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Ingrid Miethe, Jutta Ecarius et al. (Hrsg.): Bildungsentscheidungen im Lebenslauf

Rezensiert von Merle Hinrichsen, 30.06.2014

Cover Ingrid Miethe, Jutta Ecarius et al. (Hrsg.): Bildungsentscheidungen im Lebenslauf ISBN 978-3-8474-0097-4

Ingrid Miethe, Jutta Ecarius, Anja Tervooren (Hrsg.): Bildungsentscheidungen im Lebenslauf. Perspektiven qualitativer Forschung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 281 Seiten. ISBN 978-3-8474-0097-4. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 46,80 sFr.

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Thema

Thema des Tagungsbandes sind qualitative Perspektiven auf „Bildungsentscheidungen im Lebenslauf“.

Herausgeberinnen

Ingrid Miethe ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen,

Jutta Ecarius ist Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität zu Köln und

Anja Tervooren ist Professorin für Erziehungswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Kindheitsforschung an der Universität Duisburg-Essen.

Entstehungshintergrund

Der Tagungsband geht auf die Tagung „Bildungsentscheidungen im Lebenslauf. Dis/Kontinuitäten, Paradoxien und soziale Ungleichheit“ der Kommission „Qualitative Biografie- und Bildungsforschung“ der DGfE zurück, die im September 2012 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen stattgefunden hat. Er umfasst insgesamt 14 Artikel, die in vier Teile gegliedert sind: Teil I: Bildungsentscheidungen und Biografie: theoretische und methodologische Diskussion/ Teil II: Familie und Schule in Kindheit und Jugend/ Teil III: Studium und Beruf/ Teil IV: Bildungsentscheidungen in gesamtbiografischer Perspektive.

Aufbau und Inhalt

Im einleitenden Artikel verdeutlichen die Herausgeberinnen die Bedeutsamkeit des Themas „Bildungsentscheidungen“ für die Erziehungswissenschaft und insbesondere für die Bildungsforschung. Die Diskussion um Bildungsentscheidungen ist eng verknüpft mit Fragen von Übergängen im Bildungssystem sowie der Perspektive auf Bildungsinstitutionen und erlebt seit dem PISA-Schock eine neue Konjunktur, die sich stark mit der Frage der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit auseinandersetzt (vgl. S. 9). Dabei verzeichnen die Herausgeberinnen eine vor allem quantitativ-statisch ausgerichtete Forschung und betonen die Bedeutung dieser Studien in Bezug auf das Aufzeigen sozialstruktureller Ungleichheiten, verweisen aber auch darauf, dass gerade in Bezug auf die Erforschung komplexer (Bildungs-) Entscheidungen Rational-Choice-Ansätze häufig zu kurz greifen. Im Anschluss an Bourdieu treten komplexe Entscheidungsprozesse unter gesellschaftlichen Bedingungen in den Vordergrund für deren Erforschung qualitative Bildungsforschung prädestiniert ist (vgl. S. 10). In dieser Hinsicht verfolgt der Band den Anspruch aufzuzeigen, „welche Fragen in Bezug auf Bildungsentscheidungen aus einer qualitativ ausgerichteten Forschungsperspektive gestellt und welche Antworten gegeben werden können“ (S. 11). Anschließend wird eine Übersicht über die einzelnen Artikel gegeben.

In Teil I des Bandes wird das Konzept der Bildungsentscheidungen aus qualitativer Perspektive analysiert und theoretisch hinterfragt.

Der Beitrag von Ingrid Miethe und Heike Dierckx setzt sich mit dem Ertrag der entscheidungstheoretischen Ansätze in Tradition der Rational-Choice-Ansätze für die qualitative Sozialforschung auseinander. Dabei werden die Ansätze von Becker (Humankapitaltheorie) und Boudon ausführlicher in den Blick genommen und diskutiert. Anhand einer Falldarstellung werden Möglichkeiten der Analyse aufgezeigt. Diese Betrachtung führt dazu die Bedeutsamkeit der entscheidungstheoretischen Ansätze für die qualitative Forschung als Heuristik anzuerkennen, aber ebenso auf deren notwendige Erweiterung aus qualitativer Perspektive hinzuweisen. Besonders tritt dabei die Bedeutung der Genese von Entscheidungen sowie deren Einflussfaktoren (gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Gruppenentscheidungen, etc.) in den Fokus.

Bettina Dausien betrachtet in ihrem Beitrag Bildungsentscheidungen aus einer biographiewissenschaftlichen Perspektive. Nach einer ersten begrifflichen Klärung wird die Idee der Bildungsentscheidung reflektiert und biographietheoretisch gerahmt. Diese theoretischen Überlegungen werden anhand eines Fallbeispiels plausibilisiert und verdichtet. Daraus entwickelt Bettina Dausien methodologische Konsequenzen für eine biographiewissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildungsentscheidungen. Dabei tritt vor allem die komplexe Zeitlichkeit dieser Entscheidungen sowie ihre nachträgliche Legitimierung und Umdeutung in den Fokus. Die Entfaltung der Komplexität von Entscheidungen wird zum entscheidenden analytischen Zugang, der nur im Rahmen von Fallrekonstruktionen möglich ist (vgl. S. 56). Die Forschung verfolgt das Ziel der Theoriebildung mit dem Anspruch die Entscheidungen „angemessener und differenzierter [zu] beschreiben“ (S. 57). Weitergehend stellt die Autorin die Frage der möglichen Implikationen für politische und pädagogische Praxis (vgl. S. 58).

In Teil II des Bandes rücken institutionelle Übergangsentscheidungen in Kindheit und Jugend in den Fokus. Die folgenden drei Beiträge betrachten je unterschiedliche Übergänge (Realschule-Gymnasium; Kindergarten-Grundschule; Schule-berufsvorbereitende Maßnahme).

Julia Labede und Sven Thiersch folgen in ihrem Beitrag einer sozialisationstheoretischen Perspektive und vertreten die Annahme, dass die Rekonstruktion der familialen Bildungsbiografie sowie der sozialisatorischen Eigenlogik familialer Beziehungen Voraussetzung sind, um die Wahl einer Schule zu verstehen (vgl. S.65). Verdeutlicht wird dies an der Fallstudie einer jungen Frau, „die trotz ’erwartungswidriger’ familialer Ausgangskonstellationen eine aufsteigende Bildungskarriere vollzieht“ (S.66). Hier wird die Frage der Rationalisierbarkeit von Bildungsentscheidungen im Rahmen eines Familiengesprächs verhandelt. Um den Fall einzubetten und zu bestimmen erfolgt vorab eine Bildungsgenogrammanalyse. Die Fallanalyse verdeutlicht die Sinnzusammenhänge zwischen „Familie, Bildungsselbst und Bildungsentscheidungen“ (S. 80).

Anna Schweda betrachtet die Bildungsentscheidungen am Übergang Kindergarten-Grundschule. Ziel des Beitrags ist, „die Rekonstruktion von sozialen Praktiken der Hervorbringung der Entscheidung für oder gegen die Sprachfördermaßnahme ‚Vorlaufkurs‘“ (S. 86). Anhand zweier Fallstudien wird ein Vergleich schulischer Praktiken vorgenommen, der aufzeigt wie Entscheidungen zur Empfehlung der Teilnahme am Vorlaufkurs interaktiv ausgehandelt werden. Die Autorin arbeitet im Folgenden die besondere Bedeutung von strukturellen und organisationalen Bedingungen im Zusammenspiel mit dem individuellen Förderbedarf heraus (vgl. S. 98).

Alena Berg und Stefan E. Hößl betrachten Biographien von Jugendlichen, die an berufsvorbereitenden Maßnahmen teilgenommen haben. Anhand von biographisch-narrativen Interviews wurden 4 Typen gebildet, die kurz dargestellt werden. Zwei dieser Typen werden dann im Rahmen von Fallanalysen genauer betrachtet. Berg und Hößl kommen zu dem Ergebnis, dass „die biographischen Erfahrungen von Jugendlichen grundlegend und auf das Engste mit dem Erfolg oder Misserfolg in einer Maßnahme verbunden“ (S. 115) sind und damit wichtige Aufschlüsse über die Möglichkeiten der Nutzung berufsvorbereitender Maßnahmen liefern.

In Teil III des Bandes stehen Bildungsentscheidungen für Studium und Beruf im Mittelpunkt der Analyse.

Im Beitrag von Katharina Scharl und Daniel Wrana treten dabei professionstheoretische Fragen in den Mittelpunkt, die aus einer diskursanalytischen Perspektive in Bezug auf die Frage von der Bezugnahme auf Wissensordnungen diskutiert werden. Die Autor_innen zeigen hier anhand von zwei Gesprächen mit Studierenden und deren kontrastivem Vergleich zwei unterschiedliche Taktiken im Umgang mit Wissensordnungen auf. Es kann herausgearbeitet werden, dass sich die Prozesse des Lehrer_in-Werdens „in einem diskursiven Raum ereignen, in dem diese sich widerstreitenden Wissensordnungen und eine Reihe weiterer Positionen und Argumente eine zentrale Rolle spielen“ (S. 137).

Julia Strohmer und Jean-Marie Weber untersuchen unter Bezugnahme auf den psychoanalytischen Ansatz Lacans die Entscheidung für den Lehrer_innenberuf. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage „inwiefern der Entscheidungsprozess durch Libidoökonomie und Subjektivierungsprozesse, betreffend das Begehren, beeinflusst ist“ (S. 141). Die Autor_innen arbeiten anhand von zwei Fallanalysen psychische Mechanismen heraus, die bei Entscheidungen eine Rolle spielen (vgl. S. 153).

Carsten Detka untersucht in seinem Beitrag die Studienwahl für das Studium der Sozialwissenschaften. Dabei fokussiert er die Frage, wie die „Entscheidung für ein bestimmtes Studium mit dem Studienerfolg sowie mit dem Berufseinstieg nach dem Studium“ (S. 158) zusammenhängen. Aus der Perspektive der Biographieanalyse werden Bildungsentscheidungen damit als analytische Kategorie fassbar, die in allen möglichen Prozessstrukturen auftreten kann. Als Grundmerkmal hat sich gezeigt, dass das Studium häufig „eine Bildungsentscheidung auf ungesicherter empirischer Basis ist“ (S. 163). In der Analyse des Falls wird dabei geleistete biographische Arbeit als entscheidende Ressource für gelingende Studienwahl herausgearbeitet. Daraus leitet der Autor Konzeptionalisierungen von Vermittlungs- und Lernarrangements zur Praxisaktivierung ab.

Thomas Spiegler und Antje Bednarek fokussieren in ihrem Beitrag studierende Absolventen des Zweiten Bildungswegs. Im Beitrag wird den Fragen nachgegangen wie diese Entscheidung zustande kam, welche Kontinuitäten und Brüche dabei zum Tragen kommen und wie diese bearbeitet werden (vgl. S. 192). Die Autor_innen entwickeln anhand des Samples zwei Typen von Bildungsverläufen, „Fort-Bildung“ und „Weiter-Bildung“ (S. 194). Diese Typen werden durch Fallporträts illustriert und in Bezug auf die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten ausdifferenziert.

Dorothee Schwendowius untersucht in einer biographieorientierten Studie die Studienwahlentscheidung von Lehramts- und Pädagogikstudierenden mit Migrationsgeschichte und geht dabei den Fragen nach „wie gestalten sich Studienentscheidungen und Studienwahlprozesse aus der Sicht der Subjekte und wie sind diese Entscheidungsprozesse in die jeweilige Biographie eingewoben (S. 208)“. Anhand zweier Fallstudien werden Dimensionen der Studienwahlentscheidung herausgearbeitet und analytisch verdichtet. Abschließend wird auf den Mehrwert einer biographischen Perspektive und Analyse von Bildungsentscheidungen verwiesen, die es ermöglichen Entscheidungen in ihrer Komplexität und Kontextualisierung untersuchbar zu machen. (vgl. S. 222)

In Teil IV werden Bildungsentscheidungen in gesamtbiografischer Perspektive beleuchtet.

Jochen Kade und Sigrid Nolda betrachten „okkasionelle Bildungsbiographien im Lebenslauf“ (S. 227). Der Wandel der bildungsbiographischen Gesamtgestalt im Abstand von 25 Jahren wird anhand einer Fallanalyse und unter Nutzung der analytischen Unterscheidung von Entscheidung und Ereignis rekonstruiert. Die Bildungsbiographie wird dabei als „Serie zeitabhängiger differenter Bildungsgestalten“ (S. 229) angenommen. In einem weiteren Schritt werden unterschiedliche Verknüpfungen von Entscheidung und Ereignis in Bezug auf die Praxis des Fremdsprachenlernens an weiteren Fällen aufgezeigt. Abschließend folgen Überlegungen zu okkasionellen Bildungsbiographien.

Regina Soremski untersucht aus einer familienbiografischen Perspektive „transformative und reproduktive Aspekte von Bildungsentscheidungen im Prozess des Bildungsaufstiegs“ (S. 247) anhand zweier Falldarstellungen. Dabei fokussiert sie besonders die Eingebundenheit der Entscheidungen in historisch-politische Gelegenheitsstrukturen und betrachtet damit neben der sozialen auch die strukturelle Rahmung von Bildungsentscheidungen.

Anke Wischmann untersucht in ihrem Beitrag biografische Bildungsentscheidungen junger Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland und Frankreich unter einer intersektionalen Perspektive. Dabei wird anhand dreier Erzählungen von Studentinnen „eine Entscheidungsstrategie rekonstruiert, die sich im Modus der Nicht-Entscheidung zeigt“ (S. 264). Zuvor wird die Situation von Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland und Frankreich betrachtet und verglichen.

Diskussion und Fazit

Der hier besprochene Tagungsband ist sehr lesenswert. Er verdeutlicht den aktuellen Stand der Debatte um Bildungsentscheidungen und überzeugt durch die Auswahl der Beiträge. Die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und Fragestellungen sowie das breite Spektrum methodischer Zugänge verdeutlichen die Vielfalt und die Ertragsmöglichkeiten einer qualitativen Perspektive auf Bildungsentscheidungen. Der Band leistet damit eine notwendige Ergänzung der quantitativ-statistisch dominierten Debatte um Bildungsentscheidungen und liefert wichtige Impulse für die Bildungsforschung. Die Frage nach der Komplexität von Entscheidungsprozessen und deren Zustandekommen rückt dabei in den Fokus der Analysen. Alle hier vorgestellten Ergebnisse basieren auf Rekonstruktionen von Fällen, die großenteils im Rahmen von aktuellen empirischen Forschungsprojekten erhoben wurden. Diese empirische Rückgebundenheit ermöglicht einen verstehenden Nachvollzug der Ergebnisse und verweist auf eine in der Empirie begründete Theoriebildung. Zudem überzeugt die Aufteilung des Bandes, die die Relevanz des Themas Bildungsentscheidungen über die gesamte Lebensspanne verdeutlicht.

Empfehlenswert !

Rezension von
Merle Hinrichsen
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Es gibt 1 Rezension von Merle Hinrichsen.

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ISSN 2190-9245