Florian Stoll: Leben im Moment?
Rezensiert von Dr. Maurice Schulze, 09.05.2014

Florian Stoll: Leben im Moment? Soziale Milieus in Brasilien und ihr Umgang mit Zeit. Campus Verlag (Frankfurt) 2012. 366 Seiten. ISBN 978-3-593-39764-1. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Autor
Florian Stoll, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bayreuth Academy.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation von Florian Stoll an der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.
Thema
Das Buch „Leben im Moment?“ von Florian Stoll befasst sich mit den sozialen Milieus Brasiliens vor allem in der Großstadt Recife anhand empirischer Forschung. Mit dieser Arbeit werden theoretische und methodische Herangehensweisen sozialstruktureller Forschung auf außereuropäische Kontexte ausgedehnt. Dabei orientiert sich die mehrdimensionale Analyse sozialer Milieus an Bourdieus Habitustheorie.
Brasilien soll durch die Erhebung qualitativer Daten, die im Kontext des Alltags der untersuchten Menschen gesammelt und vor diesem Hintergrund interpretiert werden, als eine modernen Sozialformation verstanden werden. Als einer der sogg. BRIC-Staaten, sind es gerade die Besonderheiten Brasiliens, die Stoll in seiner Arbeit im Hinblick auf die ökonomischen und politischen Transformationen in der Entwicklung des Landes stärker in den Fokus nimmt. Klischees, die in der Darstellung Brasiliens oft im Vordergrund stehen, sollen somit abgeschwächt werden.
Die in den letzten Jahren nicht nur akademisch diskutierte soziologische Auseinandersetzung über den Umgang mit Zeit, wird durch Stoll in Verbindung mit sozialstrukturellen Differenzen analysiert. Denn wie sich wohl nicht nur für Brasilien feststellen lässt „unterscheidet sich das Verhältnis zu Zeit und Planung in verschiedenen Milieus, da ihre Lebensbedingungen stark voneinander abweichen“ (12). Es wird daher die soziale Schichtung in der brasilianischen Stadt Recife erfasst und auf den Umgang der Menschen mit Zeit und Planung untersucht und, den einzelnen Milieus zugeordnet, erschlossen. Als modern entwickeltes Land mit großen sozialen Unterschieden, zeigt Brasilien dem Autor große Unterschiede im Umgang mit Zeit und der Zeitauffassung. Mit der Verortung sechs unterschiedlicher Milieus und der jeweils eigenen Ausformung des Habitus, werden die „milieuspezifischen Lebensbedingungen“ (15) erfasst und durch entscheidende qualitative Daten ist die Möglichkeit gegeben, „die Wirkung aktueller Veränderungen wie sozialpolitische Maßnahmen“ (ebd.) zu untersuchen. Stoll versteht seine Arbeit als eine „Momentaufnahme sozialer Milieus, ihrer Lebensbedingungen und ihrer Formen des zeitlichen Habitus im urbanen Brasilien, genauer in Recife“ (ebd.). Dabei ist es das Ziel zu zeigen, dass Dimensionen wie „Sozialstruktur, Arbeitsteilung, Kultur und Soziokultur den Umgang mit Zeit und Planung nachhaltig verändern und zu besonderen Formen des zeitlichen Habitus führen“ (18). Weiter soll die Beschreibung und Darstellung der sozialen Milieus, sowie ihrer Lebensbedingungen und Formen eines zeitlichen Habitus einen Vergleich mit anderen Ländern ermöglichen.
Aufbau
Das Buch gliedert sich neben Einleitung und Schlussbetrachtungen in neun Teile, wobei in den ersten drei Kapiteln Methode, Theorie und anschließend der historische und sozio-kulturelle Kontext der Untersuchung erörtert werden. In den darauffolgenden sechs Kapiteln werden die jeweiligen Milieus beschrieben und die Lebensbedingungen sowie die Formen des zeitlichen Habitus dargelegt.
- Theoretischer Rahmen
- Historischer und soziokultureller Kontext
- Die sozialen Milieus
- Oberschicht: Beschleunigtes Leben mit wenig Freizeit
- Obere Mittelschicht: Führungskräfte mit Balance aus Arbeit und Freizeit
- Mittlere Mittelschicht: Langfristige Perspektive (aber Krise seit den 1980er Jahren)
- Untere Mittelschicht: Relative Stabilität
- Arbeiterinnen: Vorrang der Ereigniszeit
- Marginalisierte: Gefangen im Moment
Schlussbetrachtungen
Inhalt
Bourdieus Konzept des Habitus stellt ein zentrales Konzept seiner Theorie der Praxis dar. Diese Theorie macht Stoll nutzbar, um die Differenzen im Umgang mit Zeit durch einen Habitus der Zeit zu erfassen (29). Dafür ist unter anderem die Erläuterung von monochronen und polychronen Formen von Zeit (36) erforderlich um diese mit in die Konzeption einer qualitativen Untersuchung einzufließen zu lassen.
Im folgenden Kapitel reflektiert Stoll den historischen und soziokulturellen Kontext Brasiliens. Dabei werden die historischen Stationen behandelt, die für ein Verständnis der heutigen Verhältnisse Brasiliens von Bedeutung waren. Die besonderen Merkmale des modernen Brasiliens (2.2) leiten hin zur Verortung der Stadt Recife, sowohl im brasilianischen, als auch im regionalen Kontext. Die sozialen Milieus werden von Stoll auf fünf Ebenen des sozialen Raums analysiert: Sozialstruktur, Arbeitsteilung, Kultur und Soziokultur, welche für „Formen des zeitlichen Habitus relevant sind“ (99). Ausführlich behandelt Stoll die Geschichte der oberen, mittleren und unteren Milieus (3.2).
Der Hauptteil der Arbeit bilden die Kapitel 4 bis 9, in welchen die einzelnen Milieus beschrieben und die jeweiligen „Lebensbedingungen und Formen des zeitlichen Habitus“ (137) ausführlich dargestellt werden. In diesen Ausführungen orientiert sich Stoll an einem Ordnungsmuster, welches zuerst eine allgemeine Beschreibung des jeweiligen Milieus liefert. Darauf folgt die Verortung des Milieus innerhalb der Sozialstruktur, die sich aus dem Volumen und der Struktur von Kapital und Einkommen, dem Zugang zu Bildung und der symbolischen Stellung ergibt. Die Stellung in der Arbeitsteilung gliedert sich in die Arbeitsformen und Tätigkeiten (bspw. 4.2) und deren zeitliche Strukturierung. Auf die Betrachtungen von jeweiligem Habitus und des Lebensstil folgen die soziokulturellen Einflüsse. Stoll leistet eine Analyse der Vorarbeiten auf sein Hauptaspekt: Dem zum jeweiligen Milieu gehörigen zeitlichen Habitus. Aus den vorher genannten Aspekten leitet er im Zusammenhang mit seinen empirischen Erhebungen für die Oberschicht einen Habitus des „Beschleunigten Lebens“ (170), für die Obere Mittelschicht eine „Balance aus Arbeit und Freizeit“ (199), sowie für die Arbeiterinnen einen „Vorrang der Ereigniszeit“ (294) und für die Marginalisierten eine „Gefangen[heit] im Moment“ ab. Die zeitlichen Habitus der Untergruppen schließen die Kapitel der jeweiligen Milieus ab.
Jedes Kapitel bietet einen eingehenden Blick auf die Differenzen und Eigenschaften der sehr unterschiedlichen Milieus, die Stoll mit seinen empirischen Forschungen untermauert und nachvollziehbar darlegt.
Fazit
Florian Stoll legt mit seiner Dissertation eine umfangreiche Studie über die Sozialstruktur Brasiliens vor, die sich jenseits stereotypisch vereinfachter Sichtweisen, mit dem besonderen Problem des Umgangs mit Zeit beschäftigt. In der Anwendung Bourdieus Sozialtheorie unter Berücksichtigung der angeführten Dimensionen (Sozialstruktur, Arbeitsteilung etc.), rekonstruiert er den zeitlichen Habitus im Zusammenhang mit den milieuspezifischen Lebensbedingungen. Dieser weicht je nach Lebenssituation zum Teil stark von einander ab. Pünktlichkeit und der Hang zur Planung ist nicht für alle Milieus gleichermaßen von Bedeutung. Verbindliche Terminabsprachen oder an den Tag gelegte Flexibilität, so zeigt Stoll nachvollziehbar und deutlich mit seiner empirischen Forschung, lassen sich anhand der Sozialstruktur und weiterer Vergleichsdimensionen in Zusammenhang stellen. Die Erweiterung des theoretischen Horizonts bezüglich der Fragen von Entwicklung, Modernisierung und der Referenz auf transformatorische Zusammenhänge, werden mit Studien, wie sie Florian Stoll mit dieser Arbeit vorgelegt hat, für Perspektiven über den europäischen Tellerrand an Bedeutung gewinnen.
Rezension von
Dr. Maurice Schulze
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