Gesa Lindemann: Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen
Rezensiert von Joschka Sichelschmidt, 24.10.2014
Gesa Lindemann: Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2014. 365 Seiten. ISBN 978-3-942393-76-8. D: 44,90 EUR, A: 46,20 EUR, CH: 59,90 sFr.
Thema und Aufbau
Zentrales Thema des Buches ist es, eine ‚Theorie des Sozialen‘ zu entwickeln, die auch die Ordnungsbildungsprozesse in sozialen Interaktionen erfasst.
Dazu werden auf insgesamt 365 Seiten (davon 325 Textseiten) in 4 Kapiteln die Anforderungen einer Theorie der mehrdimensionalen Ordnungsbildung herausgearbeitet und expliziert. Das 5. Kapitel skizziert anschließend die gesellschaftstheoretische Perspektive der aufgestellten Theorie.
Da sich die Thematik der Arbeit sehr komplex darstellt, ist das Inhaltsverzeichnis ebenfalls sehr ausführlich gehalten, um dem Thema der ‚Theorie des Sozialen‘ gerecht zu werden. Nachstehend nur ein kurzer Überblick zu den einzelnen Kapiteln und deren Inhalt:
- Einleitung: Was ist die Diskussionsgrundlage, Vorstellung einer erweiterten Sozialtheorie und Beschreibung des Aufbaus des Buches.
- Kapitel 1: Die Natur-Kultur-Unterscheidung in der Erklären-Verstehen-Kontroverse.
- Kapitel 2: Kritik der Ordnungskraft; Wie wird die Natur-Kultur-Unterscheidung in der Erklären-Verstehen-Kontroverse begriffen, welche normativen Probleme entstehen, wenn die Natur-Kultur-Unterscheidung abgelehnt wird und welche Vorteile bringt in diesem Zusammenhang die Theorie der Ordnungsbildung, die sich auf die Akteur-Netzwerk-Theorie bezieht.
- Kapitel 3: Reflexive Ordnungsbildung – eine operative Theorie mehrdimensionaler Ordnungsbildung; Wie wird Ordnungsbildung in der Sozialdimension gedacht, wie werden die Raum- Zeitdimensionen von Umweltbezügen gedacht, was ist die Sachdimension, was ist die Symboldimension.
- Kapitel 4: Gewalt und Legitimität; Kann durch eine leibtheoretische Fundierung auf der Symboldimension, Gewalt als ordnungsbildende Kraft innerhalb der Sozialtheorie gedacht werden?
- Kapitel 5: Die reflexive Bildung der Ordnung von Weltzugängen; Erweiterung der Theorie der mehrdimensionalen Ordnungsbildung auf eine gesellschaftstheoretische Perspektive, um dadurch „Typen unterschiedlich geordneter Weltzugänge“ (S. 24) unterscheiden zu können.
Inhalt
Die Notwendigkeit einer allgemeinen Theorie des Sozialen lässt sich aus den akademischen Diskussionssträngen der letzten Jahrzehnte ableiten. Grundsätzlich muss eine solche Theorie folgende Fragen aufgreifen und bearbeiten (vgl. S. 11):
- Der Kreis der legitimen Akteure muss als historisch variabel und kontingent begriffen werden.
- Die Natur-Kultur-Unterscheidung darf nicht als gegeben betrachtet werden, sondern als nur eine mögliche Ordnung.
- Die Ordnung darf nicht nur als eine Ordnung des Sozialen beschrieben werden, sondern es müssen auch die Dimensionen Raum, Zeit und Materialität einbezogen werden.
- Gewalt muss als ordnungsbildende Kraft analysiert werden.
- Die allgemeine Theorie des Sozialen soll eine Perspektive für die Formulierung einer Gesellschaftstheorie erschließen.
Für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung und für eine anwendungspraktische Nutzung einer Theorie des Sozialen ist es wichtig, „Ordnungsbildung allgemein im Sinn der Strukturierung möglicher Weltzugänge zu begreifen“ und das Ordnungsbildung nicht nur auf die Sozialdimension begrenzt ist (vgl. S. 79). Die Komplexität der Ordnungsbildung kann so auf der Sozialdimension, der Dimension von Raum und Zeit, der Sachdimension und der Dimension von Symbolen (vgl. S. 82) abgebildet werden.
Ebenso ist es unabdingbar Gewalt als Ordnungstypus, als „symbolisch generalisierte Kommunikation“ zu beschreiben und nicht als „sinnlos bzw. als Naturzustand“ festzuschreiben (S. 247). Moderne Gesellschaften, die „Macht und Herrschaft“ (S. 288) kennen, versuchen durch Beschreibungen des Rechts, Gewalt symbolisch zu rationalisieren. Gesa Lindemann begreift im Zusammenhang ihrer Sozialtheorie alle „Phänomene, die als Macht und Herrschaft verstanden werden, […] als verfahrensmäßige Gestaltung von Gewalt“ (S. 289).
Zusammenfassend kann die „Mehrdimensionalität der Ordnungsbildung“ (S. 294) in fünf Punkten beschrieben werden (vgl. S. 294f.), die nach Gesa Lindemann in dividualisierenden, individualisierenden und mehrfachgesellschaftenden Gesellschaften (S. 295) zu finden sind:
- Es existieren typische Ordnungen von Weltzugängen, die sich voneinander unterscheiden lassen.
- Jeder Weltzugang hat eine spezifische Form von Kommunikation.
- Die Ordnungen von Weltzugängen können nach der Position der Beteiligten zueinander unterschieden werden.
- Es existiert eine Gestaltung der Gewaltkommunikation.
- Die Strukturen des Raumes, der Zeit und der Sache sind passend zueinander.
Diskussion und Fazit
Die Thematik, welcher sich Gesa Lindemann angenommen hat, isthochkomplex und gelungen präsentiert.
Für das Ziel, eine generell gültige Theorie des Sozialen aufzustellen ist es notwendig, viele unterschiedliche sozialwissenschaftliche Positionen und Theorien, deren synthetisierbare Punkte und deren Schwächen, ausführlich darzustellen und zu diskutieren. All diese Diskussionspunkte bilden dann die Grundlage für die durchgeführte fundierte Theoriearchitektur.
Gesa Lindemann gelingt es treffend, die Unterschiedlichkeit der Positionen zu belegen, aber die einzelnen Diskussionselemente in eine kohärente Struktur zu verpacken, so dass es dem Leser möglich ist, den Entstehungsprozess der Theorie des Sozialen gut verfolgen zu können.
Das Buch besitzt eine klare Struktur und ist gut verständlich geschrieben. Meiner Ansicht nach eignet sich das Buch auch für Einsteiger in die Materie der Sozialtheorie.Diese, wie auch alle anderen Leser müssen sich auf ein sehr ambitioniertes Buch einstellen und eventuell zum Vertiefen des Textinhaltes die von Gesa Lindemann dazu herangezogene Literatur ergänzend lesen, um zu einem ganzheitlichen Verständnis des Buches zu kommen.
Rezension von
Joschka Sichelschmidt
M.A. Erziehungswissenschaften, M.A. Klinische Sozialarbeit, B.A. Sozialpädagogik/Psychologie, klinisch arbeitender Pädagoge in einem intensivpädagogischen Setting
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Es gibt 8 Rezensionen von Joschka Sichelschmidt.
Zitiervorschlag
Joschka Sichelschmidt. Rezension vom 24.10.2014 zu:
Gesa Lindemann: Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Velbrück GmbH Bücher & Medien
(Weilerswist) 2014.
ISBN 978-3-942393-76-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16530.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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