahren hat die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ mit dem Appell – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ – darauf hingewiesen, dass die „kreative Vielfalt“ der Menschheit diesen grundlegenden Perspektivenwechsel auch vollziehen könne. In zahlreichen weiteren Diagnosen, Prognosen und Modellrechnungen wurde bestätigt, dass der homo oeconomicus in der Gegenwart und Zukunft nicht mehr so weiter leben könne wie bisher. Im November 2009 wird die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Sie zeigt auf, dass „mehr wird, wenn wir teilen“ und verweist darauf, dass die Welt Gemeingut ist und Raffgier und Kapitalanhäufung unmenschlich sind (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php). Die sich daraus entwickelnde „Commons“ – Bewegung nimmt mit dem Slogan „Teilen ist Mehr wert“ den Paradigmenwechsel auf und plädiert für die Wiederentdeckung der lokalen und globalen Gemeingüter (Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7908.php) und fordert heraus, dem „Immer-weiter-so“ einen Wandlungs- und Veränderungsprozess entgegen zu setzen: „Die Definition von Wahnsinn ist: wieder und wieder das Gleiche zu tun – und zu erwarten, dass dabei jedes mal anderes herauskommt“ (Rita Mae Brown), und individuelles und gesellschaftliches wirtschaftliches, politisches und kulturelles Denken und Handeln auf eine neue Grundlage des Menschseins zu stellen (Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13482.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Zwar zeigen sich insbesondere bei den individualistischen, egoistischen und ethnozentrierten Einstellungen Widerstände gegen ein Umdenken bei der lokalen und globalen Daseinsbewältigung der Menschen; doch das Bewusstsein wächst, dass es eines Perspektivenwechsels bedarf ( vgl. dazu auch die jährlich erscheinenden Berichte des New Yorker World Watch Institute „Zur Lage der Welt“; Rezensionen in Socialnet). Der Chemiker, Molekularbiologe und Wissenschaftsautor Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, hat sich schon mehrfach zu Wort gemeldet und in Analysen und Prognosen den unbefriedigenden Zustand der Weltentwicklung beklagt. Möglicherweise hat er den (drastischen) Titel des Buches nicht selbst zu verantworten, sondern es sind eher die Absatzerwartungen des Verlags, die von „Sklaven des Wachstums“ sprechen. Im Grunde ist es aber auch durchaus angebracht, von Versklavung des ökonomischen Denkens und Handelns zu sprechen, betrachtet man die verqueren und inhumanen Entwicklungen, die kapitalistisches, neoliberales und kapitalmarktabhängiges Gewordensein lokal und global bewirkt haben und weiterhin attraktiv machen. Damit aber sind wir schon bei der schier nicht bewältigbaren Herausforderung, angesichts der kapitalistischen und neoliberalen Entwicklung Alternativen und Perspektiven für eine andere, bessere und gerechtere (Eine?) Welt und damit das „Zeitalter des Postwachstums“ zu denken. Doch sie müssen gedacht und diskutiert werden, trotz oder auch wegen der Widerstände gegen Wandlungs- und Veränderungsprozesse.
Aufbau und Inhalt
Klingholz gliedert das Buch „Sklaven des Wachstums“ in zwölf Kapitel.
Im ersten Teil „Älter, weiser, friedlicher und weniger“ skizziert er ein Szenario, das mit dem Zeitalter, als das Postwachstumsdenken seinen Anfang nahm, also unserer Jetztzeit beginnt und bis in das Jahr 2297 reicht und der Menschheit eine (beinahe) „heile Welt“ beschert. Es ist eine gedachte Vision; aber es ist keine Märchenerzählung angesichts der Hier und Heute bereits erkennbaren Tendenzen und Anzeichen, wie die Weltentwicklung sich vollziehen könnte. Klingholz´ Ansatz ist dabei durchaus realistisch und logisch für die Zukunftsentwicklung der Menschheit: „Die Verantwortung der heutigen Generation steigt mit jedem Tag“.
Der Titel „Mit Vollgas in die Zukunft“ thematisiert im zweiten Kapitel die Bestandsaufnahme mit der Frage: „Warum Wachstum (noch) die Welt regiert“. Dem scheinbar ungebremstem und ungezügeltem wirtschaftlichem Wachstum in den Industrie- und nachfolgenden Schwellenländern steht die zunehmende Verarmung und Hoffnungslosigkeit der Habenichtse gegenüber. Es scheinen keine Argumente zu ziehen, etwa wie sie von der Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften (1995) Elenor Ostrom ausgehen, dass Teilen mehr Wert ist; und die Alarmglocken wirken in den lokalen und globalen Wirklichkeiten eher wie Kuhgeläut auf der Alm. Das Schlagwort „Nach uns die Sintflut“ klingt dabei makaber wie bereits durch den Klimawandel sich abzeichnende Überflutung von ganzen Landschaften und Ländern.
„Es lebt sich gut im Overshoot“. Im dritten Kapitel diskutiert der Autor die vielfältigen Denkweisen und Aktivitäten, wie Menschen sehenden Blicks und (eigentlich) wissender Erkenntnis unvernünftig handeln, z. B. durch Schuldenmachen, das das Ende des Wachstums hinauszögert; oder der Argumentation, dass es ohne Wachstum keine Beschäftigung gäbe; Versuche, das Gegenteil zu beweisen, werden unisono als Spinnereien und Fantasien abgetan. Sogar die mittlerweile wissenschaftlich ausgewiesene Rechnung, dass die Umwelt- und Sozialkosten, die durch unser Wachstumsdenken erzeugt werden, höher wären als der Nutzen der Produktion, wird überhört oder abgetan.
Als der Initiator des MIT-Projektes „Grenzen des Wachstums“, Dennis L. Meadows 1998, also ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen der Prognose, in einem Gespräch mit Fritz Vorholz über Erfolge und Misserfolge des Berichts sprach (DIE ZEIT, Nr. 9 vom 19. 2. 1998, S. 25), da äußerte sich Meadows skeptisch, ob die damaligen Vorhersagen und Warnungen im aktuellen und zukünftigen Denken und Handeln der Menschen einen Perspektivenwechsel verursachen würden. Ähnlich pessimistisch beginnt Klingholz im vierten Kapitel seine Analysen mit dem Dilemma von der „vierte(n) Kränkung der Menschheit“, nämlich nach der ersten, die sich als Kopernikanische Wende in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben hat; nach der zweiten, als Charles Darwin die Evolution begründete; der dritten mit Sigmund Freud, der den Menschen die absolute Willensfähigkeit absprach – schließlich mit der vierten Kränkung, dass der Mensch nicht Besitzer, sondern Teil der Natur ist. Diese von der Umweltbewegung aufgenommene Erkenntnis allerdings, so Klingholz, schlägt zu Ungunsten der Menschen aus – Stichwort: Peak Oil – weil sie nicht durchdacht und ganzheitlich analysiert wird.
Mit dem fünften Kapitel „Normative Kräfte“ zeigt der Autor die weiteren Folgen des ungebremsten, überwuchernden Wachstumsdenkens auf; mit dem Versagen der Ökosysteme, dem Wassermangel, von vom menschengemachten Klimawandel verursachten Umweltkatastrophen. Das traditionell geförderte Macht- und Machbarkeitsbewusstsein der Menschen gerät an Grenzen; und erst zögerlich und allzu leise melden sich Kritiker zu Wort, dass der Mensch nicht alles machen dürfe, was er zu können glaube.
Als eines der gravierendsten Ursachen für Wachstumsdenken stellt die aktuell weiterhin zunehmende Weltbevölkerung dar, die der Autor im sechsten Kapitel thematisiert; allerdings mit der Tendenz, dass weltweit in einigen Jahrzehnten, in einigen (westlichen) Ländern bereits früher, das Bevölkerungswachstum nicht mehr zu-, sondern abnimmt: „Aus der Explosion wird eine Implosion“. Für diejenigen, die sehen wollen, sind bereits Anzeichen erkennbar, dass ökonomisches Wachstumsdenken nicht mehr zu den Prioritäten von Gutleben- und Glücksebenerwartungen gehören, zumindest bei einigen Menschen.
„Deutschland in der Pionierrolle“, so stellt Klingholz die demografische Entwicklung von Rügen bis zum Bodensee dar. Während auf der einen Seite die Menschen immer älter werden und länger leben, dünnt sich der Nachwuchs aus. Diese Entwicklung nicht als Menetekel an die Wand zu malen, sondern als Chance zu begreifen, dass eine abnehmende Bevölkerung keine (wirtschaftliche und Wachstums-)Katastrophe darstellt, sondern Möglichkeiten eröffnet, Lebens- und Wirtschaftsformen zu entwickeln, gehört zu den aktuellen, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen.
Die innovative Kraft dazu kann nicht allein aus der eigenen Bevölkerung kommen, sondern muss in den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt global diskutiert und gemeinsam bewältigt werden. Als Beispiel für positive Veränderungsprozesse, aber auch für die Schwierigkeiten und Misserfolge dabei, stellt Klingholz die gesellschaftlichen und politischen Innovationen in Japan vor. Die Ergebnisse werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu besichtigen sein.
Im neunten Kapitel diskutiert der Autor mit der Frage „Katastrophe oder weiche Landung?“ die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den Ländern des Südens, die nach der Kategorisierung der Vereinten Nationen als Least Developed Countries (LLDC) bezeichnet werden. Das „Trilemma des Wachstums“ – „Es ist offensichtlich, dass die armen Länder Energie für ihre Entwicklung brauchen. Ohne Entwicklung ist das Bevölkerungswachstum nicht zu bremsen. Aber weil auf diesem Weg immer mehr Treibhausgase entstehen, wird das eine Problem gelöst, indem ein anderes vergrößert wird“ – lässt sich nur durch Bildung und Aufklärung lösen.
Die Litanei der Probleme wird im zehnten Kapitel fortgesetzt. „Warum der demografische Wandel die Schwellen- und Entwicklungsländer mit Verzögerung erreicht – dafür aber umso heftiger“; diese Entwicklung lässt sich bereits heute in einigen der betreffenden Länder und Regionen beobachten; etwa in China, Südkorea, Taiwan, Singapur, Indien, Marokko, Brasilien, u.a. Ländern.
Im Gegensatz zur konservativen Demokratiekritik, wie sie der australische, in London über Jahrzehnte tätige, 2013 gestorbene Politikwissenschaftler Kenneth Minogue mit seinem Buch: „Die demokratische Sklavenmentalität“ (Manuscriptum-Verlag, 460 S.) liefert, setzt Klingholz im elften Kapitel bei der Frage, ob das Ende des Wachstumsdenkens auch das Scheitern der Demokratie bedeuten würde, beim Demokratiediskurs auf Weiterentwicklung und Neuerfindung des demokratischen, sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Denkens und -Handelns.
Fazit
Die Analysen, die sich an manchen Stellen eher als Achselzucken und resignatives „Da kann man sowieso nichts machen!“ darstellen, bemühen sich allerdings überwiegend darum, die Wirklichkeiten nicht als Fatum darzustellen, sondern bei allen Imponderabilien, Unwägbarkeiten und Ungewissheiten über die zukünftige Menschheitsentwicklung positiv und aktivierend zu vermitteln. Das Bild vom Entstehen und Vergehen in der Natur könnte ein Spiegel sein, in dem wir schauen sollten, wenn die Warnungen vom Ende des Wachstums wie Menetekel an die Wand geworfen und in unsere Gehirne und unser Verhalten transportiert werden. Dann gälte es, selbst zu denken und nicht denken zu lassen (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php). Was im internationalen, wissenschaftlichen Diskurs um ökonomische und ökologische Veränderungsprozesse als „Nachhaltigkeit“ propagiert wird, benennt Klingholz als „Wirtschaftssystem des langfristigen Gleichgewichts“. Es könnte uns helfen, bei der Prognose vom „Ende des Wachstums“ nicht auf die Bäume zu flüchten oder sonst wie in Panik zu geraten, sondern uns aufzumachen, was der ehemalige Schweizer Topmanager und spätere Umwelt- und Menschenaktivist Hans A. Pestalozzi als „positive Subversion“ bezeichnet hat: „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.