Dirk Baier, Thomas Mößle (Hrsg.): Kriminologie ist Gesellschaftswissenschaft
Rezensiert von Dr. Thorsten Benkel, 20.08.2014

Dirk Baier, Thomas Mößle (Hrsg.): Kriminologie ist Gesellschaftswissenschaft. Festschrift für Christian Pfeiffer zum 70. Geburtstag. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 892 Seiten. ISBN 978-3-8487-1134-5.
Thema
Als Forschungsdisziplin ist die Kriminologie irgendwo zwischen Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft angesiedelt – mit Schnittmengen zur Psychologie, Erziehungswissenschaft, aber auch zu Philosophie und Ökonomie, und mit nicht weniger Berührungspunkten zur Politik, sei es nun die politische Wissenschaft in akademischen Zirkeln oder Politik als praktisches „Anwendungsfeld“ gesellschaftlicher Steuerung. Insofern ist die Kriminologie tatsächlich fraglos eine „Gesellschaftswissenschaft“, und der vorliegende Band verspricht eine vielschichtige Betrachtung dieses einerseits scheinbar so klaren, aber andererseits immer wieder kontrovers diskutierten Sachverhalts.
Herausgeber
Dirk Baier und Thomas Mößle sind Mitarbeiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen in Hannover.
Entstehungshintergrund
Der umfangreiche Band erscheint als Festschrift zum 70. Geburtstag von Christian Pfeiffer, dem vielleicht prominentesten deutschen Kriminologen, der zudem ehemaliger Justizminister von Niedersachsen ist und gegenwärtig als Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes in Hannover firmiert. Das Buch ist zugleich Band 43 der Schriftenreihe „Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung“.
Aufbau
62 Beiträge und ein Interview mit dem Jubilar sind in die Komplexe „Kriminologie“ bzw. „Politisches und Persönliches“ eingeordnet und dort jeweils in alphabetischer Reihenfolge nach Autorennamen aufgeführt.
Inhalt
Die Themenfelder, die Christian Pfeiffer während seiner jahrzehntelangen Laufbahn untersucht hat, dienen als Leitlinien für die Beiträge der Weggefährten, Unterstützer, Freunde und Fachkollegen, wenngleich offenkundig ist, dass es immer auch darum geht, persönliche und professionelle Beziehungen zur Person Pfeiffer darzustellen. Insofern treffen (mehr oder weniger) wissenschaftliche Beiträge auf (mehr oder weniger) persönliche Texte, die immer auch ein bisschen Hommage sind.
Zu Pfeiffers Themen zähl(t)en unter anderem Jugendkriminalität, Medien und Gewalt, Resozialisierung und Strafeinstellungen. Daraus leiten die Beiträge Überlegungen aus juristischer, soziologischer, rechtspsychologischer usw. Perspektive ab, die etwa um innerfamiliäre Bedrohungslagen kreisen; es werden Abstumpfungseffekte durch den „Medienzirkus“ (46) und Computerspiele diskutiert, Kommunikationsprobleme vor Gericht angekreidet, es wird das gesellschaftliche Alkoholproblem aufgezeigt, Kriminalitätsdarstellungen im Fernsehen werden kritisch hinterfragt, Sozialarbeitsansätze in der Kriminologie rekonstruiert, und auch der Gefängnisalltag, Probleme mit Gewalten gegen Migranten sowie tagesaktuelle politische Essays finden sich in diesem bunten Reigen, der der klassischen Idee einer Festschrift entspricht. Denn darin geht es nicht so sehr um stringente Argumentationsketten am Leitfaden eines eng zugeschnittenen Sachverhalts, sondern um durchaus heterogene Skizzen, als deren gemeinsamer Nenner das Werk der gewürdigten Person fungiert.
Pfeiffer hat sich nicht nur als Professor an der Universität Hannover und als Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes einen Namen gemacht, sondern ist weiten Kreisen der gebildeten Bevölkerung zum einen als Kommentator aufsehenerregender Kriminalfälle und zum anderen als niedersächsischer Justizminister im Kabinett Gabriel bekannt. Auch dieser, der eher wissenschaftsfernen und dafür öffentlichkeitswirksamen Seite, wird in der Festschrift Rechnung getragen: Manch namhafter (SPD-)Politiker, dem man die Verwendung von Auguste Comte-Zitaten nicht unbedingt auf Anhieb zugetraut hätte (701), wird dank der vielfachen Begabungen des Jubilaren plötzlich in das ungewöhnliche Licht eines Beitragsschreibers jenseits alltagspolitischer Publikationszwänge gerückt. Sporadische Referenzen auf Pfeiffer, wie sie sich in den kriminologisch geprägten Texten finden lassen, machen in den eher zwischenmenschlich gefärbten Beiträgen recht persönlichen (und mitunter auch versöhnlichen) Stimmen Platz. Insofern ist der Band zuvorderst in der Tat eine Auseinandersetzung nicht mit der Kriminologie, sondern mit einem bestimmten Kriminologen.
Diskussion
Die Rezension einer Festschrift mag untypisch sein, weil es sich in erster Linie um eine Dankesgabe handelt, um ein „Buch von Freunden“, das nur sehr bedingt einen größeren Adressatenkreis anspricht. (Umso interessanter ist, dass wissenschaftliche Verlage mittlerweile dazu neigen, den Festschriftcharakter zumindest nicht auf dem Deckblatt hinauszuposaunen; so auch im vorliegenden Fall.) Manche Festschrift ist eine Spielwiese für abseitiges Denken – für Thesen, die in „anerkannten Blättern“ keinen Platz hätten; manch andere bietet nur mehr Beweihräucherungen; und wieder andere lesen sich wie ‚normale‘ Sammelbände. Im vorliegenden Fall findet eine Trennung zwischen den Blöcken „Kriminologie“ und „Politisches und Persönliches“ statt, aber an der immanenten Heterogenität des Buches ändert diese (im Einzelfall bisweilen strittige) Kategorisierung nichts.
Und doch gibt es rote Fäden, die Leser, welche sich durch alle Texte kämpfen (wie viele Vertreter dieser heroischen Rezipientensorte wird es geben?), auffinden können. Einer davon besagt, dass Kriminologie als Gesellschafts-, und eben nicht nur als Rechtswissenschaft, einen gewissen ‚Regelungsbedarf‘ bezüglich gesellschaftlicher Probleme zu erfassen und anzumelden, wenn nicht gar umzusetzen hat. Nicht wenige Texte sind von einer interventionistischen Sichtweise geprägt, die durchaus als pragmatische Perspektive verstanden werden kann. Sie ist politisch weniger im ideologischen Sinne, als vielmehr bezogen auf Lösungen für Ordnungslücken und -störungen. (An einer Stelle wird sie denn auch als „forensische Sozialarbeit“ charakterisiert; 403ff.) Angesichts realer Verwirklichungspotenziale, die nun einmal stärker im politischen denn im akademischen Areal wurzeln, sind diese Beitrag aber nicht immer wissenschaftlich „überkonfessionell“. Was demgegenüber fehlt – eben weil der Pragmatismus vorne steht –, sind Reflexionen über theoriebildende Maßnahmen; aber die Praxeologie des geschilderten Gesamtprogramms kommt offenbar auch ohne erfolgreich aus. (Irgendwo weit hinten taucht an einer Stelle kurz der Name Luhmann auf.)
Es geht, natürlich, häufig um abweichendes Verhalten. Eine nüchterne, stärker quantitativen als qualitativen Instrumenten verpflichtete Sichtweise findet sich in zahlreichen Beiträgen, dadurch kommt es mitunter jedoch zu Deutungs- bzw. Übertragungsproblemen – etwa dann, wenn Zuschreibung von nicht-devianten Beobachtern gegenüber Akteuren vorliegen, die das Abweichende ihres Tuns (wenn man so will: den „Sinnüberschuss“ ihres Handelns) überhaupt nicht (an-)erkennen (vgl. nur 211ff. für das Beispiel Alkoholkonsum). Beim Durchlesen drängt sich an anderen Stellen der Gedanken auf, dass Kriminologie nicht Gesellschafts-, sondern vor allem Datenwissenschaft ist, so sehr verzichten diese Beiträge auf analytische Schärfe. (Man darf hoffen, dass die nüchtern-deskriptiven Bilanzen von Forschungsunternehmungen, auf die diese Etikettierung zutrifft, letztendlich anders aussehen, als sie sich hier lesen lassen.) Die Tendenz diverser Autoren, neben die persönliche Verbindung zum Jubilaren eher blasse Abrisse über diese oder jene empirisch bald mehr, bald weniger gut belegte Kausalbeziehungen zu stellen, weist den vorliegenden Band nicht eben als Biotop innovativer Überlegungen aus. Anstelle bloßer Berichterstattung (so sachdienlich das manchmal auch ist), wären ein Nachbohren an Gründen und Motiven oder vielleicht auch ein Sinnieren über die gesellschaftlichen Auslöser dieser oder jener Devianzproblematik vielleicht fruchtbarer gewesen. Dann wäre dem geneigten Leser (und geneigt muss man bei fast 900 Druckseiten schon sein) ein Buch in die Hand gelegt worden, das just dann ansetzt, wenn der akademische Mainstream schon das Bürolicht ausgeschaltet hat. Für die Titelthese „Kriminologie ist Gesellschaftswissenschaft“ wäre das womöglich gewinnbringender gewesen.
Pfeiffer, der Pragmatiker, der die politischen und die wissenschaftlichen Diskussionsfelder kennt (und volksnah, wie er ist, auch mal im Kundenmagazin von „Roßmann“ publiziert; 24), wird geehrt mit Wortmeldungen, die häufig seine Aktivitäten wertschätzen. Er, der „auf der Klaviatur der Soziologie und des Rechts gleichermaßen“ (702) Virtuosität beweist, sei ein „Alphamensch“ (724) mit Talenten selbst beim anthroposophischen Kochkurs (709)! Verständlich ist, dass einige faktische Deutungsmissgriffe Pfeiffers in der Vergangenheit – verschärft durch seine große Mediennähe – nicht thematisiert werden. Aber wäre es nicht doch machbar gewesen, mehr zu erfahren über den Streit zwischen Kirche und Kriminologischem Forschungsinstitut, der dazu führte, dass es aus dem Hannoveraner Institut keine Studie über den Missbrauchsskandal gab? Angesprochen wird ferner, dass Pfeiffer gegen Simplifizierungen im Stile einer „Dämonisierung des Bösen“ kämpft – während zugleich manche seiner Aussagen etwa zum Diskurs Mediengewalt sich selbst als Vereinfachung lesen lässt (siehe diesbezüglich 367ff. für eine Gegenstimme).
Es geht in dem Band vielfach um Hellfelder und Dunkelziffern. Die Entscheidung, die Autoren alphabetisch anzuordnen, ist sicher keine einleuchtende Idee gewesen, denn so wird das ohnehin heterogene Buch noch unsortierter. Inmitten des Potpourris fallen dann aber doch immer wieder interessante Stellen auf, die sich etwa dem Theorie-Praxis-Transfer der Kriminologie widmen, die Methodologie der „Vertextlichung“ von Kriminalität aufgreifen, die Diskrepanz der Polizeilichen Kriminalstatistik zur Kriminalitätsdarstellung im Fernsehen thematisieren, und auch tagesaktuelle Bezüge etwa zum NSU-Terror lassen sich finden. Ein Durchstöbern der Festschrift kann sich also durchaus lohnen, auch wenn man nicht nur das – fraglos verdiente – Lob auf Pfeiffer goutieren möchte.
Fazit
Das Buch ist ein Kaleidoskop von Versuchen, die gesellschaftliche Relevanz der Kriminologie im Rahmen einer Festschrift für einen prominenten Fachvertreter zu demonstrieren. Vielfalt ist Trumpf, denn die Bandbreite zwischen Banalität und Scharfsinn wird umfangreich ausgelotet.
Rezension von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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