Ute Frevert: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.03.2014

Ute Frevert: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne.
Verlag C.H. Beck
(München) 2013.
258 Seiten.
ISBN 978-3-406-65609-5.
17,95 EUR.
Beck´sche Reihe - 6104.
Vertrauen ist … mehr als Kontrolle
„Vertrauen haben“, als ethische und moralische Charaktereigenschaft hat im philosophischen, gesellschaftlichen und individuell-alltäglichen Denken und Handeln einen hohen Stellenwert. „Vertrauen ist ein Phänomen, das… Komplexität reduzieren kann und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ – diese Lesart steckt in den Gewissheiten, mit denen wir eine vertrauensvolle Einstellung verbinden und einfordern für alle individuellen, lokalen und globalen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde (Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12878.php). In der Charta der Vereinten Nationen (1945) wird an die Völker der Erde appelliert, „unseren Glauben an die Grundrechte der Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau…, nach Treu und Glauben…“ zu entwickeln und auszuüben. Ohne Zweifel steckt in dieser Aufforderung und Hoffnung die Erwartung, dass es der Menschheit gelingen möge, Vertrauen zueinander aufzubauen, „durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und Sicherheit beizutragen, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken, die den Völkern der Welt ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion durch die Charta der Vereinten Nationen bestätigt worden sind“, wie es in der Verfassung der UNESCO vom 16. 11. 1945 heißt. Die Fähigkeit, Vertrauen zu entwickeln, zu geben und zu nehmen, wirkt sich zum einen in alltäglichen, individuellen und lokal- und global-gesellschaftlichen Zusammenhängen aus, zum anderen im institutionellen, nationalen und internationalen Rahmen. Insbesondere in Krisensituationen zeigt sich, dass Vertrauen geben und empfangen eine notwendige, aber gleichzeitig problematische Vorleistung darstellt und eine breit gefächerte, kooperative Vertrauensbasis benötigt (Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14664.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Nach Vertrauen wird überall gefragt, und Vertrauen wird formell und faktisch bei vielfältigen, privaten, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Anlässen angeboten und gefordert. Die „Vertrauensfrage“, etwa im parlamentarischen Rahmen, gilt genau so als bedeutsam, wie in einer persönlichen Beziehung, im familiären und Freundeskreis. Misstrauen hingegen schafft Konflikte, kann Menschen entzweien und zu Völkerschlachten und Bürgerkriegen führen. Einer Vertrauensperson kann man getrost Geheimnisse anvertrauen; und Vertrauensleute, als Ombudsmann oder Ombudsfrau sind unparteiische Schiedspersonen, die bei Streit oder rechtlichen Auseinandersetzungen institutionell bestätigte Funktionen ausüben. Interessant ist, dass in der antiken Philosophie eine wort- und sinnähnliche Bedeutung von Vertrauen lediglich in der Gegenüberstellung von philia, Freundschaft und tyrannis, Unrechtsherrschaft, zum Ausdruck kommt. Freundschaft als Tugend braucht keine Forderung nach Gerechtigkeit, „denn wahre Freunde tun einander kein Unrecht“; wie tyrannis als „despotische Alleinherrschaft… die schlechteste und am weitesten von der richtigen Verfassung entfernte Verfassung“ ist (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 446 und 613). Erst im späten 18. Jahrhundert entwickelt sich der Begriff „Vertrauen“ zu einem alle Lebensbereiche umfassenden Nenn- und Soll-Wort. Die theatralische Feststellung – Das Wort wird zur Tat – lässt sich bei der Entwicklung des Begriffs Vertrauen getrost feststellen.
Die Historikerin und Direktorin des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Ute Frevert, legt mit „Vertrauensfragen“ ein Buch vor, mit dem sie, wie im Untertitel formuliert „eine Obsession der Moderne“ konstatiert. Sie will den Begriff nicht nur beim Wort nehmen, sondern die vielfältigen Bedeutungen, Anwendungsformen und intellektuellen wie alltäglichen Ausprägungen historisch und aktuell herausarbeiten. Das ist kein l´art pour l´art – Unternehmen, sondern eine notwendige Auseinandersetzung, weil insbesondere der Vertrauensbegriff im alltäglichen, gesellschaftlichen und politischen Leben Anwendung findet, wo es sinnvoll und weiterführend wäre, wirklich danach zu fragen: „Was ist Vertrauen?“ – und „Meint der andere, der die Vertrauensfrage stellt, damit das gleiche wie ich?“ (vgl. dazu auch: Joachim Detjen, Reden können in der Demokratie, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16527.php)
Aufbau und Inhalt
Insgesamt sieben Aspekte sind es, die von der Autorin herangezogen werden, um den Begriff semantisch, historisch, aktuell, alltäglich, gesellschaftlich und politisch auf die Spur zu kommen und die vielfältigen Bedeutungsinhalte darzulegen.
Im ersten Kapitel werden „Fragen, Begriffe, Bedeutungen“ geklärt, der wissenschaftliche Diskurs erläutert, die Theoriebildungen diskutiert und Forschungsergebnisse vorgestellt.
Mit dem zweiten Kapitel „Vertrauen lexikalisch“ werden die Wandlungsprozesse verdeutlicht, die sich seit dem 18. Jahrhundert bis heute vollziehen. Der spannende Frage „Wächst das Vertrauen der Menschen im Verlauf der Moderne?“ wird in den folgenden Kapiteln nachgegangen:
Im dritten Teil mit dem Zitat: „Nie sollst du mich befragen“ wird mit historischen Beispielen danach Ausschau gehalten, in welchen Zusammenhängen die Werte Liebe und Treue zum Vertrauen stehen.
Mit dem vierten Kapitel betrachtet die Autorin Situationen, die „Vertrauen im Nahbereich“ aufzeigen: Freunde, Kameraden, Lehrer. Die Spannweite von Formen wie Urvertrauen, Selbstvertrauen und Weltvertrauen zeigt sich im Erziehungsverhalten, pädagogischen Vertrauensverhältnissen, bis hin zum Missbrauch des Vertrauens.
Mit „Vertrauens-Ökonomien“ zeigt die Autorin im fünften Kapitel auf, wie sich die Zu-Mutung zu Vertrauen in ökonomischen Zusammenhängen entwickelt hat, vom Kredit-, dem Genossenschafts- und Bankenwesen, vom Konsumenten- bis Markenvertrauen, bis hin zu den Vertrauenskrisen, wie sie sich in den lokalen und globalen Finanz-, Wirtschafts-, System-, Umwelt-, Politik- und sozialen Katastrophenszenarien entwickelt haben.
Zwangsläufig steht im sechsten Kapital der „Vertrauensstaat“ auf dem Prüfstand der Reflexionen. Der historische Schnell-Ritt durch die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte vermittelt eine Lehre, die heute mehr denn je Bedeutung hat: „Vertrauen … moralisch überfrachten verkehrt sich ins Gegenteil, in Misstrauen und Krisenstimmung“.
Im siebten und letzten Kapitel der Reflexionen über „Vertrauen“, formuliert Ute Frevert „obsessive Fragen“ und gibt „kritische Antworten“ zum Bedeutungswandel und historischen und aktuellen Gebrauch des V-Worts. Dabei werden Füllwörter diskutiert, die möglicherweise überzogene Erwartungshaltungen relativieren sollen, wie etwa „Zuversicht“ als parteipolitische Strategie; es wird darauf verwiesen, wie sich Vertrauenserwartungen im gesellschaftlichen Umgang individualisiert und emotionalisiert haben; und nicht zuletzt, welche (politische) Macht die „Sprache des Vertrauens“ gewonnen hat. Die Autorin entgeht klugerweise der Versuchung, allzu wertend die Entwicklungs- und Handhabungsprozesse zu kommentieren. Indem sie semantisch, historisch und aktuell die Bedeutung von „Vertrauen“ analysiert – und dabei Tendenzen aufzeigt, die es erleichtern, die Akte von Vertrauensforderungen und -beweisen verstehen und einschätzen zu können – leistet sie eine wichtige, Denk- und handlungsleitende Arbeit: „Vertrauen als persönliches, zwischenmenschliches Gefühl segelt gleichsam im Windschatten moderner Sicherheitsarchitektur“. Dass sie in diesem Zusammenhang auf den Begriff „good governance“ verweist, zeigt zudem, dass eine individuelle und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Tugend „Vertrauen“ lokal und global dringend notwendig ist (vgl. dazu auch: Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php).
Fazit
Ute Frevert schreibt das Buch in einer allgemeinverständlichen Sprache. Dadurch besteht die Chance, dass es nicht nur in relevanten wissenschaftlichen Zirkeln gelesen wird, sondern auch für den individuellen, alltäglichen Gebrauch nutzbar ist. Für die wissenschaftliche Nutzung wäre es hilfreich, die zahlreiche als Anmerkungen ausgewiesene Literatur in einem Literatur- und/oder Sachverzeichnis darzustellen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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