Andreas Anton, Michael Schetsche et al. (Hrsg.): Konspiration
Rezensiert von Prof. Dr. René Gründer, 01.07.2014

Andreas Anton, Michael Schetsche, Michael Walter (Hrsg.): Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens. Springer VS (Wiesbaden) 2014. 351 Seiten. ISBN 978-3-531-19323-6. D: 34,95 EUR, A: 35,93 EUR, CH: 43,50 sFr.
Thema: Verschwörungsdenken als Wissensform und Diskurspraxis
Verschwörungstheorie! Wohl kaum ein Vorwurf wird in einer sich als rational aufgeklärt definierenden ‚Wissensgesellschaft‘ häufiger zur Ausgrenzung abweichenden Weltdeutungen und der diesen anhängenden Personen verwendet. Wer hinter komplexen historischen Ereignissen und kontingenten gesellschaftlichen Transformationsprozessen das Ergebnis verborgener zweckrationaler Handlungen menschlicher Akteure vermutet, gilt im öffentlichen Diskurs rasch als nicht mehr satisfaktionsfähig.
Gleichwohl entfalten sich im Bezug auf bestimmte historische Ereignisse schnell Gegendiskurse zur deren offiziösen Deutung in den Massenmedien, die nicht ohne nachhaltigen Einfluss auf die Formierung subkutaner ‚Gegenöffentlichkeiten‘ in den Netzwerkmedien bleiben. Während Abwehr- und Abwertungsdiskurse gegenüber solch alternativen Erklärungen von Ereignissen wie dem Mord an John F. Kennedy, der Zerstörung des World Trade Centers in New York 2001 oder im Bezug auf die Aktivitäten geheimer Armeeverbände (so genannter Gladio-Strukturen) in Europa die massenmediale Berichterstattung in den Leitmedien dominieren, wurde bislang der wissenssoziologischen Beschäftigung mit der Genese und den Funktionen konspirationistischer Wissensformen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Herausgeber des zu besprechenden Sammelbandes, die Freiburger Soziologen Andreas Anton und Michael Schetsche sowie der Konstanzer Michael Walter füllen dieses Desiderat.
Herausgeber
Andreas Anton, M.A. hat an der Universität Freiburg Soziologie, Geschichtswissenschaft und Kognitionswissenschaft studiert und promoviert derzeit am IGPP Freiburg.
Michael Schetsche, Dr. rer.pol. ist als Forschungskoordinator am IGPP Freiburg tätig und lehrt als Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Freiburg.
Michael K. Walter, M.A. studierte Soziologie und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz und promoviert derzeit an der Universität Frankfurt.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in drei Teile, denen ein einführender Aufsatz der Herausgeber zum Thema „Konspiration – Soziologie des Verschwörungsdenkens“ vorangestellt wurde.
- Im ersten Teil, den Anton und Schetsche apodiktisch mit dem Satz: „Wer nicht von Verschwörungen reden will soll auch von Verschwörungstheorien schweigen“ (S. 19) einleiten, finden sich sechs Fallstudien zu (mittlerweile) anerkannten Verschwörungsformen bzw. „Klassikern“ des Verschwörungsdenkens wie zum Beispiel den Hintergrundannahmen zur Ermordung John F. Kennedys, zu der so genannten Gladio-Geheimarmee in Italien, den Zusammenkünften der so genannten ‚Bilderberger‘, der Entstehung von AIDS und den Ereignissen vom 11. September 2001.
- Im zweiten Teil des Bandes werden unterschiedliche mediale Diskurse zur Darstellung und Bewertung von Verschwörungswissen wissenssoziologisch analysiert.
- Im abschließenden dritten Teil werden in vier Beiträgen theoretische Perspektiven zum sozialwissenschaftlichen Verständnis des Gegenstandsbereiches entwickelt.
Inhalt
In der Einleitung formulieren die Herausgeber den Anspruch des Bandes, „eine im doppelten Sinne kritische Prüfung der Sinngehalte von Verschwörungstheorien“ (S.24) zu liefern. Diese Kritik erstreckt sich nicht allein und nicht primär auf die Tragfähigkeit verschwörungstheoretischer Argumente, sondern vor allem auf eine – wissenssoziologisch fundierte – Einordnung ihres emanzipatorischen Potentials in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die nach Auffassung der Autoren zunehmend durch eine massenmediale Homogenisierung orthodoxer Deutungen geprägt ist. Mithin steht nicht weniger in Frage, als ebenjene verdeckten Potentiale heterodoxer Wirklichkeitsbestimmungen für eine pluralistische, offene Gesellschaft auszuloten.
Im Eröffnungsbeitrag von Gerd E. Hövelmann stehen „ortho- und heterodoxe Perspektiven auf die Ermordung John F. Kennedys“ (S.27) im Fokus der Analyse. Hövelmann zeigt anhand der verwickelten (Nicht-)Aufklärungsversuche zu diesem spektakulären öffentlichen Mordfall, dass und wie gerade die scheinbare „Sichtbarkeit“ des massenmedial dokumentierten Vorgangs einen Ansatzpunkt konspirationistischen Mutens bildet. In seiner „konspirationsfreie(n) Schlussbemerkung“ kommt Hövelmann zum Schluss, dass „vorwiegend diejenigen, die die Entstehung von Verschwörungsgedanken um jeden Preis verhindern wollten, dieselben zuallererst heraufbeschworen haben.“ (S.61). Ursächlich seien dabei vor allem widersprüchliche Argumentationen, Beweismanipulationen und Dilettantismus der offiziellen Aufklärungsakteure in diesem Falle gewesen.
Regine Igel beschäftigt sich im zweiten Beitrag mit der Entstehung und Funktion italienischer Gladio Armeen nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext der so genannten P2-Loge. Diesen, von den US-amerikanischen Geheimdiensten für den Kampf gegen kommunistische Umsturzversuche aus rechtsgerichteten Gruppen rekrutierten, Militärverbänden werden mittlerweile zahlreiche Bombenattentate zugeordnet, die in den 1970er Jahren die öffentliche Stimmung gegenüber linksgerichteten Gruppen (denen die Gladio-Taten offiziell zugeschrieben wurden) beeinflussen sollten. Nachdem in den 1980er Jahren zunehmend Licht in die realen Verschwörungszusammenhänge dieser „Strategie der Spannung“ in Italien gebracht worden sei, endet Igels Text mit dem sibyllinischen Hinweis auf die Aussage eines hochrangigen italienischen Geheimdienstmitarbeiters von 2001, dass die Strategie der Spannung ebenso in der Bundesrepublik Deutschland verfolgt worden sei. (S.89).
Markus Klöckner widmet sich in seinem Text der „diskreten Macht der Bilderberger“ (S.91) und adressiert damit ein besonders durch die Netzwerkmedien verbreitetes Verschwörungsdenken, welches die intransparenten und nicht demokratisch legitimierten jährlichen Geheimtreffen hochrangiger Politiker, Unternehmer, Think-Tank-Leader und Journalisten zum Gegenstand hat. Klöckner verweist insbesondere auf die seiner Auffassung nach beredten „Nicht-Thematisierungen“ des Komplexes „Bilderberger“ als eigentlich belangvollen Gegenstand von Wissenschaft und Journalismus als Ausgangspunkt und Attraktor des Verschwörungsdenkens. Gerade die diskursive Einordnung einer jeden Befassung mit dem Thema als „Verschwörungstheorie“ in den Mainstream-Medien delegitimiere alle erkenntnisorientierten Zugriffe bereits im Vorfeld. Somit wird der klandestine Charkter der Treffen in Abwehr potentiell kritischer Würdigungen durch Zuweisung von „Verschwörungsdenken“ gewahrt.
Erhard Geißler zeigt in seinem Beitrag zu den heterodoxen Theorien im Bezug auf die Entstehung des AIDS-Phänomens, wie historisch situierte Auseinandersetzungen um die Deutung komplexer gesellschaftlicher Probleme Verschwörungsdenken funktionalisieren. Konkret geht es Geißler um die akribische Rekonstruktion geheimdienstlerisch lancierter Deutungen zur artifiziellen Labor-Genese von AIDS in den USA, die von sowjetischen und DDR-Geheimdiensten zur Diffamierung des Gegners im kalten Krieg verbreitet wurden. Geißler zeigt, dass Spuren dieser Deutungen im AIDS-bezogenen Verschwörungsdenken der Gegenwart weiter virulent bleiben.
Ingbert Jüdt widmet sich schließlich mit der „Bennewitz-Affäre“ einer Verschwörungstheorie, die vor allem innerhalb des Spektrums von „UFO-Glauben“ und „UFO-Forschung“ von hoher Relevanz ist. Dabei handelt es sich um den – ebenfalls vor dem historischen Hintergrund des kalten Krieges zu würdigenden – Effekt einer „Desinformations-Feedback-Schleife, mit der vorläufige, hypothetische und spekulative Ideen aus der UFO-Forschung in eine scheinbare historische ‚Faktizität‘ des amerikanischen Staates verwandelt wurden“ (S.143). In Abwehr möglicher Aufdeckung militärischer Forschungen auf Luftwaffenstützpunkten seien dabei in den USA durch staatliche Instanzen gezielt Dokumente an die Öffentlichkeit geleitet worden, die UFO-Gläubige im Sinne einer Ablenkungsstrategie entsprechende ‚außerirdische‘ Deutungen höchst ‚irdischer‘ Beobachtungen nahe legen sollte. Als staatliche Akteure diese Deutungen später zu korrigieren suchten, mussten daraus zwangsläufig Verschwörungstheorien (eines geheimen Alien-Kontaktes usw.) resultieren, da die ‚eigentlichen‘ militärischen Geheimnisse weiterhin geschützt wurden (und werden). Jüdt schließt: „Das ‚Wissen‘ über eine Verschwörung kann ebenso selbst das Produkt einer Verschwörung sein wie die Identifizierung einer ‚Verschwörungstheorie‘ eine stigmatisierende sprachpragmatische Handlung darstellen kann.“ (S.155).
Der Mitherausgeber Andreas Anton beschäftigt sich mit den „Verschwörungstheorien zum 11. September“ (S.157) und fokussiert – dabei den Ansatz von Jüdt fortführend- vor allem den sprachpolitischen Abwehrreflex, der mit der massenmedialen Zuschreibung von „Verschwörungsdenken“ gegenüber alternativen Deutungen der Ereignisse um das World-Trade-Center verbunden wird. Im Anschluss an eine umfassende Würdigung der gängigsten Alternativdeutungen dieses historischen Ereignisses und seiner möglichen Hintergründe plädiert Anton für eine „offene Debatte“ und zeigt auf, dass es letztlich kognitive Dissonanzen seien, die entstanden, weil die offiziösen Deutungsangebote vielfach nicht mit dem „gesunden Menschenverstand“ restlos in Einklang gebracht werden könnten. Anton unterstreicht, dass es letztlich immer das gesellschaftliche Wissen über reale (aufgedeckte) Verschwörungen der Vergangenheit ist, welches als Deutungsfolie für die Plausibilitätsprüfungen rezenter Verschwörungstheorien in Rechnung zu stellen sei.
Michael K. Walter eröffnet mit seinem Beitrag, der sich mit den medialen Legitimationsstrategien gegenüber Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 befasst den zweiten, Medien-diskursanalytischen, Teil des Bandes. Walter identifiziert die diesbezüglichen Diskursstrategien der deutschsprachigen Leitmedien gegenüber abweichenden Wirklichkeitsdeutungen. Diese reichten von der Behauptung einer Sprecherposition der „überlegenen Vernunft“ (S.188) über die Diffamierung von Akteuren als „illegitime Sprecher“ (S.190), die Abwertung der Informationsqualität in Netzwerkmedien als Verbreitungsorte abweichender Wirklichkeitsdeutung bis hin zur Zuschreibung von „Antiamerikanismus“ und „Angstgesteuertheit“ (S.195) auf somit pathologisierte Verschwörungstheoretiker. Für Walter zeigen diese Diskursstrategien, „wie das etablierte mediale Feld (…) die zum Problem gewordene ‚offizielle‘ mediale Sinnwelt diskursiv verteidigt“ (S.200). Letztlich verweise dieser Prozess auf eine Erosion des Deutungsmonopols etablierter Massenmedien im Zeitalter der Netzwerke sowie auf die damit verknüpften Veränderungen von Wahrheitsdiskursen.
René König beschäftigt sich ebenfalls mit diskurspolitischen Wechselwirkungen zwischen ‚neuen‘ und ‚alten‘ Medien im Umgang mit Wissensbeständen aus der „9/11 Wahrheitsbewegung“. Dabei fragt der Autor insbesondere nach der Bedeutung der Netzwerkmedien für den Erfolg der Verbreitung entsprechenden Wissens. Suchmaschinen und Online-Enzyklopädien käme dabei als Kontroll- und Filterinstanzen eine zentrale Bedeutung zu. Insbesondere die neuen Individualisierungsfunktionen im ‚Web 2.0‘ begünstigen nach König die Genese und Verbreitung subjektiv (durch Suchanfragen) verzerrte Wirklichkeitswahrnehmungen bei Verschwörungstheoretikern, denen dadurch eine nur scheinbar allgemeine Verbreitung ihrer eigenen Weltauffassung suggeriert würde (S.217).
Sven Großhans diskutiert in seinem Beitrag am Beispiel der „Watchmen“ Serie aus den 1980er Jahren die Thematisierung von Verschwörung und Verschwörungswissen im Medium des Comic-Strips. Der Autor zeigt, dass insbesondere das Comic-Lesen aufgrund der ihm eigenen „konstruierenden Rezeptionsweise“ sehr gut zur spielerisch offenen Umgangsweise mit Uneindeutigkeiten im Hinblick auf das Themenfeld geeignet scheint. Die subversive Infragestellung vordergründiger Wirklichkeitsdeutungen im stark symbolisch-narrativen Medium des Comics begünstigte bereits vor 25 Jahren Fragestellungen nach der „Überwachung der Überwacher“, die für Großhans bis heute relevant sind.
Dem Sujet des Verschwörungsnarrativs im Medium des Spielfilms widmet sich der Beitrag von Matthias Hurst. Den Massenmedien sei aufgrund ihrer impliziten ideologischen Selektionswirkungen selbst ein Moment der Verschwörung inhärent gegen welches Medientheorie gewissermaßen im Sinne einer Verschwörungstheorie permanente Aufklärungsarbeit betreibe (S.254). An Fallbeispielen klassischer „Verschwörungsfilme“ zeigt Hurst dass und wie vieldeutig das Spiel des Mediums mit den Erwartungshaltungen des Zuschauers verläuft: „Es scheint paradox, aber wir glauben den Medien dann, wenn sie ihre eigene Unglaubwürdigkeit inszenieren und gleichsam als mediales Ereignis vorführen.“ (S.257). Dadurch wirkten Massenmedien zwar ambivalent, doch letztlich stets katalytisch im Hinblick auf öffentliche Diskurse.
Mit Michael Butters Beitrag „Konspirationistisches Denken in den USA“ (S.259) beginnt das dritte, im engeren Sinne wissenssoziologisch-theoriegeleitete Kapitel des Bandes. Butters wissensarchäologische Analyse des Verschwörungsdenkens in der amerikanischen Demokratie zeigt, dass eine subjektivische Erklärung historisch-gesellschaftlicher Veränderungen und Ereignisse als Produkte geheimer Absprache zwischen verborgenen Akteuren keineswegs immer schon ein regressiv-reaktionäres Element innewohnte. Der Autor konstatiert: „Die Geschichte der USA ist reich an Verschwörungstheorien aber arm an wirklichen Verschwörungen.“ (S.260). Butter zeichnet den wechselvollen, mehrfach zwischen Orthodoxie und Heterodoxie changierenden Weg von Verschwörungsdenken in den USA im Laufe der Geschichte nach. Die gegenwärtige Popularität von Verschwörungstheorien zum Komplex 9/11 weist für ihn auf einen aktuellen Wandel zur Auflösung der Demarkationslinien zwischen orthodoxem und heterodoxen Wirklichkeitsdeutungen unter Einfluss der Netzwerkmedien hin.
David Coady verteidigt in seinem Beitrag den Glaubwürdigkeitsstatus von Gerüchten und Verschwörungstheorien gegenüber den Angriffen einer gegen beide gerichteten „Propaganda“. Seine These lautet dabei, dass Gerüchte und Verschwörungstheorien zu unrecht unter einer mangelhaften Glaubwürdigkeit litten, welche letztlich Effekt einer „anti-demokratischen Propaganda“ sei. (S.277). Coady widerlegt gängige Einwände gegen die Glaubwürdigkeit von Gerüchten und parallelisiert dies mit der moralisch ablehnenden Wahrnehmung von Verschwörungstheorien: Beide Wissensformen beinhalten potentiell zutreffendes, hochrelevantes und Wissen über Sachverhalte das anderweitig nicht verbreitet wird. Die Tatsache, dass darunter auch unzutreffende Wissenssachverhalte seien, ist nach Coady kein Grund, Gerüchte und Verschwörungstheorien pauschal als ‚demokratiegefährdend‘ zu verdammen und aus dem Diskurs zu drängen – vielmehr äußere sich gerade in solcher„Propaganda“ letztlich ein zutiefst antidemokratisches Verständnis herrschender Wirklichkeitsdeuter, welches der Idee der offenen Gesellschaft zuwiderliefe.
Sascha Pommrenke widmet sich in seinem Text „Sinnvoller Unsinn – Unheilvoller Sinn“ den problematischen psychologischen Funktionen und Wirkweisen von Verschwörungstheorien im Hinblick auf deren Anhänger und Weiterverbreiter. Dabei wählt er Fallbeispiele wie den Glauben an die Inexistenz des Holocaust, die Existenz einer ‚inneren Erde‘ oder eine muslimische Welteroberung, die der Auffassung eines von gesunden Menschenverstand geführten Denkens radikal zuwider zu laufen scheinen. Doch weder Irrationalismus, Angst oder Paranoia können als Erklärungsansätze für die Popularität des Verschwörungsdenkens ausreichen, vielmehr ist mit Pommrenke gerade die menschliche Befähigung zum phantastischen Denken bzw. „Phantasiewissen“ (S.320) als ursächlich anzusetzen. Wo Wissensformen monopolisiert werden, läge der Rückgriff auf Phantasiewissen nahe. Sozialwissenschaften hätten den Auftrag, „den Unsinn vom Sinn zu trennen“ (S.322). Für diese (sachorientierte) Aufklärungsarbeit bedürfe es jedoch eines Verzichtes auf normativ wertende „Kampfbegriffe (wie) Rationalität bzw. Wahnsinn, Vernunft bzw. Unvernunft“ (ebd.) im Diskurs.
Den dritten Teil des Buches beendet Oliver E. Kuhn mit seinem Beitrag „Spekulative Kommunikation und ihre Stigmatisierung“. Kuhn konstatiert eine gegenwärtige Diskurslage, in der nicht nur offenkundig falsche Zuschreibungen sondern jedwede Aussagen über Verschwörungen dem Verdikt unzutreffender Behauptungen zum Opfer fallen. Diese Repressionsthese wird das Lager der „Permissivisten“ gegenübergestellt, die in der Zulassung abweichender Wirklichkeitsdeutungen per se einen Gewinn an gesellschaftlichem Wissen erblicken. Kuhn argumentiert, dass heterodoxe Wissensformen (eben als „Verschwörungstheorie“) zwar im Allgemeinen durch die Übermacht der die Orthodoxie verteidigenden „Repressivisten“ aus dem Hegemonialdiskurs ausgeschlossen seien, am Rande desselben jedoch fortexistierten. Dabei könne es, sofern es einer (ehemaligen) Verschwörungstheorie gelänge, eine bestimmte „Resonanzsschwelle“ (S.345) im Diskurs zu durchbrechen durchaus zur Aufwertung ihrer Deutungen in offizielles, orthodoxes Wissen kommen. Die seltenen, doch bekannten Fälle von ‚aufgedeckten‘ Verschwörungen sprächen dafür. Verschwörungstheorien fungierten als permanentes Reservoir für „spekulationsgestützte Wissensinnovation“ in einer Gesellschaft, die ihre Wissensproduktion ansonsten vor „Überlastung durch Spekulation“ (S.346) zu schützen sucht.
Diskussion
Haupt- und Untertitel des Bandes stehen in einem augenfälligen Spannungsverhältnis, das an unterschiedlichen Punkten immer wieder zum Tragen kommt: Eine „Soziologie des Verschwörungsdenkens“ ist eben etwas anderes als eine „Soziologie der Konspiration“. Gleichwohl wird in vielen Beiträgen deutlich, wie eng die Argumente für einen ‚nichtrepressiven‘ Umgang mit Verschwörungsdenke(r)n an die Existenz realer Verschwörungen (zulasten Dritter) gebunden sind. Es erschiene daher sinnvoll, die vielfältigen und überaus instruktiven Analysen zur Funktionalität von Exklusionsdiskursen gegenüber heterodoxen Wirklichkeitsdeutungen mit ebensolchen Untersuchungen zu den ‚Profiteuren‘ und den ‚benefits‘ dieser Ausgrenzungslogik zu ergänzen. Angesichts wirtschaftlicher Kartellbildungen und immer neuer Skandalisierungen von umfassender NSA-Spionage, geheimdienstlicher Verstrickungen im Umfeld der NSU-Mörder sowie einer in vielen strittigen politischen Sachthemen verblüffend gleichförmig kommentierenden Presselandschaft brechen heute ‚cui bono‘ Fragen vor allem in den Kommentarspalten der Netzwerkmedien auf.
Soziologische Analysen zur Funktionalität von Geheimhaltung und öffentlicher Meinungsbildung – etwa im Rahmen der Power Structure Research (Machtstrukturforschung) – könnten Hinweise auf entsprechende ‚interessierte & profitierende Akteursnetzwerke‘ liefern. Die Autoren dieses Bandes haben jedoch (abgesehen von ihrem wissenssoziologischen Interesse) möglicherweise eben deshalb darauf verzichtet, um nicht selbst dem Verdikt der ‚Verschwörungstheorieverbreitung‘ im Wissenschaftsdiskurs anheim zu fallen: Quod erat demonstrandum.
Fazit
Der Band „Konspiration – Soziologie des Verschwörungsdenkens“ adressiert ein zentrales wissenssoziologisches Forschungsdesiderat der Gegenwart: Die erklärungsbedürftige Popularität von Konspirationsdenken in (Teilen) der Bevölkerung bei gleichzeitiger massiver Abwertungsrhetorik gegenüber „Verschwörungstheoretikern“ in den so genannten öffentlichen Leitmedien.
Das Anliegen des Buches spiegelt sich klar in der Gliederung seiner Texte: Ausgehend von historischen Ereignissen, die weitgehend konsensuell durch „Verschwörungen“ (mit-)erklärt werden, fungieren medienkritische und wissenssoziologische Analysen der Thematisierungsformen von „Verschwörungsdenken“ im Sinne einer reflektiert-kritischen Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umgang mit abweichenden Wirklichkeitsdeutungen.
Das dem Wissenschaftsethos verpflichtete Insistieren auf die Hinterfragbarkeit von (scheinbar) unhinterfragbaren Selbstverständlichkeiten (wie der „Irrationalität von Verschwörungsdenken“) und die Fokussierung auf jene Machtprozesse, die der Ausgrenzung heterodoxen Wissens zu Grunde liegen machen den Band über die Grenzen der Wissenssoziologie hinaus bedeutsam.
Insbesondere Journalisten aller Medienformate und auch medienpädagogisch Interessierte dürften die meisten Beiträge mit Gewinn lesen – sofern ein Bedürfnis zur Selbstreflexion der eigenen Rolle im Wissensprozess dies nahe legte. Letztlich bleibt es tatsächlich eine offene Frage, ob und inwiefern sich eine im Namen von „Rationalität“ geführte Abwertung alternativer Erklärungsformen gesellschaftlicher Ereignisse mit dem Selbstverständnis einer offenen und demokratisch-pluralistischen Gesellschaftsform in Einklang bringen lässt.
Rezension von
Prof. Dr. René Gründer
Duale Hochschule Baden-Württemberg Heidenheim, Fachbereich Sozialwesen. Homepage: https://www.heidenheim.dhbw.de/dhbw-heidenheim/ansprechpersonen/prof-dr-rene-gruender
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