Rolf Keicher, Stefan Gillich (Hrsg.): Wenn Würde zur Ware verkommt
Rezensiert von Laura Sturzeis, 15.09.2014
Rolf Keicher, Stefan Gillich (Hrsg.): Wenn Würde zur Ware verkommt. Soziale Ungleichheit, Teilhabe und Verwirklichung eines Rechts auf Wohnraum.
Springer VS
(Wiesbaden) 2014.
219 Seiten.
ISBN 978-3-658-04442-8.
D: 19,99 EUR,
A: 20,55 EUR,
CH: 25,00 sFr.
Reihe: Research.
Thema
Die Demontage des sozialen Wohnbaus, der Anstieg von Immobilienspekulation und explodierende Mieten führten in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Protesten gegen die zunehmende Ökonomisierung des (Grund-)Rechts auf Wohnen. Am deutlichsten wurde uns das im Zuge der massenhaften Delogierungen in den südeuropäischen Ländern vor Augen geführt, als diese Personen aufgrund des Platzens der Immobilienkrisen ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten. Von einem auf den anderen Tag standen viele Menschen auf der Straße. Aber nicht nur in Spanien und Griechenland brodelt es. Auch in den wohlhabenderen Ländern Europas, wie in Deutschland (mit dem sich das Buch schwerpunktmäßig auseinandersetzt) und Österreich gilt: Wohnen ist erneut zu einem Politikum geworden – und mit ihr auch die Wohnungslosigkeit. Diesem dringlichen Problem widmet sich dieses Buch aus unterschiedlichen Perspektiven.
Herausgeber
Die Herausgeber Rolf Keicher und Stefan Gillich sind beide bei für die Evangelischen Obdachlosenhilfe in Deutschland e.V. tätig.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband ging aus Beiträgen des 2012 in Nürnberg stattgefundenden Kongresses „Wohnung gut, alles gut?“ hervor, die von der Evangelischen Obdachlosenhilfe in Deutschland e.V. organisiert wurde.
Aufbau
Inhaltlich ist das Buch in vier Abschnitte gegliedert:
- Armut. Der erste Teil zu „Armut“ widmet sich zum einen der theoretischen Einbettung des Phänomens der Wohnungslosigkeit in die Armuts- und Sozialstaatsforschung und zum anderen einer theologischen Reflexion des Themas „Wohnen“.
- Recht und Rechtsdurchsetzung. Im zweiten Teil werden die veränderten Rahmenbedingungen im „aktivierenden“ und „steuernden“ Sozialstaat anhand der Wohnungslosenhilfe aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert und die Konsequenzen dieses Paradigmawandels des Sozialstaats für von Wohnungslosigkeit betroffene Personen erörtert.
- Methoden und besondere Adressatengruppen. Der dritte Teil widmet sich schwerpunktmäßig den Ergebnissen von Forschungs- und Praxisprojekten aus dem Feld der Wohnungslosenhilfe.
- Neue Wege. Im abschließenden Teil werden neue und vielversprechende Ansätze in der Wohnungslosenhilfe präsentiert und deren Möglichkeiten und Grenzen kritisch erörtert.
Inhalt
In ihrem einleitenden Beitrag gehen Gillich/Keicher auf die Problematik des sinkenden Angebots leistbarer Wohnungen ein, die insbesondere für Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit betroffene Personen von zentraler Bedeutung ist. Der (leider ungebrochene) Trend zur Privatisierung vormals sozialer Wohnungen durch Kommunen, die mit den Erlösen kurzfristig ihre klammen Haushaltskassen füllen, führt dazu, dass nicht nur weniger leistbarer Wohnraum für finanzschwache Personen zur Verfügung steht, sondern hat des weiteren auch zur Folge, dass die Einflussmöglichkeiten auf die Geringhaltung der Mietpreise zunehmend schwinden. Wenn ein immer größerer Teil der Wohnungen auf dem freien Markt landen, dann diktiert der Immobilienmarkt die Preise. Gillich/Keicher konstatieren die auf dem Wohnungsmarkt vorherrschende Logik folgendermaßen: „Dass es innerhalb des Wohnungsmarkts verschiedene Teilmärkte gibt in die investiert wird, liegt auf der Hand (…). Der Wohnungsmarkt hat von sich aus kein Interesse an einer Wohnungsversorgung für alle, er ist auf diesem Auge blind.“ (S. 13) Doch es gibt einige Gründe, die dagegen sprechen, dass Wohnen eine Ware ist, wie jede andere auch. Erstens gilt Wohnen als Grundbedürfnis. Darüber hinaus erfüllt eine Wohnung weitere Funktionen, wie die Gewährung von Privatheit und Schutz vor Öffentlichkeit und die Möglichkeit der Aufbewahrung von Eigentum (vgl. Ebd. S. 12). Insofern ist die Forderung zur Bereitstellung von Wohnraum für alle Menschen eine zentrale politische Forderung, deren Erfüllung in unserer modernen Gesellschaft dem Sozialstaat zukommt.
Christoph Butterwege thematisiert in seinem Beitrag „die Zusammenhänge zwischen einer negativen Sozialstaatsentwicklung, Armut und Wohnungslosigkeit.“ (S. 19) Insbesondere die Entwicklung des Sozialstaats zu einem Minimal- und „Kriminal“-Staat ist für jene Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, von besonderer Bedeutung. Anstatt verbürgter Rechte, z.B. auf Wohnraum, wird von diesen Personen nunmehr verlangt, dass sie sich „aktiv“ an der Integration in die Mehrheitsgesellschaft beteiligen. „Statt der Bedürftigkeit – wie im aktiven – löst im „aktivierenden Sozialstaat“ erst die (Bereitschaft zur) „Gegenleistung“ eines Antragsstellers die staatliche Leistungspflicht aus. Damit hören Hilfebedürftige auf, Wohlfahrtsstaatsbürger/innen mit sozialen Rechtsansprüchen zu sein, und werden zu Objekten der von ihnen Entgegenkommen fordernden und sie nur dann ggf. fördernden Verwaltung herabgewürdigt.“ (S. 22) Und die Repression des „Kriminal“-Staats trifft am häufigsten jene, die bereits auf der untersten Stufenleiter der Gesellschaft angekommen sind und zu denen insbesondere wohnungslose Menschen zählen. „Armut und Wohnungslosigkeit hängen eng zusammen, sie bedingen einander sogar, zumal Letztere hierzulande die extremste Form der Ersteren ist (…). Mittlwerweile ist der Wohlfahrtsstaat hierzulande so weit demontiert, dass er selbst Wohnungslosigkeit produziert und die sozialen Probleme potenziert.“ (S. 27) Diese Umkehrung der einst auf sozialen Ausgleich zielenden Kernfunktion des Sozialsstaates ist der alamierendste Hinweis auf den Paradigmawechsel hin zu einem „aktivierenden“ Sozialstaat.
Falk Roscher stellt in seinem Betrag die These in den Raum, dass das sukzessive Überflüssig-Machen einer eigenen Wohnungslosenhilfe, die derzeit im §§ 67ff. SGB XII, geregelt ist, als Teil dieses Transformationsprozessses gelten kann. Ein Kernelement der neuen Sozialstaatsverwaltung ist das individuelle Fallmanagement, dessen Vorzüge insbesondere von Johannes Lippert im vorangehenden Beitrag herausgearbeitet werden. „Oberstes Ziel der Bemühungen um eine Weiterentwicklung der Leistungen zur Teilhabe ist die Personenzentrierung aller Leistungen. (…) Grundsätze für die Entwicklung der Maßstäbe sind z.B. die umfassende Beteiligung des Leistungsberechtigten sowie die Dokumentation seiner Vorstellungen zu Art und Ziel der Leistungen, die Erhebung des Gesamtbedarfes (…), die lebenswelt- und sozialraumbezogenen Bedarfserhebung und die Einbeziehung der Ziele der Hilfen.“ (S. 57) Für Roscher hingegen führe die Umstellung auf das individuelle Fallmanagement jedoch dazu, dass der Anspruchsberechtigte mit seinen gesamten Lebensumständen in den Fokus der sozialstaatlichen Aufmerksamkeit rücke. „Wurden im alten Sozialstaat Leistungsvoraussetzungen nach den gesetzlichen Vorgaben geprüft und dann dem Hilfesuchenden die gesetzlich vorgesehene Leistung gewährt (…), steht nun am Anfang eine die Jetzt-Situation und eine auch die Lebenszukunft umfassende Planung, die ausdrücklich in ‚Steuerung‘ münden soll.“ (S. 65) Wohnungslosigkeit stellt sich in dieser neuen Steuerungslogik nunmehr als „Schnittstellenproblem“ dar, das besser in Zuge anderer Hilfen zu lösen ist, wie z.B. der Eingliederungs- oder Pflegehilfe. Roscher kritisiert, dass Wohnen eben nicht nur ein Schnittstellenproblem ist, resultierend aus (mitunter mehreren) individuellen und damit subjektiven Problemen, wie z.B. Gesundheitsprobleme. Vielmehr handelt es sich um objektive Lebensverhältnisse, die bei der Wohnungslosenhilfe in den Blick genommen werden. „Es ist also darauf zu beharren, dass in der Gesellschaft Strukturen angelegt sind (besondere Lebensverhältnisse), die mit einem Hilfebedarf (soziale Schwierigkeiten) verbunden sind, der auf spezielle Weise befriedigt werden muss (…).“ (S. 75)
Abschließend kommen wir nochmals auf die namensgebende Frage des Kongresses „Wohnung gut, alles gut?“ zurück. In seinem Beitrag erörtert Volker Busch-Geertsema die Potentiale des „neuen Trend[s] in der Wohnungslosenhilfe“: dem „Housing-First“-Ansatz. „‚Housing first‘ bedeutet die möglichst schnelle Integration von Wohnungslosen in abgeschlossenen und dauerhaften Individualwohnraum mit wohnbegleitenden Hilfen, falls erforderlich.“ (S. 156) Anders als die geläufige Praxis der Wohnungslosenhilfe in vielen Ländern (darunter auch Deutschland und Österreich) geht es nicht darum, dass die wohnungslose Person stufenweise den Nachweis der Wohnfähigkeit erbringt, sondern um die Bereitstellung eigener Wohnungen mit vollen Mieter/innen-Rechten an Wohnungslose ohne vorherige Vorbereitung. „Housing First kann also auch als ‚Housing Plus‘ bzw. ‚Wohnen Plus‘ verstanden werden: die Annahme von persönlicher Hilfe ist keine Voraussetzung, um ein reguläres Mietverhältnis zu bekommen aber die Hilfe wird denen, die sie brauchen, nachdrücklich angeboten.“ (S. 162) Studien belegen, dass Maßnahmen für Wohnungslose, die auf dem Housing-First-Ansatz beruhen, bei den betroffenen Personen langfristig zu hoher Wohnstabilität führen, höher, als konditionale Ansätze, wie z.B. Stufensysteme. Die zentrale Herausforderung für den weitreichenden Einsatz von Housing first liegt jedoch mehr in der Verfügbarkeit von „normalen“ Wohnungen im ersten Wohnungsmarkt. „Die Versorgung von Wohnungslosen mit Normalwohnraum ist nicht nur eine Mengenfrage (…), sondern auch und gerade eine Frage der Verteilung und des Zugangs.“ (S. 174).
Diskussion und Fazit
Dieser Band versammelt Beiträge theoretisch-soziologischer Natur, die Wohnungslosigkeit im Kontext des Umbaus des Sozialstaates kritisch zum Thema machen, ebenso wie an der sozialarbeiterischen Praxis orientierte und gleichermaßen kenntnisreiche Beiträge, die sich neuen Wegen in der Wohnungslosenhilfe widmen. Insbesondere haben die Herausgeber nicht davor zurückgeschreckt, auch gegensätzliche Perspektiven (s. Beiträge Lippert & Roscher) nebeneinander stehen zu lassen. Das ist erfreulich, da es die Logik der staatlich-bürokratischen Feldes so noch deutlicher hervorstreicht. Lediglich die Wohnungslosen selbst, ihre Lebensrealitäten und die Wahrnehmungen ihrer eigenen Situation, gehen einem in diesem ansonsten recht gelungen geratenem Sammelband ab. Gerade im Teil III zu „Methoden und besondere Adressatengruppe“ hätte man gerne mehr gelesen über empirische Forschungsmethoden und Ergebnisse einschlägiger Studien gelesen. Ein weiterer Aspekt, der in diesem Buch unthematisiert bleibt, ist die Zunahme der Anzahl an wohnungslosen MigrantInnen aus den neuen EU-Staaten in den alten EU-Staaten. Was fehlt, ist die zunehmend transnationale Dimension des Problems Wohnungslosigkeit, dessen Ursachen zum Teil auch in den großen Ungleichheitsgefällen zwischen den alten und neuen EU-Mitgliedsstaaten liegen.
Nichtsdestotrotz ist der von Keicher/Gillich vorlegte Band für Lehrende, Studierende und PraktikerInnen empfehlenswert, die an der Thematik Wohnungslosigkeit und den aktuellen Debatten in diesem Feld interessiert sind.
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
Es gibt 22 Rezensionen von Laura Sturzeis.
Zitiervorschlag
Laura Sturzeis. Rezension vom 15.09.2014 zu:
Rolf Keicher, Stefan Gillich (Hrsg.): Wenn Würde zur Ware verkommt. Soziale Ungleichheit, Teilhabe und Verwirklichung eines Rechts auf Wohnraum. Springer VS
(Wiesbaden) 2014.
ISBN 978-3-658-04442-8.
Reihe: Research.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16659.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.