Karl-Martin Hentschel: Von wegen alternativlos!
Rezensiert von Laura Sturzeis, 17.06.2014

Karl-Martin Hentschel: Von wegen alternativlos! Die gerechte Gesellschaft als Ziel. Europa Verlag (Zürich) 2013. 288 Seiten. ISBN 978-3-905811-77-3. 19,00 EUR.
Thema
Mit seinem Buch „Von wegen alternativlos! Eine gerechte Gesellschaft als Ziel“ legt Karl-Martin Hentschel ein überaus reformorientiertes Buch vor. Der Grundtenor, der den/die Leser/in bei der gesamten Lektüre des Buches begleitet, lautet: Eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft ist machbar. Und das Beste daran: Sie muss nicht erst von Grund auf neu erfunden werden.
Autor
Der Autor Karl-Martin Hentschel ist deutscher Politiker (Bündnis 90/Die Grünen) und war von 2000 bis 2009 Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein. Heute ist er als freier Autor tätig und in engagiert sich bei der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft, Attac, im Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der Heinrich-Böll-Stiftung und der Organisation Mehr Demokratie e.V.
Aufbau
Das Buch umfasst drei Teile.
Zu I. „Der Stoff, aus dem die Träume sind“ oder was eine gerechte Gesellschaft ausmacht
Im ersten Teil des Buches referiert der Autor „neue[] und alte[] Debatten und Philosophien“ rund um Glück, Gerechtigkeit, Wachstum und Nachhaltigkeit. Im Mittelpunkt steht die Erörterung der „Frage, was eine gute Gesellschaft ausmacht.“ (S. 16) Ziel der Politik muss jedenfalls, so Hentschel, sein, gerechte Verhältnisse für möglichst alle BürgerInnen einer Gesellschaft zu schaffen und diese auf Dauer zu stellen. Eine gerechte Gesellschaft könne insofern auch als ‚gute‘ Gesellschaft gelten, wenn sie den sozialen Ausgleich in den Mittelpunkt stellt. Welcher Maßstab und welche Verteilung innerhalb einer konkreten Gesellschaft als legitim erachtet werden, ist in der Folge in einer öffentlichen Debatte demokratisch zu entscheiden. Konkret könnte so ein System variabler Steuersätze eingeführt werden, dass die Steuersätze erhöht/senkt in Abhängigkeit gegebener Ungleichverteilungen von Einkommen und Vermögen. Steigt die Ungleichverteilung, steigen die Steuern, sinkt sie hingegen, sinken auch die Steuern. Ein weiterer und für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung zentraler Schritt ist der Miteinbezug der Umwelt bzw. ökologischen Dimension. Seine Hoffnungen setzt Hentschel auf dem sogenannten „Kippeffekt“, demgemäß der technologische Fortschritt eine ökologisch und nachhaltige Transformation des Wirtschaftssystems hervorzurufen vermag (Bsp.: Masseneinsatz von Solartechnologie). Der Autor ist überzeugt davon, dass eine Gesellschaft Utopien benötigt, um nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Doch anstatt realitätsfremder Utopien zu entwerfen, plädiert Hentschel für eine „Realotopie“, deren Bausteine aus verwirklichten Best-Practices bestehen.
Zu II. „Fundstücke im Steinbruch“ oder wo die guten Lösungen zuhause sind
Den zweiten Teil des Buches widmet sich eben diesen Best-Practices. Sie umfassen Beispiele
- eines gerechten Steuersystems,
- des zukunftsorientierten Umgangs mit „Humankapital“ (Bildung, Kreativität), sowie
- dem Umgang mit Gemeingütern, zu denen auch eine intakte Umwelt gehört.
(1) Anders als in Deutschland, einem bekanntermaßen föderalen Staat, besitzen im Zentralstaat Schweden (aber auch in Dänemark) die Kommunen eine große Steuerhoheit und damit verbunden weitreichende Kompetenzen in Angelegenheiten des Sozial-, Gesundheits-, Pflege- und Schulsystem, sowie dem öffentlichen Verkehr. Finanziert werden die kommunalen Ausgaben Schwedens durch eine Basis-Einkommenssteuer, die alle BürgerInnen direkt an die Kommune abführen. Der schwedische Zentralstaat finanziert sich hingegen durch eine progressive Reichensteuer, die Mehrwertsteuer, Unternehmenssteuern und Sozialabgaben. Wenn die BürgerInnen tagtäglich sehen, wofür das Geld ausgegeben wird und auf Ebene der Kommunalpolitik darüber mitentscheiden können, ist die Ausgabenbereitschaft um einiges höher.
(2) Neben der alternativen Ausgestaltung des Steuersystems sieht Hentschel vor allem auch im Umgang mit dem „weichen Kapital“ einer Gesellschaft Reformbedarf. Als positives Beispiel führt der Autor die flächendeckende Kinderbetreuungsinfrastruktur in Frankreich an, wo 99 % aller Kinder im Alter von 3 Jahre die Vorschule (‚école maternelle‘) besuchen. Als Konsequenz hat Frankreich eine hohe soziale Durchmischung von Kindern unterschiedlicher Schichten und Herkunftsländer, sowie eine hohe Beteiligung von Müttern am Arbeitsmarkt, gepaart mit einer der höchsten Geburtenraten Europas. Hentschels Interesse gilt neben der Bildung auch der Kreativwirtschaft und ihrem Potential strukturschwache Regionen wiederzubeleben. So entwickelte der Soziologe Richard Florida den CDI („Composite Diversity Index“) und fand heraus, dass tolerante, offene und kreative Umgebungen auch jene Orte waren, die relativ hohes Wirtschaftswachstum aufwiesen.
(3) In der Auseinandersetzung mit Beispielen erfolgreichen und erfolglosen Umgangs der Menschen bzw. Gesellschaften mit der sie umgebenden Umwelt identifiziert Hentschel als zentrale Faktoren, die Nähe und die Einbindung der Menschen vor Ort sowie eine langfristige Perspektive (S. 186f.). Mit Verweis auf die umfangreichen Studien der Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom zu Gemeingütern kommt der Autor zu dem Schluss, „dass viele Fragen der Daseinsfürsorge in den meisten Ländern vor Ort durch die Kommunen oder durch kommunale Einrichtungen geregelt werden können.“ (S. 188) Mit entsprechenden staatlichen und internationalen Rahmenbedingungen, die die Einhaltung gemeinsamer Spielregeln (keine Übernutzung, keine Unternutzung, kein Ausschluss) festlegen, ist die gemeinschaftliche Bewirtschaftung von Ressourcen in Bereichen der Daseinsvorsorge und des Umweltschutzes eine zukunftsträchtige und daher verstärkt zu verfolgende Alternative.
Zu III. „Realotopia“ oder über die Bedingungen einer nachhaltigen Gesellschaft
Im letzten Teil des Buches lotet der Autor aus, was in einer globalisierten Gesellschaft noch national und was international regelbar und regelungsbedürftig ist – und wie sich entsprechende Regelungen in demokratische Strukturen gießen lassen. Denn mit Blick auf die Wirtschaftsentwicklung eines Landes (Bsp.: China) wird klar: Wirtschaftlicher Aufschwung bedarf keiner Demokratie. Aber nichtsdestotrotz zeigt sich auch, dass sich „letztlich in fast allen hoch entwickelten Staaten am Schluss die Demokratie durchgesetzt hat“ (S. 206). Denn die demokratische Legitimierung, die zugleich eine Kontrolle der Mächtigen durch das Volk ist, fungiert als Korrektiv bei Fehlentwicklungen und stabilisiert so Gesellschaften auf lange Frist. Doch die Demokratie sieht sich besonders von Seiten der Medien und der Ökonomie erheblichem Druck ausgesetzt. Schließlich können Medien, neben ihrer Rolle als demokratiefördernde Instanz, ebenso demokratiefeindliche Züge aufweisen. Dies zeigt sich beispielhaft an Medienimperien, wie jenem Rupert Murdochs, die ihre Macht weniger zur Kontrolle staatlicher Machtverwendung einsetzen als zur Maximierung des Unternehmensprofits. Das Kapital als weiteren Machtfaktor zu klassifizieren, begründet Hentschel mit den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Sie zeigen, dass die „ökonomischen Zwänge“ zunehmend die politische Arena dominieren (S. 218). Macht und Einfluss sind also jene Faktoren, die eine Demokratie kontinuierlich gefährden. Nichtsdestotrotz ist es die Freiheit, die bislang nur eine Demokratie zu gewähren vermag. Sie stellt eine attraktive Option dar, nach der die meisten Menschen auf unserer Welt streben.
Auch auf internationaler Ebene führt gemäß Hentschel kein Weg an der Demokratisierung bestehender Institutionen vorbei, um eine zukunftsfähige globale Klima-, Steuer- und Entwicklungspolitik zu gestalten. Sei es auf europäischer Ebene, auf der sich die Demokratisierung mittels Länderreferenden über eine (Nicht-)Zugehörigkeit zur EU herstellen ließe, oder auf internationaler Ebene, in der die gleichwertige Repräsentanz aller Länder, sowie das Abschaffen der Vetorechte erste und wichtige Schritte wären. Einen unserer Zeit angemessenen Leitsatz entnimmt der Autor den Schriften Hans Jonas, der den Kant´schen Imperativ folgendermaßen adaptiert: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (S. 253)
Diskussion
Die Stärke dieses Buches liegt in seiner integrierten Herangehensweise an die zentralen Probleme unserer Zeit. Dass Gerechtigkeitsfragen, die so dringlich wie heute schon lange nicht mehr waren, mit Fragen des Klimawandels und der (Un-)Gleichheit in einer Gesellschaft verknüpft werden, zeugt von analytischer Stärke und dem Wissen um die Komplexität dieser Probleme. Der Autor bedient sich gekonnt aus einem Koffer voller Theorien und empirischer Ergebnisse zu Ungleichheit (Wilkinson/Pickett), Gerechtigkeit (Rawls, Sen/Nussbaum) und den Grenzen des Wachstums (Meadows, Jackson), sodass die Lektüre des ersten Kapitels geradezu ein Vergnügen darstellt. Der zweite Teil widmet sich sodann dem Herauspicken nachahmenswerter Beispiele, die Zeugnis ablegen von der langjährigen (kommunal-)politischen Tätigkeit des Autors. Der einzige Wermutstropfen ist der mangelnde Miteinbezug historischer Entwicklungen bzw. Pfadabhängigkeiten, wie z.B. des dualen Schulsystems oder der spezifischen Struktur des deutschen Föderalismus. Aus dieser Perspektive heraus wären dann folgende Fragen interessant gewesen: Wie konnten die skandinavischen Länder – die Hentschel durchwegs als leuchtendes Vorbild dienen – in zahlreichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen einen so erfolgreichen Sonderweg gehen? Was waren die Voraussetzungen dafür? Und wie hängt das mit ihrem aktuellen Vermögen zusammen, zukunftsorientierte Politik umzusetzen? Da sich dieses Buch jedoch schwerpunktmäßig der künftigen Entwicklungen und vor allem realisierbaren Politik-Alternativen annimmt, kann aus dem Fehlen einer historischen Perspektive gerechterweise kein Vorwurf gemacht werden.
Fazit
Das Buch ist eine hoffnungsvolle Erörterung dessen, was in einer globalisierten Welt alles doch möglich ist. Insbesondere setzt es auf den vernunftbegabten Menschen, der selbst am besten weiß, was für ihn gut ist – und auch für dessen Kinder. Besonders die praktischen Beispiele, die aus so unterschiedlichen Bereichen, wie der Bildungs- und Innovationspolitik, der Umwelt- und der Steuerpolitik, der internationalen Politik, sowie der Klimapolitik kommen, stimmen den Leser/die Leserin hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass es auch gegenwärtig noch politische Handlungsspielräume gibt und auch Akteure, die diese zu nutzen verstehen.
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
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Es gibt 22 Rezensionen von Laura Sturzeis.
Zitiervorschlag
Laura Sturzeis. Rezension vom 17.06.2014 zu:
Karl-Martin Hentschel: Von wegen alternativlos! Die gerechte Gesellschaft als Ziel. Europa Verlag
(Zürich) 2013.
ISBN 978-3-905811-77-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16540.php, Datum des Zugriffs 04.06.2023.
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