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Rainer Paris: Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen

Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 21.07.2015

Cover Rainer Paris: Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen ISBN 978-3-942393-79-9

Rainer Paris: Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2014. 380 Seiten. ISBN 978-3-942393-79-9. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.

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Autor

Rainer Paris, Jg. 1948, lehrte von 1994 bis 2013 als Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zu Fragen der Macht- und Organisationssoziologie hat er seit den 1980er Jahre zahlreiche Schriften vorgelegt. Einer breiteren intellektuellen Öffentlichkeit wurde er durch seine „Soziologie-Kolumne“ in der Monatszeitschrift „Merkur“ bekannt.

Entstehungshintergrund

Das Buch versammelt neben der Einleitung zwölf Aufsätze des Autors. Elf davon sind zwischen 1987 und 2012 in sozialwissenschaftlichen Zeitschriften, im Kulturfeuilleton und in Sammelbänden publiziert worden und erscheinen hier abermals, zum Teil leicht überarbeitet. Der letzte und umfangreichste Aufsatz des Buches über „altruistische Macht“ ist ein Originalbeitrag.

Soziologie der Macht in der Nachfolge von Max Weber

Der Titel des Buches ist eine aphoristische Fassung der klassischen Macht-Definition von Max Weber: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“

Die Machterwerbsmethoden der Machtkonkurrenten und die Machtbehauptungsmethoden der Mächthaber stehen im Vordergrund; aber auch Techniken des Widerstrebens kommen zur Sprache, die den Machtunterlegenen, von Paris mit Theodor Geiger lieber „Mindermächtige“ genannt, als Methoden der „Gegenmacht“ zur Verfügung stehen.

Mit mikrosoziologischem Blick wird darauf geschaut, wie es sein kann, dass der Wille des Einen sich in das Tun des Anderen transformiert. Wie geht der Eine vor und was bewegt den Anderen, ihm zu folgen? Operiert der Eine mit Drohungen, folgt ihm der Andere aus Angst vor Strafe. Setzt der Eine Anerkennung und Belohnung aus, hofft der Andere, diese zu erlangen. Greift der Eine zu den Mitteln der rhetorischen Überredungskunst, folgt ihm der Andere, weil er seinen Sirenenklängen erliegt. Überzeugt der Eine durch Argumente, folgt der Andere aus neu gewonnener Einsicht. Besticht der Eine durch „Außeralltäglichkeit“ (Charisma), folgt ihm der Andere aus Bewunderung und Anhänglichkeit. Das sind die seit Max Weber bekannten Reiz-Reaktionsmuster, Paris sagt „Interaktionsmuster“. Das Gros der Aufsätze des Buches könnte man als „Interaktionsanalysen der Macht“ bezeichnen.

Machtpraxen

Im Vordergrund des Buches stehen die folgenden sechs Mechanismen / Vorgehensweisen der Machtausübung, die im Buch wiederholt „Praxen“ genannt werden. Es geht also um Macht-, aber auch um Gegenmacht-Praxen:

Drohen

Mit einer Drohung oder auch nur einer Warnung vor einer Drohung verhängt man keine Strafe, sondern kündigt sie nur an. Den starken Machthaber zeichnet aus, dass ihm Drohungen genügen, um seinen Willen durchzusetzen. Den schwächer werdenden Machthaber kennzeichnet, dass er die angedrohte Strafe auch vollziehen muss, um sich zu behaupten, was ihn selber in diverse Bredouillen führen kann. Der überlegen Drohende und der unterlegene Bedrohte sind in der Regel nicht allein. Ein Dritter gesellt sich hinzu und sprengt die Dyade: der unbeteiligte Zuschauer, der parteiische Sympathisant, der schlichten wollende Schiedsrichter etc. Der Einfluss des Dritten im Bunde auf die Drohinteraktion ist überaus vielfältig; er kann bis zur Umkehr der Verhältnisse gehen – und der Drohende wird zum Bedrohten.

Loben

Im uralten Duett der Machtmethoden, „Zuckerbrot und Peitsche“, ist das Zuckerbrot weniger systematisch erforscht als die Peitsche. Zum Bereich des Zuckerbrotes gehört auch das Loben und Anerkennen, beides subtile Formen der Machtausübung durch immaterielle Gratifikation. Das Lob wird definiert als eine ausdrückliche, häufig in Gegenwart anderer ausgesprochene Anerkennung einer Person, die diese aufgrund von Leistungen erfährt, die über das Maß des normal Erwartbaren hinausgehen. Lob ist positive Leistungsbewertung und darum etwas anderes als ein Kompliment. Der Lobende muss die (rhetorische) Kunst des Lobens beherrschen und der Gelobte muss lernen, die Zudringlichkeit des Lobs zu ertragen, das für ihn auch eine Last ist, wird doch in Zukunft weiterhin Außergewöhnliches von ihm erwartet. Aber das Lob gilt nicht allein dem Gelobten, sondern erst recht der Vielzahl der Nicht-Belobigten, die sich am Vorbild des Geehrten ein Beispiel für ihr eigenes Verhalten nehmen sollen. Der Beitrag besticht durch die Vielfalt der Formen und Funktionen des Lobens. Das Lob von oben nach unten hat einen anderen Tonfall als das Lob von unten nach oben. Hier ist es gönnerhaft, großzügig, gnädig, eben „von oben herab“; da ist es schmeichlerische und anbiedernde „Lobhudelei“. Anders als das Lob von oben nach unten will das Lob von unten nach oben erwidert werden: Die Mindermächtigen möchten das Wohlwollen der Mächtigen erheischen. Das kann peinlich werden: „Manch einer möchte einem Riesen auf die Schulter klopfen und reicht gerade mal bis zur Wade.“ (S. 88) Neben dem Ton, hat das Lob auch einen Geruch. Selbstlob „stinkt“, wie man weiß. Im „fishing for compliments“ verwandeln wir seinen strengen in einen süßen Duft: Durch das indirekte und höchst diskrete ausgestreute Selbstlob veranlassen wir andere, es „reinzuwaschen“ und als unverdächtiges Fremdlob an uns zurückzumelden. Oftmals aber wird Herausragendes gar nicht bemerkt oder bewusst ignoriert, Mittelmaß dagegen hochgejubelt. Oftmals bilden sich Lob-Kartelle und Lob-Karusselle, um sich gegenseitig „hochzuloben“ (auf Ämter und Posten), aber auch „wegzuloben“: So kann man mit Lob „Politik“ machen. Folglich heißt das Kapitel, in dem Variationen und Modulationen, Wirkungen und Funktionen des Lobens verhandelt werden „Die Politik des Lobs“.

Warten lassen (namentlich auf staatlichen Ämtern)

Macht besitzt, wer befugt ist, andere zum Termin zu bestellen und es sich leisten kann, sie dann warten zu lassen, sei es, weil die Schlange vor der Amtsstube lang ist, sei es, weil der Amtsinhaber sich eigenmächtig entschlossen hat, zuvor noch etwas anderes zu tun. Warten ist auferlegte Untätigkeit, von außen veranlasste Passivität. Die Wartenden lenken sich womöglich ab, „vertreiben sich die Zeit“ mit irgendwelchen Kreuzworträtseln – und laufen Gefahr, ihren „Aufruf“ zu verpassen und dann das ganze Procedere noch einmal von vorn durchlaufen zu müssen, statt auf der Stelle von der elenden Warterei (die in der Regel mit einem mulmigen Gefühl für den ungewissem Ausgang in der Sache verbunden ist) erlöst zu werden. Das Warten in Bürokratien und namentlich auf staatlichen Ämtern („Ämter sind Stein gewordenen Herrschaft“, S. 148) prägt uns als Ausgelieferte und Fremdbestimmte. Die Rebellen der Szene, die sich in der Schlange vorzuschummeln versuchen, stiften die Ausgelieferten an, gegeneinander vorzugehen – und damit das Geschäft der Machthaber zu betreiben. Für das Warten speziell auf Arbeitsämtern findet Paris zu dieser luziden Formulierung: „Dieses Warten ist … eine Chiffre der massenhaften Leidenserfahrung der Entbehrlichkeit. … Es steht für ein Gefühl, dass es niemandem auffallen würde, wenn es einen nicht mehr gäbe.“ (S.168) Freilich gilt das nur für das überzählige Fußvolk der kapitalistisch halbierten Demokratie. „Im Amt für Wirtschaftsförderung, das interessierte Unternehmer für potentielle Industrieansiedlungen berät, nimmt man in bequemen Sesseln im Vorzimmer Platz und bekommt, sozusagen als ‚Wartegeschenk‘, sogleich eine Tasse Kaffee angeboten.“ (S. 155) – Rainer Paris ist ein Filigrandenker und Begriffsartist, der die Kunst der „dichten Beschreibung“ (Clifford Geertz) fulminant beherrscht. Nur zwei Beispiele: Bei der exakten Vermessung des Amtsgebäudes kommt Paris irgendwann auf den „Flur“ zu sprechen. Flure gehören allen und keinem. „Jeder benutzt sie, aber keiner reklamiert sie für sich. Als Durchgangsräume werden sie rasch durcheilt, auf dem Flur ist man weder draußen noch drinnen, sondern drinnen draußen.“ (S. 149). Und weiter: Amtskorridore, die nicht für den Publikumsverkehr vorgesehen sind, müssen leer sein. „Der leere Flur signalisiert, dass alle in ihren Büros arbeiten.“ Wenn niemand zu sehen ist, „ist alles in Ordnung“. (S. 150) – So „tickt“ die zur Herrschaft gewordenen Macht der Bürokratie, abzulesen an ihrer Architektur.

Raten und beraten

Was tut man, wenn man einem anderen einen (guten) Rat gibt? Zunächst schafft jeder Rat eine elementare soziale Beziehung, indem er den einen zum Ratgeber und Ratkompetenten und den anderen zum Ratempfänger und Ratbedürftigen macht, auch wenn dieser nicht als Ratsuchender aufgetreten ist. Der Ratgeber beansprucht immer eine (kognitive) Überlegenheit über den Ratempfänger, die er, wenn er unlautere Motive verfolgt, in ein fatales Abhängigkeitsverhältnis verwandeln kann. Ratschläge, die Vorgesetzte an Untergebene richten, sind oft nichts anderes als konjunktivische Drohungen: „Wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt folgendes tun…“. Der Ratschlag taucht in unterschiedlichen Formen auf, als „Tipp“ ist er nur ein Sachhinweis, als „Empfehlung“ und „Vorschlag“ nur ein schwacher Rat. Dem Rat von Mächtigen und Erfolgreichen folgt man offenbar eher als dem Rat anderer. Warum? Der Autor gibt mit Heinrich Popitz folgende Antwort: „Der Rat von Personen mit Prestige gilt mehr als der Rat gewöhnlicher Sterblicher. Es ist der Rat eines Erfolgreichen. Indem man diesem Rat folgt, schließt man sich an den Erfolg an.“ (S. 211) Jeder Rat an einen anderen ist auch eine Einschränkung seiner Freiheit. Wer einen Rat bekommt, kann unterschiedlich reagieren; er kann ihn annehmen oder zurückweisen, ignorieren oder vergessen etc. „Doch für welche Alternative er sich auch entscheidet, er hat nicht die Freiheit, nicht zu reagieren.“ (S. 214)

Ist das Raten eher ein informelles Tun unter der Voraussetzung einer persönlichen Nähe, so ist das Beraten ein professionelles Tun in aller Öffentlichkeit. Berater verfassen Ratgeber. Ratgeber bilden inzwischen eine eigene Literaturgattung und verkaufen sich wie geschnitten Brot. Die Auflösung überkommener Gewissheiten bei gleichzeitig enorm ausgeweiteten Möglichkeiten verunsichert offenbar viele Menschen so sehr, dass sie ihr Heil in Ratgebern suchen. Für Rainer Paris finden sie dort allerdings nur Unheil: Ratgeber befreien von den Zumutungen der Mündigkeit. (vgl. S. 195)

Helfen

Auch der Ratlose bedarf der „Hilfe“, des „guten Rates“. Das ist kognitive Hilfe. Hier aber, im Aufsatz „Helfen – Über altruistische Macht“, geht es um „praktische Hilfe“. Es geht um aktives Tun und nicht mehr nur ums Reden. „Hilfe“ wird verstanden als tatkräftige Unterstützung bei der Überwindung einer (existenziellen) Notlage eines anderen – mit der Perspektive, dass der andere Selbstständigkeit und Autonomie zurückerlangt. Machttheoretisch betrachtet, verwandelt das Helfen Gleiche in Ungleiche. Der Kompetenz des Helfers steht das Unvermögen des Hilfsbedürftigen gegenüber. Hilft der Helfer „uneigennützig“ und „selbstlos“, das heißt allein mit dem Ziel, die Hilfsbedürftigkeit des anderen zu überwinden, so dass er wieder eigenmächtig sein kann („Hilfe zur Selbsthilfe“), übt der Helfer eine „altruistische Macht“ aus, für deren Modewort „Empowerment“ Paris allerdings wenig übrig hat. Aus der Sicht des Hilfsbedürftigen ist die Uneigennützigkeit des Helfers im übrigen die Grundlage des Vertrauens, das er ihm entgegenbringt.

Wenn heute das Hilfsverhalten zum öffentlichen Thema wird, steht die mangelnde Bereitschaft, Hilfe zu geben, im Vordergrund. Paris sieht ein ebenso großes Problem auf der Seite des Hilfeempfangs: Der Hilfsbedürftige muss anerkennen, dass seine Fähigkeiten nicht ausreichen, um sein Problem zu lösen. „Doch gerade dies fällt vielen Menschen in der heutigen Kultur, die mit Leitbegriffen wie Mündigkeit und Unabhängigkeit operiert, besonders schwer.“ (S. 322) Sich nicht helfen zu lassen, transportiert immer die Botschaft, sein eigener Herr bleiben zu wollen. (vgl. S. 334)

Die angemessene Reaktion auf die erbrachte Hilfe ist der Dank. Gerade bei freiwilliger und ehrenamtlich geleisteter Hilfe, fühlt sich der Hilfeempfänger zusätzlich gedrängt, sich „revanchieren“ zu müssen, was oft dazu führt, dass er die angebotene Hilfe gar nicht erst annimmt. Auch das Empfangen von Hilfe will gelernt sein!

Wo die einmal in Anspruch genommene Hilfe nach und nach zur Gewohnheit wird und der „eingebildete Klient“ es sich in seiner Hilflosigkeit bequem gemacht hat, „züchtet“ die Hilfeleistung gewissermaßen die Hilfsbedürftigkeit, die sie doch überwinden will. „Wo Hilfe dauerhafte Abhängigkeit schafft und am Ende jede Eigeninitiative erstickt, verkehrt sich ihr Sinn ins Gegenteil.“ (S. 348) Allerdings hat der machtbewusste und mehr eigennützige als uneigennützige Helfer dann leichtes Spiel, seine Interessen durchzusetzen und das Machtspiel zu gewinnen.

Provozieren

Provokationen erfolgen im Normalfall von unten nach oben, fallen damit in die Rubrik der Gegenmacht-Strategien. Machtunterlegene möchten mit unvorhersehbaren Regelverletzungen die Mächtigen aus der Fassung bringen, so dass sie durch ihre Reaktion auf die Provokation ihr „wahres Gesicht“ zu erkennen geben – und der aufgeklärte Demokrat entlarvt sich plötzlich als reaktionärer Autokrat. Den Provokateuren gelingen damit Augenblickstriumphe. Eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse gelingt damit nicht. Wer provoziert, muss eine gewisse Frechheit an den Tag legen. Der Frechheit ist eigener Aufsatz gewidmet (S. 239 ff) Im Unterschied zum Provokateur, der Autorität zu entlarven trachtet, will der Frechdachs sie nur lächerlich machen. Frechheit und Provokation als erkenntnisdienliche Aufklärung über das barbarische Gesicht der Machthaber hinter der humanen Fassade kommen bei Paris nicht gut weg: „Der Provokateur glaubt immer schon zu wissen, was die Wahrheit des anderen ist, und er provoziert ihn so lange, bis jener schließlich dem, was der andere von ihm glaubt, auch wirklich entspricht.“ Die Provokation „erzeugt den anderen als den, als der er entlarvt werden soll, und lässt ihm keine Chance, vielleicht doch ein anderer zu sein. Die Triebfeder eskalierender Provokationen ist die Rechthaberei.“ (S. 54) Entlarvungsabsicht und Selbstdarstellungsbedürfnis gehen bei der Provokation eine problematische Allianz ein. In der Summe scheint der Autor der Meinung zu sein, die Provokation gehöre ebenso wie die Frechheit eher ins Kabarett als auf die politische Bühne.

In weiteren fünf Aufsätzen des Buches geht es weniger um die Typisierung von Machtpraxen, sondern um das Schicksal der Positionsmacht von Autoritäten und grundsätzliche Fragen der Macht-Legitimation in Demokratien.

Machtspiele

Macht ist normal und alltäglich, aber keine einfache Sache. Die „Spiele“ und Untiefen der politischen Macht, namentlich der demokratisch legitimierten, behandelt der Aufsatz „Tücken der Macht“. (S. 169 ff)

Die Machtspiele demokratischer Politik gleichen einem „geregelten Getümmel“ auf drei Bühnen:

  • da ist die programmatische Sachgegnerschaft der Parteien;
  • da ist die persönliche Rivalität von Berufspolitikern um politische Ämter;
  • da ist die massenmedial inszenierte Eindruckskonkurrenz um Glaubwürdigkeit, Sachkompetenz und Durchsetzungswillen gegenüber dem Wahlpublikum, von dessen Votum schließlich alles abhängt. (vgl. S. 185 f)

Warum Politiker letztendlich reüssieren oder scheitern, weiß niemand so ganz genau. Einer gewinnt mit Rattenfängerparolen Mehrheiten, während der andere mit durchdachten Konzepten ohne Resonanz bleibt. „Anders als beim Arzt oder Ingenieur existieren für die Tätigkeit des Politikers kaum klar konturierte Aufgaben- und Erfolgskriterien, die Aufstiegs- und Karrierekanäle sind vielfältig und gewunden…“ ( S. 188). Dass Wissen eo ipso Macht sei, wie der Volksmund meint, ist für Paris eine Mär. In der Politik ist oft die Dummheit der Klugheit überlegen, weil sie schneller und skrupelloser zur Entscheidung führt. Auch das Nichtstun, Schweigen und „Aussitzen“ sind probate Machttechniken. – In diesem Aufsatz erfährt man viel über Tricks, Fallstricke und Hinterhalte der Macht. Daneben finden sich erhellende Bemerkungen wie diese: Wir sind es in Deutschland gewohnt, dass immer wieder im Namen von Willy Brandt, Richard von Weizsäcker und Theodor Heuss nach so genannten „charismatischen Persönlichkeiten“ in der Politik gerufen wird. An ihnen fehle es heute, heißt es. Paris legt uns folgende These nahe: Die moderne Mediengesellschaft verhindert das Entstehen von Charismatikern systematisch. „Wo der politische Führer allabendlich im Wohnzimmer auf dem Bildschirm erscheint und seine Parteistrategie erklärt, werden die Möglichkeiten der Entstehung von Charisma drastisch reduziert. … Der Charismatiker ist kein Tausendsassa, der sich überall zeigt und in Talkshows herumsitzt; er ist einer, der sich eher zurückzieht und nur sehr gelegentlich äußert, dann aber mit einer Überzeugtheit, einer Intensität des Glaubens an seine Sache und sich selbst, die andere an ihn glauben macht.“ (S. 178)

Lehrer-Macht im freien Fall

Ein Aufsatz des Buches (S. 251 ff) behandelt den Autoritäts-Verlust des Schul-Lehrers. Seit die Schule als Dauerbaustelle der „Bildungsreformen“ laboriert, ist auch die so genannte „Autoritätsbalance“ des Lehrers aus dem Gleichgewicht geraten, bestehend aus Amtsautorität, Sachautorität und persönlicher Autorität.

Die „Amtsautorität“ des Lehrers, die aus seinem Recht und seiner Pflicht zur Leistungs-Benotung besteht, die zugleich, nach Abschaffung der körperlichen Züchtigung, sein wichtigstes Sanktionsinstrument ist, wird dann wirkungslos, wenn a) die Lehrer selbst zu dieser Pflicht auf Distanz gehen; b) den Schülern schlechte Noten egal sind und c) die Eltern ihren Nullbock-Kindern nicht ins Gewissen reden, sondern Rechtsanwälte gegen den Lehrer und seine Notenpraxis in Stellung bringen.

Die „Sachautorität“ des Lehrers, die aus seinem überlegenen Fachwissen besteht und dem didaktischen Geschick, es wirkungsvoll zu vermitteln, wird durch die allgemeine Verbreitung der neuen Kommunikationstechnologien unterlaufen. Wenn Schüler jedes Wort ihres Lehrers während des Unterrichts einem „Faktenscheck“ auf ihrem Smartphone unterziehen und obendrein die Bildungspolitik lauthals nach „beruflich verwertbarem Wissen“ ruft, steht der Pädagoge mit seinem „Bildungsauftrag“ allein und einsam vor der Klasse. „Nimmt man beide Entwicklungen – die tiefgreifende Fragmentierung der Amtsautorität bei gleichzeitiger Relativierung des angebotenen Sachwissens – zusammen, so steht der Lehrer auf verlorenem Posten.“ (S. 268) Da hilft es vermutlich wenig, wenn als letzte Bastion der Lehrer-Autorität die „Persönlichkeit“, das „Charisma“ des Pädagogen angerufen wird, um einen „gelingenden Unterricht“ zu gewährleisten.

Machtfreie Hochschule?

Der Aufsatz „Machtfreiheit als negative Utopie“ (S. 103ff) widmet sich der Hochschule als Idee und Betrieb.

Die Humboldtsche Idee der Universität stellt diese als einen gesellschaftlichen Sonderraum vor, in dem sich Professor und Student in Einsamkeit und Freiheit begegnen, um die Suche nach der Wahrheit voranzutreiben. Die Universität soll der Ort sein, in dem es keine andere „Macht“ als die der Vernunft und des diskursiv ermittelten besseren Arguments gibt. Vor dem besseren Argument sind Ordinarius und Erstsemesterstudent gleich.

De facto ist die Universität aber auch ein „Betrieb“ voller Machtkämpfe um Posten und Ressourcen. Der Aufsatz deckt u. a. Tricks und Winkelzüge akademischer Diskussionen auf, die alles andere als mit den Idealen der „herrschaftsfreien Kommunikation“ zu vereinbaren sind. Der Beitrag ist ursprünglich 2001 publiziert worden. Für die Wiederveröffentlichung hat ihn der Verfasser nicht überarbeitet. Somit fehlt jede Analyse des bisherigen „Bologna-Prozesses“.

Zermürbende Gleichheit

Unter den drei Fanal-Wörtern der Französischen Revolution – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – birgt nach Auffassung des Autors die Forderung nach „Gleichheit“ das größte gesellschafszerstörerische Potenzial. Weil die bekämpfte Ungleichheit und die angestrebte Gleichheit zu Empfindungsbegriffen, „Bauchwörtern“ geworden seien, die es jedem erlauben, sich in irgendeiner Hinsicht als benachteiligt und diskriminiert zu fühlen und fanatisch darauf mit „Gleichstellungsforderungen“ zu reagieren, so dass sich am Ende alle gegenseitig neidisch belauern, statt eine lebenswerte Gemeinschaft zu bilden. – Darüber räsoniert der Aufsatz „Gleichheit – ein systematisches Argument“ (S. 275 ff)

Cliquenherrschaft

Im Aufsatz „Herrschen, Führen und das Problem der Delegation“ (S. 291 ff) geht Paris dem von Robert Michels 1911 formulierten „ehernen Gesetz der Oligarchie“ nach, das lautet: „Die Demokratie führt zur Oligarchie.“ Konkret: Die demokratische Führerschaft endet in der Herrschaft einer kleinen Funktionärsclique, die fortan ihr Partikularinteresse als Allgemeininteresse ausgibt und gleichzeitig die Selbsterhaltung der eigenen Positionsmacht verteidigt und perpetuiert. Aus der Demokratie als einer Herrschaft der Wählenden, werde eine Herrschaft der Gewählten über die Wählenden, der Delegierten über die Delegierenden. Paris hält dagegen, dass gerade die gewaltengeteilte und rechtsstaatliche Demokratie diejenige Regierungsform ist, die Herrschaft an strenge Legitimationskriterien knüpft und zeitlich begrenzt. Damit wird verhindert, dass die gewählten Auftragsautoritäten auf Zeit sich verselbständigen und ein oligarchisches Eigenleben zu führen beginnen.

Fazit

Wer den intellektuellen und ästhetischen Reiz soziologischen Denkens erleben will, der muss Rainer Paris lesen! Die Aufsätze des Bandes sind funkelnde Belegstücke für die Kunst des prismatischen Denkens. Die großartige Fähigkeit zur wortgewandten Exploration im Kleinen, um das große Ganze kenntlich zu machen, zeichnet das Denk- und Schreibgeschick des Autors aus. Georg Simmel, Walter Benjamin und Heinrich Popitz hätten ihre helle Freude! Der Autor ist für den Rezensenten ein vorderster Kandidat für den Jean-Améry-Preis (für aufklärerische Essayistik). Einige Aufsätze kann man auch als Beiträge zur politischen Kultur- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung lesen. Obwohl dies nicht das Thema des Buches ist. „Intellektueller Beifang“, wenn man so will. Im übrigen: Die Aufsätze erschließen sich nicht alle beim ersten Lesen. Bei wiederholter Lektüre entdeckt man immer wieder neue Aspekte und Akzente. Von diesem Buch hat man lange etwas!

Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 21.07.2015 zu: Rainer Paris: Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2014. ISBN 978-3-942393-79-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16532.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


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