Silke Trumpa, Stefanie Seifried et al. (Hrsg.): Inklusive Bildung
Rezensiert von Prof.in Dr. Ulrike Zöller, 09.05.2014

Silke Trumpa, Stefanie Seifried, Eva Franz, Theo Klauß (Hrsg.): Inklusive Bildung. Erkenntnisse und Konzepte aus Fachdidaktik und Sonderpädagogik. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 340 Seiten. ISBN 978-3-7799-2918-5. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
Der Herausgeberband geht der Frage nach, wie Inklusion im Rahmen von schulischen Bildungsprozessen gelingen kann. Der Fragestellung wird anhand der Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention hinsichtlich der Entwicklung von Methoden, der Bereitstellung von Hilfsmitteln, der Qualifizierung von Menschen und einer intensiven Forschung sowohl auf der Makroebene, wo es um die Professionalisierung der Lehrkräfte geht, und der Mikroebene, wo es um den täglichen Unterricht und differenziertes Lernen geht, nachgegangen. Ein Anliegen des Bandes ist, einen Überblick über die Aktivitäten der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zum Thema Inklusive Bildung zu geben
HerausgeberInnen
Die Herausgeber_innen arbeiten an der Fakultät für Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Entstehungshintergrund
Der Herausgeberband greift die gesamte Breite der Bearbeitung des Themas ‚Diversität und Inklusion‘ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in den letzten Jahren auf. Das vorliegende Buch basiert auf Erfahrungen mit dem Übergreifenden Studienbereich (ÜSB), mit einem eigenen Modul ‚Diversität und Inklusion‘ und mit der fakultätsübergreifenden Vernetzung von Forschungsprojekten an der Hochschule. Das Veranstaltungsformat „Sonderpädagogik meets Fachdidaktik“, das einen festen Platz im Lehrangebot, bei Fachtagungen sowie bei Qualitätstagen einnimmt, liefert weitere Impulse.
Aufbau
Im Herausgeberband werden internationale und nationale Forschungserkenntnisse präsentiert, die in fünf Teilbereiche eingeteilt werden. Die Teilbereiche bearbeiten die Themen Grundlagen, Kompetenzen für den inklusiven Unterricht, inklusive Unterrichtspraxis/Didaktik, inklusive Hochschuldidaktik und internationale Erfahrungen. Sie werden mit folgenden Titeln überschrieben:
- Einschätzung der aktuellen Situation – Grundlagen
- Auf die Lehrperson kommt es an – Lehrerprofessionalität
- Wie gemeinsamer Unterricht funktionieren kann - Inklusive Didaktik
- Kooperative Lehrerbildung – Inklusive Hochschuldidaktik
- Von anderen Bildungssystemen lernen – Internationale Perspektiven
Inhalt
Teilbereich 1 widmet sich in erster Linie der Frage, welche Gelingensbedingungen für (schulische) Inklusion herangezogen werden können. Der lesenswerte Artikel von Kerstin Merz-Atalik gibt einen Einblick in den Inklusionsbegriff der UNESCO und den Leitlinien für die Bildungspolitik, die einen Forschungsauftrag erfordern. Interessant ist, dass die Autorin die Entwicklung der Integrations- und Inklusionsforschung in den deutschsprachigen Ländern Europas skizziert und diese in grundlegende Intentionen, Perspektiven und Forschungsfelder einordnet. Gleichzeitig zeigt sie Schwierigkeiten der Forschung zur inklusiven Bildung in Deutschland auf und ordnet diese kritisch ein. Die ausgewählten Erkenntnisse der Integrations- und Inklusionsforschung zu den Aspekten wie Lern- und Leistungsentwicklung sowie Wohlbefinden und Akzeptanz im Unterricht, bilden die Basis für das Aufzeigen von ausstehenden Forschungsperspektiven und Forschungsdesideraten für die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems. In Teilbereich 1 werden außerdem aktuelle Forschungsarbeiten dargestellt. Diese widmen sich der Darstellung der Einstellungsforschung von Lehrkräften und Eltern aus Mannheim, von Experteninterviews mit Akteur_innen im Bildungswesen mit dem Fokus auf Interpretationsprozesse zu Inklusion und einer weiteren Einstellungsforschung zur Entwicklung von Haltungen von österreichischen Lehrpersonen aus den Jahren 1998 und 2009 durch fortschreitende schulische Inklusion. Die drei Artikel zu Forschungsarbeiten hinsichtlich Einstellungen (Vera Heyl & Stefanie Seifried), Rekontextualisierung (Silke Trumpa & Frauke Janz) sowie Fortentwicklung der Einstelllungen und Haltungen (Susanne Schwab) geben interessante Innenperspektiven zum Thema. Es lassen sich Gelingensbedingungen ableiten, die freilich noch weiter erforscht werden müssen.
Teilbereich 2 widmet sich der Professionalität der Lehrpersonen, die diese für einen inklusiven Unterricht erwerben müssen. Es werden vor allem Studien dargestellt, die erste Ergebnisse zulassen. Dennoch ist es interessant zu erfahren, welche Forschungsanstrengungen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zu den Fragestellungen Professionalität von Lehrpersonen (Vera Moser), Kompetenzen für den inklusiven Unterricht (Silvia Greiten) und Vorbereitung der Studierenden (Eva-Kristina Franz) unternommen werden. Interessant ist die Vorstellung des Projekts KONECS (Koblenzer Netzwerk Campus, Schulen und Studienseminare), das den Blick auf Herausbildung einer inklusiven Diagnostik im inklusiven Unterricht wirft (Heike de Boer). Die Einstellung zur Inklusion bei Studierenden wird anhand der Ergebnisse einer Online-Umfrage referiert (Julia Grabmüller, Annalena Heiß, Silke Trumpa).
Teilbereich 3 stellt Möglichkeiten einer inklusiven Didaktik vor. Dieser Teilbereich widmet sich dem Thema sowohl fachpraktisch als auch forschungstheoretisch. Besonders der Artikel zum Texte (schreiben) im inklusiven Unterricht ist hier herauszustellen, da er einen erweiterten Blick auf das Verfassen von Texten im Deutschunterricht eröffnet. Johannes Hennies und Michael Ritter stellen sowohl fachdidaktisch als auch fachwissenschaftlich plausibel dar, wie inklusiver Deutschunterricht für alle Kinder im Unterricht gestaltet werden kann. Das Fallbeispiel Wladimir stellt überzeugend die Gefahr heraus, dass das Potential eines mit mehreren Risikofaktoren behafteten Kind von schulischen und ärztlichen Gutachter_innen nicht gesehen und didaktisch deshalb nicht aufgenommen wird. Zwei weitere fachpraktische Artikel zum Einsatz von literarästhetischen anspruchsvollen Bilderbüchern im inklusiven Unterricht (Steffen Volz, Maja Wiprächtiger-Geppert) und zur Rolle von Schulbegleiter_innen im inklusiven Klassengeschehen (Wiltrud Thies) zeigen die Breite des Themas und die damit zusammenhängenden fachpraktischen Themen auf. Die beiden Studien zu Lern- und Leistungsmotivation bei Schüler_innen mit Lernbehinderung mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (Susanne Schwab, Marco G. P. Hessels) und zur Interessenentwicklung von Kindern aus soziokulturell benachteiligten Familien im Übergang von Kindergarten zur Schule (Michael Lichtblau) formulieren (inklusive) Lehrstellen, auf die im systemischen Kontext geachtet werden muss.
Teilbereich 4 nimmt konkrete Beispiele der universitären Lehrer_innenbildung in den Blick. Die Beiträge basieren auf Expertisen von durchgeführten Workshops, die durch das Veranstaltungsformat „Sonderpädagogik meets Fachdidaktik“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg entwickelt wurden sowie von durchgeführten Seminaren der Verfasser_innen. Es werden Materialien und Umsetzungsbeispiele vorgestellt, wobei die Perspektive des jeweiligen Faches mit fachdidaktischen, erziehungswissenschaftlichen und sonderpädagogischen Überlegungen zusammengeführt werden. Teilbereich 4 gibt eine Fülle Anregungen und Umsetzungsbeispiele für inklusives Lernen, z.B. im Rahmen des inklusiven Religionsunterrichts (Teresa Sansour, Adelheid von Hauff), des Umgangs mit Zeit als zentrale kulturelle Komponente für den Alltag (Birgit Werner, Bernward Lange, Eva-Kristina Franz), der Problemorientierung in der Biologiedidaktik (Lissy Jäkel, Julia Ricart Brede) sowie der Sprachförderung für Lerner_innen mit Deutsch als Fremdsprache, die einen wesentlichen Stellenwert im Zusammenhang mit Inklusion einnimmt (Anne Berkemeier, Erika Kaltenbacher). Die Beschreibung der Förderung phonologischer Bewusstheit für den Schrift- und Orthographieerwerb in inklusiven Settings (Anne Berkemeier, Mareike Drinhaus) und der Weitergabe von Anregungen zur Gestaltung eines Mathematikunterrichts in inklusiven Settings (Andrea Schäfer, Birgit Werner) beenden den fachpraktischen Einblick.
Der Herausgeberband wird mit Teilbereich 5 abgeschlossen, der internationale Erfahrungen und Erkenntnisse aus Kanada, Italien und Japan aufgreift. Der interessante Artikel von Anne Sliwka zeigt am Beispiel der kanadischen Provinz Alberta, wie ein Schulsystem, das bereits 1972 auf inklusive Bildung umgestellt hat, die damit verbundenen schulstrukturellen und schulkulturellen Herausforderungen bewältigen kann. Die Autorin stellt außerdem Überlegungen zur Weiterentwicklung inklusiver Schulen in Deutschland an. Elisabetta Ghedin berichtet in ihrem Beitrag über eine Studie aus Grundschulen und Kindergärten in der Provinz Padua in Italien, wo der Frage nachgegangen wurde, welche Überzeugungen („beliefs“) Lehrpersonen bezüglich Co- Teaching haben, welche Hindernisse diese davon abhalten und welche Strategien die Wirkungskraft der Lehrpersonen bezüglich Co-Teaching stärken können. Abgeschlossen wird Teilbereich 5 mit einem Beitrag von Ulrike Nennstiel, die die Gruppenerziehung in Japan erläutert und die Möglichkeiten für die Betroffenen analysiert, die wegen ihres Sozialverhaltens an allgemeinen Schulen scheitern.
Diskussion
Der Herausgeberband zeigt deutlich auf, welches komplexe Thema die schulische Bildung auf allen Ebenen umsetzen muss, wird Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention als Menschenrechtsaufgabe ernst genommen. Inklusion bedeutet eben nicht, dass Schüler_innen, die bisher in Fördereinrichten besondert unterrichtet wurden, in einen Regelunterricht soweit es geht, im Sinne einer De-Segregation zu integrieren sind. Vielmehr geht es darum, einen Gesamtunterricht zu gestalten, der alle heterogenen Mitglieder der Klasse befähigt, nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Damit geht ein Umdenken auf struktureller, gesellschaftlicher und innerschulischer Ebene einher, was viel mehr beinhaltet als „Einrichten“ oder „Implementieren“. Es geht um „Umgestalten“. Das Buch, das sich in erster Linie, durch seine Anbindung an die Pädagogische Hochschule Heidelberg, an die schulische Bildung wendet, zeigt durchaus auch interessante Aspekte für angrenzende pädagogische Felder, beispielsweise in der Jungendberufshilfe und der Migrationspädagogik, da Inklusion alle benachteiligten Gruppen einer Gesellschaft im Blick behalten muss.
Zu bedauern ist, dass die referierten Studien des Bandes häufig nur erste Befunde wiedergeben. Hier ist zu hoffen, dass es zu einer Ergänzung mit den Abschlussergebnissen kommen kann und diese auch in einen breiteren Kontext als in der schulischen Bildung, im Sinne eines weiten Inklusionsverständnisses, übertragen werden. Störend wirkt sich außerdem das Fehlen von Überleitungen bzw. eines roten Fadens zwischen den einzelnen Artikeln der Teilbereiche aus. Manchmal drängt sich das Gefühl auf, dass hier eher willkürlich vorhandene Artikel in einen Teilbereich angegliedert („aneinandergereiht“) wurden. Auf der anderen Seite zeigen die Herausgeber_innen mit diesem Vorgehen, dass das Thema inklusive Bildung noch in keinster Weise abgeschlossen ist, sondern sich die Beschäftigung damit in einem „work-in-process“ Verfahren befindet. Ein Schlusskapitel, das die vielen Hintergründe und Erkenntnisse zusammenführt, wäre zum weiteren Verständnis sinnvoll gewesen.
Fazit
Der Herausgeberband gibt vielfältige Einblicke in die Themen inklusive Bildung und inklusive Pädagogik. Die Artikel klären in gut verständlicher Sprache auf, geben fachliche Hinweise, Informationen und Umsetzungsbeispiele. Es wird ein Forschungsgebiet ausgewiesen, das in der Bundesrepublik noch in den Anfängen steckt, aber unbedingt verfolgt werden muss.
Rezension von
Prof.in Dr. Ulrike Zöller
Professorin für Theorie, Methodik und Empirie Sozialer Arbeit
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