Sven Bernhard Gareis, Johannes Varwick: Die Vereinten Nationen
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 14.04.2014

Sven Bernhard Gareis, Johannes Varwick: Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2014.
5. Auflage.
428 Seiten.
ISBN 978-3-8252-8573-9.
D: 18,99 EUR,
A: 19,50 EUR,
CH: 26,70 sFr.
Reihe: UTB - 8328.
Autoren
Sven Bernhard Gareis ist Deputy Dean am George C. Marshall Center for Securitiy Studies in Garmisch-Partenkirchen, einem 1993 auf Initiative der USA gegründeten deutsch-amerikanischen Partnerschaftsprojekt, sowie Honorarprofessor an der Univ. Münster.
Johannes Varwick hat einen Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg.
Thema
Wie der Untertitel bereits ankündigt, werden die Aufgaben der Vereinten Nationen (VN) und die Instrumente zu ihrer Realisierung, d.h. die Organisationsstrukturen, beschrieben, und zwar in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Außerdem werden die Schwierigkeiten, die Ziele einzulösen, geschildert und kommentiert und Reformanstrengungen und -konzepte erläutert.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist in fünf Teile gegliedert.
Nach der Skizze der Gründungsgeschichte und der politikwissenschaftlichen Einordnung der VN (Teil A) ist jeweils ein Teil den Instrumentarien der Friedenssicherung, des Menschenrechtsschutzes und der Lösung von Fragen der ungleichen Entwicklung und des Umweltschutzes gewidmet. Mit dem Teil E über „Reform und Neuorientierung der Vereinten Nationen“ schließen die Vf. ihre inhaltlichen Ausführungen ab. Der umfangreiche Anhang (Teil F) enthält Diskussionsfragen und Leseempfehlungen, Materialien (u.a. die Charta der VN und die Liste der Mitgliedsstaaten), das Literatur- und Quellenverzeichnis, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Sachregister.
In Teil A, Kapitel 1 umreißen die Vf. das System der VN, skizzieren die geschichtliche Entwicklung von der Gründung am Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur jüngsten Phase seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und erläutern die Ziele und Grundsätze gemäß der Charta der VN sowie die Arbeitsweisen und Modi der Entscheidungsfindung. Unter diesem Aspekt sind die Spezialorgane (wie das Entwicklungsprogramm UNDP) und Sonderorganisationen (wie die ILO) von Interesse, aber auch die Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren (NGOs und Unternehmen) – Gegenstand der Unterkapitel 1.4 und 1.5. Auch die Finanzierung des Systems wird erklärt. Ein Organigramm und andere Graphiken erleichtern das Verständnis.
Kapitel 2 hat theoretischen Charakter. Die Vf. referieren, welche Position verschiedene Schulen der Politikwissenschaft zur Funktion internationaler Organisationen einnehmen. Außerdem werden die Konsequenzen der Globalisierung für die internationale Politik erörtert.
Der umfangreiche Teil B hat das Instrumentarium im Bereich der Friedenssicherung zum Thema. Eingangs erläutern die Vf. das historisch neue, erstmals mit dem Völkerbund eingeführte Prinzip der kollektiven Sicherheit, dann Entwicklung, Begriff und Umfang des Allgemeinen Gewaltverbots. Gegenstand von 1.4 ist das kollektive Sicherheitssystem der VN-Charta mit den verschiedenen Eskalationsstufen im Konfliktfall, angefangen von Bemühungen friedlicher Streitschlichtung bis zu militärischen Maßnahmen.
Nach dem modellhaft angestrebten Prozedere wird in Kapitel 2 die Praxis der Friedenssicherung der VN im historischen Wandel nachgezeichnet und kommentiert, wobei die Vf. im Anschluss an andere Autoren verschiedene Phasen oder „Generationen“ des Peacekeeping identifizieren, die sie anhand herausragender Konfliktfälle genauer rekonstruieren, bis hin zu den Reformbemühungen seit 1990, die vor allem der Wandel des Kriegsbildes notwendig gemacht hat. Inhalt der weiteren Ausführungen sind neue Perspektiven der Friedenssicherung seit dem Brahimi-Report, die mehr auf Konfliktvermeidung und -management abstellen. Auch die Schwierigkeiten von Friedensmissionen, was Logistik und internationale Unterstützung betrifft, werden dargestellt. Weitere Themen sind die Sanktionspraxis des Sicherheitsrats, die Einrichtung der Kommission für Friedenssicherung (2005) zur Stärkung präventiver Maßnahmen und der Konfliktnachsorge, außerdem Abrüstung und Rüstungskontrolle, aber auch die Herausforderung des internationalen Terrorismus.
In Teil C über den Schutz der Menschenrechte stellen die Vf. zunächst deren normative Entwicklung und Kodifizierung dar, und zwar in der Charta der VN und sodann in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Zivil- und Sozialpakt. In Unterkapitel 1.3 „Umfassender Menschenrechtsschutz“ werden die Konventionen gegen Rassendiskriminierung und Folter, zum Schutz von Wanderarbeitern und für die Rechte von Behinderten, vor allem aber auch die Instrumente zur Sicherung der Rechte von Frauen und Kindern vorgestellt. Ausführungen über die „Dritte Generation“ von Menschenrechten, die kollektive Anspruchsrechte beinhalten, beenden das Kapitel 1.
Der institutionelle Rahmen und die Verfahrensregeln zur Gewährleistung der Menschenrechte sind Gegenstand des Kapitels 2 (Teil C). Hier bestimmt „das Spannungsverhältnis zwischen dem normativen Anspruch einer internationalen Organisation und dem Grundsatz der Staatensouveränität“ (180) die institutionellen Möglichkeiten. Das wichtigste Instrumentarium ist die Berichtspflicht der Staaten. In 2.1 wird die Arbeit der verschiedenen Ausschüsse, des Menschenrechtsausschusses des Zivilpakts, des Ausschusses des Sozialpakts, der Ausschüsse gegen Rassendiskriminierung, Diskriminierung der Frauen etc. geschildert. In dem Abschnitt über den 2005 beschlossenen Menschenrechtsrat ist die Information über das neue Instrument des „Universal Periodic Review“ und das Besuchsrecht, das fast die Hälfte der Staaten (übrigens nicht die USA) dem Berichterstatter der VN eingeräumt haben, aufschlussreich. Eine weitere Einrichtung ist das Hochkommissariat für Menschenrechte (gegr. 1993), dessen Aufgaben und Aktivitäten behandelt werden, bevor dann die Probleme humanitär begründeter Interventionen diskutiert werden (Relativierung des Souveränitätsprinzips u. Selektivität der Maßnahmen). Die von Westmächten angeregte „responsibility to protect“ wird vorsichtig in Frage gestellt. Der internationale Strafgerichtshof wird vor der abschließenden Bilanz vorgestellt, die etwas ernüchternd ausfällt.
Teil D umfasst die Instrumentarien der VN in den Bereichen Wirtschaft, Entwicklung und Umwelt, etwas vereinfacht die Entwicklungszusammenarbeit und Umweltpolitik. Die Vf. leiten diesen Teil mit einer metaphorischen Darstellung der krassen Ungleichheit auf dem Globus ein, mit der Kofi Annan im Milleniumsbericht von 2000 die VN aufrütteln wollte, und belegen im Folgenden sein Urteil mit Zahlen. Zugleich müssen sie die relative Hilflosigkeit der VN konzedieren. In den Unterkapiteln 1.1 ff. werden die Zuständigkeiten und Tätigkeitsbereiche dargestellt, wobei zwischen den Bretton-Woods-Organisationen (Weltbank, IWF) und den anderen Organisationen und Programmen zur Entwicklungszusammenarbeit (z.B. FAO, UNIDO, UNCTAD, UNDP) unterschieden wird; denn anders als bei letzteren entscheidet bei ersteren die Wirtschaftsleistung über das Stimmengewicht, was die Dominanz der Industriestaaten bedingt. Effizienzkriterien stehen demokratischen Standards gegenüber. Breiten Raum nimmt die Darstellung der Entwicklungsziele des Milleniumsgipfels von 2000 und deren mangelhafter Umsetzung ein. Weitere Inhalte sind Flüchtlingsschutz, Nahrungsmittelhilfen, Bevölkerungs- und Gesundheitsfragen im Programm der VN (Kapitel 1.3).
Kapitel 2 dieses Teils behandelt die Umweltpolitik in den VN, eine politische Agenda, die internationale Kooperation unverzichtbar macht. Allerdings konstatieren die Vf. eine „Zuständigkeitslücke“ und ein „Anreizdefizit“ (281), ungeachtet der Bedrohung durch Wüstenbildung, Verlust der Biodiversität und Klimaänderung. Deutlich wird, dass diese Probleme noch nicht sehr lange auf der Agenda stehen, obwohl immerhin eine einschlägige Erklärung der VN schon 1972 zu verzeichnen ist, dem Jahr der Gründung des Umweltprogramms (UNEP). Die eigentliche Umweltpolitik beginnt mit der Klimakonferenz von Rio (1992), der dann in Abständen weitere Klimagipfel gefolgt sind, deren bescheidene Ergebnisse referiert werden. Am Beispiel des Kyoto-Protokolls klären die Vf. über den Status von Konventionen, Programmen und Protokollen auf. Als bisher einzig erfolgreich wird das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht bewertet. Kurz gestreift werden schließlich die Klimarahmenkonvention, der Emissionshandel und der gescheiterte Klimagipfel von 2009. Die klimapolitische Bilanz fällt genauso bescheiden aus wie die entwicklungspolitische.
Von Teil F über die Reformansätze sei nur vermerkt, dass vordringlich „eine wirksame Koordination des Gesamtsystems mit seinen vielfältigen Verschachtelungen und Redundanzen“ zu sein scheint (302). Weitergehende institutionelle Reformen bzw. Reformdiskussionen betreffen u.a. die Zusammensetzung des Sicherheitsrats. Abgewogen werden darüber hinaus alternative Politikmodelle (Stichwort Global Governance). Die Autoren schließen mit fünf Thesen zur Rolle der VN – Tenor: reformbedürftig, aber unverzichtbar.
Diskussion
Der Band ist sehr informativ. Von der einseitigen Position der Autoren in Sachen Geopolitik muss man absehen. Sie ist so klar und eindeutig, dass sich der Leser/ die Leserin selbst ihr Urteil bilden kann. Der Umgang mit der Politik der USA und der NATO kann als äußerst schonend charakterisiert werden. Der Krieg gegen den Irak von 2003 wird bspw. beschönigend als „eine ernsthafte Belastungsprobe“ für das System der internationalen Friedenssicherung bezeichnet (40). Die NATO wird umstandslos unter regionale Abmachungen zur Friedenssicherung subsumiert (118). Immerhin werden aber teilweise bei solchen Themen auch kritische Stimmen zitiert. Das Konzept der „responsibility to protect“ wird als diskussionswürdig behandelt. Generell offener erscheinen die Positionen in den Teilen über den Schutz der Menschenrechte, die Entwicklungs- und Umweltpolitik der VN.
Fazit
Nicht von ungefähr hat der Band inzwischen die fünfte Auflage erreicht. Wer sich mit dem Thema Vereinte Nationen beschäftigt, kommt daran kaum vorbei. Das Sachregister macht ihn auch als Nachschlagewerk geeignet.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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