Micha Brumlik, Stephan Ellinger u.a.: Theorie der praktischen Pädagogik
Rezensiert von PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey, 01.04.2014

Micha Brumlik, Stephan Ellinger, Oliver Hechler, Klaus Prange: Theorie der praktischen Pädagogik. Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns.
Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2013.
178 Seiten.
ISBN 978-3-17-023661-5.
29,90 EUR.
Reihe: Pädagogik.
Autoren
Micha Brumlik ist emeritierter Professor und lehrte zuletzt am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Stephan Ellinger ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Oliver Hechler ist Privatdozent am Institut für Sonderpädagogik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Klaus Prange ist Prof. i. R. und lehrte zuletzt am Institut für Erziehungswissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen in der Abteilung Allgemeine Pädagogik.
Entstehungshintergrund
Eine theorielose Praxis einerseits und eine unpraktische Theorie andererseits bilden für die Pädagogik seit Langem ein polarisiertes Spannungsfeld. Seit Anbeginn der akademischen Forschung zu Erziehung und Bildung wurde es immer wieder zum Gegenstand durchaus berechtigter Klagen. Einerseits sollen Erziehende sich nicht vom ‚Schlendrian‘ (Herbart) leiten lassen; sie brauchen pädagogische Lehrsätze, also eine ‚Theorie‘. Andererseits wurde zahlreichen pädagogischen Theorien bis in die Gegenwart hinein wiederholt vorgeworfen, praktisch unbrauchbar zu sein. Dieses Spannungsverhältnis aus verschiedenen Perspektiven aufgreifend haben nun vier Vertreter der Erziehungswissenschaft eine „Theorie der praktischen Pädagogik“ vorgelegt, in der es laut eigener Aussage im ersten Kapitel des Bandes „um die Formulierung einer pädagogischen Fachkunde, die letztendlich zwischen Theorie und Praxis, zwischen Disziplin und Profession angesiedelt ist“, gehen soll.
Aufbau und Inhalt
Zur Abbildung dieser ‚pädagogischen Fachkunde‘ wählen die Autoren eine Gliederung in zentrale Kapitel (Kap. 2 bis 4):
- „Pädagogisches Wissen“ (S. 19ff.),
- „Pädagogisches Sehen, Denken und Handeln“ (S. 96ff.) und
- „Pädagogisches Ethos“ (S. 117f.). Der Band schließt mit einem Ausblick unter dem Titel
- „Pädagogik zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung“ (S. 170, Kap. 5).
Im zweiten Kapitel, „Pädagogisches Wissen“, umreißt Micha Brumlik mit dem Fokus auf „Anthropologische Grundlagen der Erziehung“ das spezifisch Menschliche, mit dem Erziehung als Voraussetzung im Allgemeinen zu tun hat. Dabei geht er nicht einzig von der traditionellen Pädagogischen Anthropologie aus. Stattdessen wird der Versuch unternommen, einen interdisziplinär angelegten Rundumgriff zu einer Synthese für die Pädagogik zu bringen. Neben den klassischen Schriften, die sich mit Fragen nach dem Menschen beschäftigten (so etwa von Kant oder Rousseau) werden neurobiologische Erkenntnisse ebenso eingebracht wie die sozialbehavioristische Theorie von G.H. Mead, Michael Tomasellos evolutionsbiologische Erkenntnisse zur menschlichen Kommunikation, die Einsichten zur Leiblichkeit aus der Psychoanalyse und anerkennungstheoretische Überlegungen. Dabei steht die Frage nach dem Hervorbringen von Erziehung durch Kommunikation und Interaktion im Zentrum der Überlegungen Brumliks. Darüber hinaus stellt er wiederholt den Bezug zum Generationenverhältnis her.
Im zweiten Teil des Kapitels gehen Stephan Ellinger und Oliver Hechler auf „Erziehung als pädagogischer Begriff“ ein, um in einer übersichtlichen Weise zunächst Erziehungsbegriffe in Vergangenheit und Gegenwart vorzustellen und zu diskutieren: die gegenwärtig relevanten Angebote stammen von Wolfgang Sünkel und Klaus Prange, wobei insbesondere auf die verbreitete Rezeption der zwei Operationen ‚Zeigen‘ und ‚Lernen‘ bei Prange abgehoben wird, um „Erziehung in formaler Hinsicht“ ebenso zu beschreiben wie schließlich auch „Elemente der Erziehung“ dargelegt werden. „Räume der Erziehung“ werden im Anschluss anhand der Familie, der Schule und der Selbsterziehung skizziert. Auf diese Weise gelingt es den Autoren, einen explizit als vorläufig gekennzeichneten Erziehungsbegriff zu bestimmen und schlussendlich das Erziehen als Beruf in Bezug zu den zentralen Grundoperationen anderer Professionen zu setzen.
Im dritten Kapitel des Bandes führen Ellinger und Hechler daraufhin in „Pädagogisches Sehen, Denken und Handeln“ (S. 96) ein. Das, was Menschen sich in der Erziehung aneignen, wird in einer systematischen Dreigliederung als Können, Wissen und Wollen beschrieben. Dabei greifen die Autoren auf Otto Willmanns pädagogischen Ternar zurück und schließen diesen disziplingeschichtlich und systematisch an ähnliche Gliederungen an. Im Anschluss wird das Lernen in seiner Prozesshaftigkeit als Zirkelstruktur ebenso diskutiert wie auch ein Überblick über pädagogische Lebensalter wieder auf die zuvor beschriebenen Räume der Erziehung verweist. Dabei wird der Bezug zu einer praktischen Pädagogik deutlich hergestellt.
Im vierten Kapitel führt daraufhin Klaus Prange seine bereits an anderen Stellen begonnenen Ausführungen zu einer pädagogischen Ethik (vgl. Prange 2010; 2011) unter dem Titel „Pädagogisches Ethos“ weiter. Nach einer Klärung der Verhältnisse von Moral, Ethik und Ethos zeigt er, wie Erziehung als Gewissens- und Rechtspflicht bzw. als natürliches Elternrecht einerseits und als vertragliche Obhut andererseits gegenwärtig gestaltet ist. Dabei wird deutlich, welche Unterschiede rechtlicher und moralischer Art zwischen familialer und öffentlicher Erziehung bestehen und welche Konflikte sich aus diesem Erziehungsräumen ergeben. Im Anschluss wird mit Bezug zu Pranges allgemeiner Erziehungstheorie unter anderem eine „Moral des Zeigens als Kern der pädagogischen Beziehung“ skizziert, aus der sich mit Blick auf die Vermittlung von Lerngegenständen eine Systematik hinsichtlich der Verständlichkeit, der Zumutbarkeit und der Anschlussfähigkeit an bereits erworbene Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen der Zu-Erziehenden erschließt. Neben weiteren Aspekten einer pädagogischen Ethik geht Prange abschließend auch auf Fehlformen des Erziehens – durch ein Übermaß oder auch durch ‚zu wenig‘ Erziehung und durch das geflissentliche Übergehen von pädagogischen ‚Kunstfehlern‘ – ein.
Im fünften Kapitel bietet derselbe Autor schließlich noch einen knappen Ausblick unter dem Titel „Pädagogik zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung“, in dem er darlegt, mit welchen Veränderungen eine Theorie der praktischen Pädagogik rechnen muss, insbesondere wenn sie sich auf eine soziale Praxis ausrichtet, die unweigerlich dem historischem Wandel unterworfen ist. Die Theorie ist demnach grundlegend darauf angewiesen, einerseits Einsichten zu bewahren, andererseits aber auch fortgeschrieben zu werden. Doch bei allen Änderungen: „Was bleibt und zu bewahren ist, ist die Vermittlungsaufgabe der Pädagogik zwischen dem Lernen der Einzelnen und der sozialen Organisation des Erziehens, um die gegenwärtigen und die kommenden Herausforderungen des eigenen Handelns zu transformieren“ (S. 177).
Diskussion
Der Band bietet einen beeindruckenden und in dieser Form bisher nicht verfügbaren Stand an Einsichten aus der Allgemeinen Pädagogik, die ihren Fokus entgegen der bisherigen Publikationspraxis in der Disziplin jedoch bewusst auf die Schnittstelle zwischen der wissenschaftlichen pädagogischen Disziplin einerseits und der (familialen und professionellen) pädagogischen Praxis andererseits richtet. Besonders hervorzuheben sind die umfassenden anthropologischen Grundlagen des erzieherischen Handelns und die Kategorien des Wissens, Könnens und Wollens, die als ‚pädagogischer Aufbau der Person‘ skizziert werden. Es ist den Autoren hoch anzurechnen, dass sie sich nicht auf die in Teilen der Erziehungswissenschaft verbreitete und weitgehend unklare Sprache über ‚Kompetenzen‘ einlassen und stattdessen, die spätestens mit Otto Willmann begonnene disziplingeschichtliche Tradition über Kenntnisse, Fertigkeiten und Motive ganz ohne ‚neomanische‘ Anwandlungen (Reichenbach) fortführen. Dieser Zugang unter Verwendung tatsächlich pädagogischer Begriffe ist vielversprechend. Während etwa in den Erziehungs- und Bildungsplänen der Bundesländer immer wieder neue Kompetenzen – je nach spontanem gesellschaftlichem Bedarf – aufkommen, jedoch dabei kaum in einen systematischen Zusammenhang gesetzt werden, bietet das Modell eines pädagogischen Aufbaus der Person nach Wissen, Können und Wollen, einen plausiblen systematischen Überbau. Der Zugang von Ellinger und Hechler schafft somit Klarheit über das Thema der Erziehung und er vermeidet möglicherweise, dass künftig in der pädagogischen Zunft kaum noch jemand versteht, was Menschen sich in Erziehung und Unterricht lernend aneignen. Darüber hinaus bildet die Skizze einer pädagogischen Ethik von Klaus Prange einen Diskussionsbereich an der Schnittstelle zur Ethik und zum Recht, innerhalb dessen eine pädagogische Moral zum Gegenstand wird. Obwohl dieser Bereich in der pädagogischen Disziplin noch recht neu ist bzw. – was sich an der Inanspruchnahme entsprechender klassischer Ideen bei Prange zeigt – gerade erst neu aufgelegt und systematisiert wird, ist eine Klärung moralischer Fragen der Erziehung für in der Profession Tätige wie auch für Eltern höchst relevant.
Einige Einwände sollen die Diskussion abschließen: Obwohl auf Wolfgang Sünkels „Allgemeine Theorie der Erziehung“ in der Einleitung des Bandes und in Bezug auf Erziehungsbegriffe verwiesen wird, finden sich dessen anthropologische Prämissen zur Erziehung weder im anthropologischen Grundlagenteil, noch im Teilkapitel zum Erziehungsbegriff des Bandes von Brumlik et al. Hier wäre eine interessante Synthese möglich gewesen, denn auch Sünkel – wenngleich auf Basis allgemeiner Zugänge und weniger mit interdisziplinären Anspruch – verweist auf anthropologische Prämissen (Sozialität, Kulturalität und Mortalität), die als Probleme die Erziehung mit jeder Generation immer wieder neu hervorbringen (vgl. Sünkel 2011). Darüber hinaus lässt seine Erziehungstheorie als „vermittelte Aneignung nicht genetischer Tätigkeitsdispositionen“ (ebd., S. 46) eine Zusammenführung mit Klaus Pranges Theorie der Erziehung als „pädagogische Differenz von Zeigen und Lernen“ (Prange 2005, S. 95) durchaus zu, da beide Autoren Tätigkeiten bzw. Operationen des Erziehers einerseits (Vermittlung, Zeigen) und des Zöglings andererseits (Aneignen, Lernen) herausarbeiten, die sich dann im didaktischen Dreieck auf einen Lerngegenstand bzw. einem ‚Dritten Faktor‘ hin organisieren.
An einigen Stellen im Teilkapitel zu den Erziehungsbegriffen muss den Leserinnen und Lesern außerdem Widerspruch empfohlen werden: Bezug nehmend auf die bekannte Begriffsbestimmung zur Erziehung von Wolfgang Brezinka interpretieren Ellinger und Hechler, dass „hier [bei Brezinka, U.S.] das erzieherische Verhältnis, das sich durch das Zusammenwirken von Zögling und Erzieher mit Hinblick auf gleichermaßen zu zeigendes wie anzueignendes Thema konstituiert, wieder in den Mittelpunkt des pädagogischen Interesses gerückt“ werde (S. 66). Die zitierte Textstelle von Brezinka hingegen zeigt jedoch gerade dieses Zusammenwirken nicht, da zwar auf mehrere an der Erziehung beteiligte Menschen hinweist, aber die Erziehung dennoch lediglich als erzieherische Einwirkung beschreibt (Erziehung = Erziehen). Dem aneignenden Subjekt wird in dieser Definition von Brezinka eben gerade keine eigene Grundoperation zugesprochen. Zumindest hinsichtlich der angeführten Interpretation sollte das Buch aus Sicht des Rezensenten in einer folgenden Auflage überarbeitet werden.
Fazit
Nichtsdestoweniger bietet der Band einen umfassenden und zugleich kompakten Überblick über die systematischen Dimensionen praktischer Pädagogik. Er wartet mit kenntnisreichen Verweisen auf und ist in sich schlüssig aufgebaut. Das Buch muss daher allen in der Pädagogik (ob in der wissenschaftlichen Disziplin oder in den pädagogischen Professionen) arbeitenden Personen empfohlen werden. Die „Theorie der praktischen Pädagogik“ bietet keine Anleitungen, sondern – was dem Rezensenten grundlegend erscheint – eine Erkenntnis darüber, was im breiten Feld des pädagogischen Handelns, was beim Zeigen und Lernen in erzieherischen Kontexten überhaupt geschieht. Ihr großer Gewinn liegt daher in der strukturellen Einsicht in das Allgemeine des pädagogischen Handelns selbst. Die Erziehungswissenschaft bewegt sich damit einen Schritt weiter in Richtung einer systematischen Klärung ihrer Begriffe und Grundlagen (vgl. Sauerbrey 2014). Darüber hinaus ist das gesetzte Ziel der Autoren des rezensierten Bandes, die Formulierung einer ‚pädagogischen Fachkunde‘, erreicht worden. Wer wissen will, was er oder sie in der Erziehung bzw. im Unterricht eigentlich tut, ist hier an der richtigen Adresse.
Literatur
- Prange, K. (2010): Die Ethik der Pädagogik. Zur Normativität erzieherischen Handelns, Paderborn u.a.: Schöningh.
- Prange, K. (2011). Zeigen – Lernen – Erziehen. Hrsg. v. Karsten Kenklies, Jena: IKS Garamond.
- Prange, K. (2005): Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der operativen Pädagogik, Paderborn: Schöningh.
- Sauerbrey, U. (2014): Hat die Erziehungswissenschaft ein systematisches Defizit?, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau (angenommen, im Erscheinen).
- Sünkel, W. (2011): Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Allgemeine Theorie der Erziehung, Bd. 1, Weinheim: Juventa.
Rezension von
PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Jena und Privatdozent an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Zitiervorschlag
Ulf Sauerbrey. Rezension vom 01.04.2014 zu:
Micha Brumlik, Stephan Ellinger, Oliver Hechler, Klaus Prange: Theorie der praktischen Pädagogik. Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2013.
ISBN 978-3-17-023661-5.
Reihe: Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16644.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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