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Olaf Geramanis, Kristina Hermann (Hrsg.): Organisation und Intimität

Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Simsa, 02.07.2014

Cover Olaf Geramanis, Kristina Hermann (Hrsg.): Organisation und Intimität ISBN 978-3-89670-973-8

Olaf Geramanis, Kristina Hermann (Hrsg.): Organisation und Intimität. Der Umgang mit Nähe im organisationalen Alltag - zwischen Vertrauensbildung und Manipulation. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2014. 310 Seiten. ISBN 978-3-89670-973-8. D: 26,95 EUR, A: 27,80 EUR, CH: 36,90 sFr.
Reihe: Management, Organisationsberatung.

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Thema

In diesem Buch wird das Begriffspaar „Organisation und Intimität“ aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Die dem Thema inhärente Grunddifferenz ist die Unterscheidung von öffentlich und privat. In Familie und der Gemeinschaft von Befreundeten befindet man sich jenseits der Dominanz ökonomischer Kalküle. Liebe oder Freundschaft gelten als Inbegriff des Intimen und Intimes gehört nicht an die Öffentlichkeit. Demgegenüber muss die Organisation primär sachlichen Aufgaben und Zielen gerecht werden. Formalisierte, asymmetrische Machtstrukturen und die prinzipielle Austauschbarkeit der Funktionsträger sind hierbei die Bedingung der Möglichkeit.

Wie viel Nähe und Emotionalität ist für ein optimales Funktionieren tatsächlich wünschenswert? Inwieweit kommt die Organisation den sozialen Grundbedürfnissen der Mitarbeitenden entgegen oder wird die Ausbeutung der Intimität lediglich auf die Spitze getrieben? Ist es die Aufgabe von Führung und Beratung, mehr individuelle Grenzen einzureissen, oder ist es ihre Aufgabe, die Individuen in ihrer Abgegrenztheit zu respektieren und zu unterstützen?

All diese Fragen bündeln die Herausgeber zu zwei zentralen Fragestellungen: Zum einen fragen sie danach, wie es Menschen gelingen kann, individuelle Grenzen zu wahren und gleichzeitig Bindung einzugehen. Zum anderen geht es angesichts funktionaler Differenzierung um die Bedeutung von Organisationen für die Stiftung von Sinn und Einheit.

Herausgeber und Herausgeberin, Autorinnen und Autoren

Olaf Geramanis ist Diplompädagoge, Supervisor und Trainer für Gruppendynamik. Er war zunächst Offizier der Bundeswehr und wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der Universität der Bundeswehr. Seit 2004 ist er Dozent für Sozialpsychologie und Beratung an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Kristina Hermann ist Diplompsychologin, Trainerin für Gruppendynamik unter Supervision und Gestaltberaterin und Planspielentwicklerin. Von 2008 bis 2012 als Unternehmensberaterin und Trainerin tätig und seit 2011 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Trainerin an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Mit Beiträgen von Sabine Donauer, Peter Fuchs, Beat Fux, Olaf Geramanis, Peter Heintel, Urs Kaegi, Stephan Kasperczyk, Franz Kasperski, Karin Lackner, Brigitte Liebig, Stephan Marks, Susanne Möller-Stürmer, Uwe Sielert, Marianne Streisand, Robindro Ullah, Rudolf Wimmer.

Entstehungshintergrund

Das Buch wurde erstellt in Vorbereitung der gleichnamigen Changetagung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz und gleichzeitig mit der Tagung vorgelegt. Grundfragen der Tagung und damit auch des Buches waren die folgenden:

  • Wie nah darf die Organisation den Menschen und müssen die Menschen einander kommen – bzw. wie viel Distanz können sich Mitarbeitende noch leisten?
  • Wie viel Emotionalität ist für ein optimales Funktionieren innerhalb der Organisation wünschenswert; und wo beginnt die Ausbeutung der Intimität durch die Organisation?
  • Ist es die Aufgabe von Führung und Beratung, mehr individuelle Grenzen einzureißen, oder gilt es stattdessen, die Individuen in ihrer Abgegrenztheit zu respektieren und zu unterstützen?

Aufbau und ausgewählte Inhalte

Im Folgenden wird der Aufbau überblicksartig dargestellt sowie exemplarisch auf einige Kapitel etwas ausführlicher eingegangen.

In Kapitel I geht es um theoretische Zugänge.

Peter Fuchs diskutiert, warum sich Organisationen trotz ihrer inhärent anderen Logik der Familien- oder Gruppensemantik bedienen, und das, obwohl Familien ja weniger ein Harmoniemodell sind, sondern vielmehr eines für enthemmte Kommunikation und die Aufhebung zivilisatorischer Standards im Umgang miteinander. Medium ist hier die Liebe, definiert dadurch, dass die Beteiligten sich wechselseitig „Höchstrelevanz“ zuweisen müssen, in allen denkbaren körperlichen und psychischen Belangen. Im Verweis auf die Team- oder Familienmethapher durch die Organisation realisiert sich ihm zufolge „die ständig erwünschte und fortlaufend markierte Chance auf eine nicht organisierbare Relevanz von Mitgliedern in der Organisation für die Mitglieder der Organisation.“ 12 Nützliche Funktion davon ist es, nicht erzwingbare Zusatzleistungen zu erhalten, wenn etwa Leistungen erbracht werden, um der Kollegen willen. Eine besondere Funktion der Familie ist die Komplettbetreuung der Person unter Voraussetzungen funktional differenzierter Gesellschaften. Interessant ist, dass auch in Organisationen Personen eine erhebliche Bedeutung besitzen. Damit handeln sich Organisationen zwar Probleme ein, insbesondere aufgrund der Nicht-Steuerbarkeit der in diesem Theoriekonzept als psychische Umwelt begriffenen Innenwelten der Mitglieder – die Familienmethapher ist, in Form von Appellen, der Zugang zu den Personen, die mithin ja doch eine Rolle in der Organisation spielen.

Rudolf Wimmer untersucht die unterschiedlichen Logiken, die in Familienunternehmen aufeinander treffen und sich nicht immer harmonisch zueinander passend entwickeln.

Uwe Sielert sucht Gelingensbedingungen einer passenden Sexualkultur in Organisationen, also nach sexueller Selbstbestimmung auch in der Organisation und widmet sich damit einem Thema, das sonst meist im Gefolge von Problemen, Missbrauch und Gewalt als Frage der Prävention aufgegriffen wird, bisherige Diskurse über Sexualität sind ihm demnach einseitig auf das Misslingen fixiert. Dieses ist ihm zufolge u.a. dann unwahrscheinlicher, wenn die vielfältigen Facetten des Sexuellen als Teil jeder Kommunikation und auch von Organisationskulturen wahrgenommen und bewusst gemacht werden können. Organisationen leben von ihrer Sexualkultur, die u.a. die Basis der Informationskultur sind, v.a. aber Energie zur Verfügung stellt, und man kann sie auch danach betrachten, wie weit sie diese Energie rigide unterdrücken. Eine gelingende Sexualkultur kann Kraftquelle sowohl für die Organisation als auch für ihre Mitglieder sein, dies braucht jedenfalls die Kompetenz der ausgewogenen Gestaltung funktionaler und persönlich-emotionaler Aspekte, die Fähigkeit, Sinnlichkeit situationsangemessen und verantwortungsvoll ausdrücken zu können und auch das Beurteilungsvermögen, ob bestimmte Formen der Beziehungsintimität mit dem Organisationszweck vereinbar sind und die angemessene Form des Umgangs mit Macht.

Beat Fux analysiert die politischen Dimensionen des Ausgrenzungsverhaltens von Rauchern, das Rauchen vor dem Haus sieht er als sozialen Ort, wo Gemeinschaft, also emotionale oder soziale Nähe erlebt wird. Die Personen, die durch das Rauchen Exklusionserfahrungen machten, besetzen somit neue Räume, die sie neben der Befriedigung eigener Bedürfnisse zur Entwicklung einer informellen Betriebskultur nutzen, an der nur Raucher partizipieren. Wie es Karin Lackner schreibt: „Die gemeinsame Verbannung schafft eine intime Gemeinschaft.“ 111 Organisationen stehen jedenfalls innerhalb des Interaktionsgefüges von Intimität und Organisation unterschiedliche Strategien im Umgang mit dem Phänomen zur Verfügung, die eher machtorientiert im Sinne Foucaults, kooperativ oder tolerant sein können. Es wird argumentiert, dass die häufigste Form im Tolerieren von Privatsphäre und Intimität liegt, und sich die radikale Entsubjektivierung, die sowohl in der Systemtheorie als auch in Foucaults Machttheorie proklamiert wird, nicht so leicht durchsetzen lässt. Intimität lässt sich trotz aller Kolonialisierung der Lebenswelt offenbar nicht gut aus betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen eliminieren.

Kapitel II hat die Überschrift „Zentrum und Peripherie – Eine Tour d´Horizon“.

Zunächst betrachtet Peter Heintel Intimität als Kompensationsphänomen, als Ausweg aus der Kälte der Anonymität und der funktionellen Reduktion und narzistischen Kränkungen durch unpersönliche Organisationen. So können Organisationen zwar durchaus per se sinnstiftend sein, indem ihre Zwecke dazu dienen, arbeitsteilig für das Überleben der Gesellschaft zu sorgen. Abschwächend dabei wirkt allerdings, dass sie nicht bloß Zwecke für andere verfolgen, sondern Selbstzweck sind, sowie negative Folgen, die sich aus dem (Zusammen)wirken von Organisationen ergeben. Wo Sinn nicht mehr in der Arbeit gefunden werden kann, entsteht ein latenter Emotionsüberschuss, der seine Befriedigung in intimen und persönlichen Gestaltungen des Arbeitsklimas oder der Arbeitsbeziehungen sucht.

Karin Lackner analysiert intime Inszenierungen als Glaubensbekenntnisse. Am Beispiel eines „Teams“, das jegliche Intimität ablehnt, sich damit eigentlich ganz im Sinne der Organisation verhält und alle nicht zur Arbeitswelt gehörenden Elemente, wie Geburtstagsfeiern, Teamevents u.ä. auf ihren Platz im Privaten verweist, auf Seiten der diese repräsentierenden Hierarchie damit aber auf Unverständnis stößt, zeigt sie wunderbar das ambivalente Verhältnis zwischen Organisation und Intimität. Organisationen sind daran interessiert, dass Menschen funktionalisiert werden und einfach im Sinn der Arbeitsbeschreibung funktionieren. „Gerade weil besagte Teammitglieder eben genau dieses tun, was die Organisation von ihnen erwartet, beunruhigen sie die Organisation.“ 107 Organisationen brauchen zwar funktionierende Einheiten, erheben gleichzeitig aber doch Anspruch auf den ganzen Menschen, das Intime wird somit immer auch ein Stück instrumentalisiert.

Marianne Streisand betrachtet die Inszenierung von Intimität am Beispiel des Theater und Sabine Donauer gibt unter dem Titel „Emotions at Work – Working on Emotions“ einen Rückblick auf die Geschichte der industriellen Erwerbsarbeit.

In Kapitel III geht es um die Organisation im Zentrum.

Olaf Geranmanis diskutiert die Zukunft der Organisation und fragt, ob man Teams vertrauen kann, Brigitte Liebig die betriebliche Politik der Emotionen. Stephan Marks fragt nach der Bedeutung von Scham als Wächterin der Intimsphäre und der Menschenwürde für Organisationen und Urs Kaegi argumentiert, dass kooperatives Handeln Schutz vor Intimität braucht.

Den Abschluss bilden in Kapitel IV essayistische Zugänge von Susanne Möller-Stürmer:

  • Die Tabuwand – Ein Experiment zum Umgang mit dem Ungesagten,
  • Franz Kaperski: Der Terror totaler Transparenz,
  • Robindro Ullah: Soziale Medien und Intimität – eine Bestandsaufnahme und
  • Stephan Kasperczyk: Intimität und Ritual – Nutzen und Grenzen im Kontext lateraler Führung.

Fazit

Das Buch bietet teils ungewöhnliche Zugänge zur Thematik Organisation und regt damit auf kreative Weise einen neuen, erfrischenden Blick auf dieses theoretisch schon so umfassend betrachtete Phänomen. Es geht um die „Verbrüderung zweier höchst konträrer Begriffe“ 61, die sich dennoch permanent parallel realisieren.

Rezension von
Prof. Dr. Ruth Simsa
Wirtschaftsuniversität Wien
Institut für Soziologie, NOP Institut
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Es gibt 76 Rezensionen von Ruth Simsa.

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Zitiervorschlag
Ruth Simsa. Rezension vom 02.07.2014 zu: Olaf Geramanis, Kristina Hermann (Hrsg.): Organisation und Intimität. Der Umgang mit Nähe im organisationalen Alltag - zwischen Vertrauensbildung und Manipulation. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2014. ISBN 978-3-89670-973-8. Reihe: Management, Organisationsberatung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16580.php, Datum des Zugriffs 04.06.2023.


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