Christa Markom: Rassismus aus der Mitte
Rezensiert von Prof. Dr. Claus Melter, 21.04.2015
Christa Markom: Rassismus aus der Mitte. Die soziale Konstruktion der „Anderen“ in Österreich.
transcript
(Bielefeld) 2014.
226 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2634-6.
D: 29,99 EUR,
A: 30,90 EUR,
CH: 40,10 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
Autorin
Doktorin Christa Markom lehrt Migrationsanthropologie am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien mit den Arbeitsbereichen Rassismus-, Migrations- und Bildungsforschung
Methodik und inhaltlicher Aufbau
Anhand von drei Sprech- und Beziehungsnetzwerken (eine in einem Sportverein, eine Nichtregierungsorganisation in den Bereichen Migration, Integration und Rassismuskritik sowie einer Gruppe, die sich regelmäßig in einer Kneipe trifft) in Wien und einer west-österreichischen Kleinstadt werden Sprachpraxen und Diskurse analysiert, die in den Themenbereichen „Kultur und Multikulturalismus“, „Rasse und Rassismus“ sowie „Migration und Integration“ zu verorten sind.
Methodisches Analyseinstrumentarium sind das Konzept der „Speech Communities“ von Marcyliena Morgan (2004) sowie die Diskursanalyse sprachlicher Handlungen in Anlehnung an Jürgen Link (1982, 1983, 2006) und Michel Foucault (1969, 1976, 2001).
Der Arbeit liegt ein sozialanthropologisches Verständnis von Rassismus zugrunde, welches betont, dass die Einteilung in „Eigene“ (Selfing) und die Zuschreibung als „Andere“ (Othering) kulturell hergestellt, historisch und kontextuell wandelbar und machtvoll mit Privilegien und Diskriminierung verbunden ist. Zudem werden beim Rassismus oft phänotypische Merkmale als Anlass für Großgruppen-Kategorisierungen benutzt, die mit der Hierarchisierungen der konstruierten Gruppen und mit vereinheitlichenden kulturellen Zuschreibungen verbunden sind (vgl. S. 41ff.). Rassismus hat stets eine Funktion, sei es um ausbeuterische Praxen wie den Kolonialismus oder systematische Privilegierung in einer von Rassismus mitstrukturierten Gesellschaft legitimieren zu wollen oder um situativ mehr Anerkennung in der Gruppe zu erhalten. Mit Bourdieu wird eine ideologische, strukturelle und alltagspraktische Ebene von Rassismus unterschieden (vgl. S. 15).
Die Erhebungsmethoden sind teilnehmende Beobachtung, episodische Einzelinterviews und Gruppeninterviews. Bezogen auf die untersuchten Fragen schreibt Markom in Anlehnung an Marcyliena Morgan: „Jeder Mensch agiert in mehreren Speech Communities und variiert seine Auswahl der Begriffe und seine Art, zu sprechen, je nach Umfeld und Thema. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang nicht nur, wie gesprochen wird (mit welcher Auswahl von Wörtern), sondern auch die Reaktion auf die getätigten Aussagen.“ (S. 58)
Der Feldzugang erfolgte durch Kontaktaufnahmen im Lebensumfeld der Autorin, die sich selber ebenso wie die Befragten der etablierten Mehrheitsgesellschaft zuordnet. Die sozialen Zugehörigkeiten dieser Personengruppen sind u.a. dadurch gekennzeichnet, über mehrere Generationen KEINE transnationalen Migrationsgeschichten von Familienangehörigen zu haben und sich als dazugehörig und bevorrechtigt zu sehen.
Nach Kontaktaufnahme mit einer Person wurden über diese nach dem Schneeballprinzip weitere Personen für die Interviews und die teilnehmende Beobachtung dieser Kleingruppe gewonnen. Ausgewertet wurde die Gespräche mit einem u.a. an Jürgen Link und Michel Foucault angelegtem diskursanalytischem Verfahren. Kennzeichnend für die Arbeit ist das folgende (vgl. Markom S. 34) Diskursverständnis: „Ich gehe davon aus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“ (Foucault 2001: 10).
Die drei ausführlich vorgestellten Speech Communities/ Beziehungsnetzwerke werden anhand jeweils dreier zentraler Akteur_innen und ihrer Profile vorgestellt (S. 65 – 89). Im Großkapitel (S. 93-160) wird analysiert wie in den Gruppen die Themen „Kultur und Multikultualismus“, „Heimatverbundenheit und Grenzen“ sowie „‚Rasse‘ und Rassismus“ ausgehandelt werden. Im dritten Kapitel werden anhand der Gruppendiskussionen, teilnehmenden Beobachtung sowie der Einzelgespräche die Konstruktionen von Differenz und Gemeinsamkeit sowie das Thema „Political Correctness“ untersucht (vgl. S. 163-204). Am Ende folgen die Conclusio und die Literaturliste.
Zentrale Ergebnisse
Alle drei Sprechgemeinschaften bestehen ausschließlich aus majorisierten und etablierten Personen, die als „österreichisch“ und „einheimisch“ angesehen werden und sich so sehen. Zwei der Gruppen vertreten weit überwiegend eine klare und abwertende Einteilung in so gesehen bevorrechtigte „Eigene“ und die als weniger berechtigt angesehenen „Anderen“, die sich anpassen sollen und tendenziell als defizitär und als belastend angesehen werden. Markom reflektiert systematisch die eigene soziale Positioniertheit (vgl. S. 23 ff.), bei der sie sowohl als majorisierte Österreicherin und als „weiß“ angesehen wird als auch als fachkompetente Akademikerin, und ihre Rolle und Involviertheit in den Gesprächen.
Die Gruppe aus der sich kritisch verstehenden Nichtregierungsorganisation nimmt auch systematische Benachteiligungen und strukturellen und institutionellen sowie ideologischen und handlungspraktischen Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft gegen Personen mit Migrationsgeschichte als Thema auf. Deutlich wird jedoch auch, dass eine grundlegende Differenzherstellung in „Einheimische“ und „Migrant_innen“ auch von dieser Gruppe vertreten wird. Gleiches gilt für die Annahme, dass es scheinbar wesenhafte „kulturelle Unterschiede“ gebe.
In allen dreien Gruppen zeigt sich zudem das Phänomen, dass sich in Einzelgesprächen kritisch äußernde Personen in Gruppensituationen bei den gleichen Themen der dominanten Meinung schweigend oder sprechend zustimmend anschließen.
Diskussion und Fazit
Der Ansatz, dass majorisierte und privilegierte Mehrheitsangehörige hinsichtlich Rassismus untersucht werden, entspricht der sich zunehmend entfaltenden critical whiteness-Forschung, die bei Rechtsextremismus und Rassismus nicht nur besondere, als außenstehend vorgestellte extreme Gruppen untersucht, sondern die Strukturen, Ideologien und Handlungspraxen der „Mitte der Gesellschaft“ in den Fokus der Analyse stellt. Ob der Terminus der „Political Correctness“ (S. 191-204), der auf sehr problematische Weise u.a. von rechtsextremen Gruppen funktionalisiert wird, um Menschenrechtsverletzungen und rassistische Beleidigungen zu legitimieren, nicht noch kritischer von der Autorin hätte gerahmt werden können, erscheint überlegenswert.
Die grundlegende Theorie als auch das methodische Herangehen sind ebenso wie die Analyse und Auswertung der Gespräche fundiert, gut nachvollziehbar und inspirierend. Es handelt sich um ein für Interessierte, Studierende und Fachleute sehr empfehlenswertes, theoretisch fundiertes und analytisch gut nachvollziehbares Buch, um sich mit Fragen der Herstellung und Aushandlung von Machtverhältnissen und Rassismus auseinanderzusetzen.
Rezension von
Prof. Dr. Claus Melter
Hochschule Bielefeld, Arbeitsschwerpunkte diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Krankenmorde in Bethel im Nationalsozialismus, Koloniale Völkermorde in Tanzania und Namibia.
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Zitiervorschlag
Claus Melter. Rezension vom 21.04.2015 zu:
Christa Markom: Rassismus aus der Mitte. Die soziale Konstruktion der „Anderen“ in Österreich. transcript
(Bielefeld) 2014.
ISBN 978-3-8376-2634-6.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16637.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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