Isabel Nadine Häberling: Kinder zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Rezensiert von Dr. phil. Petra Thorn, 05.08.2014

Isabel Nadine Häberling: Kinder zwischen Wunsch und Wirklichkeit. über die Determinanten von Kinderwunsch, Fertilitätsintention und deren Realisierung. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2013. 247 Seiten. ISBN 978-3-03777-127-3. 46,00 EUR. CH: 58,00 sFr.
Thema
„Kinder kriegen die Leute sowieso.“ Dieser Ausspruch von Konrad Adenauer gilt mittlerweile als überholt. Die demographische Lage in Europa und in der Schweiz beschreibt der Slogan „Mehr Kinder braucht das Land“ treffender. Dies ist der Hintergrund für die makrosoziologische Untersuchung von Isabel Häberling, die an der Universität Zürich als Dissertation angenommen wurde. Häberling beschreibt in ihrer Dissertation Bedingungen generativen Verhaltens, also die Bedingungen, die zur Umsetzung eines Kinderwunschs beitragen.
Autorin
Isabel Häberling ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Demografie, Struktur und Dynamik von Populationen sowie Methoden der empirischen Sozialforschung.
Aufbau
Der Aufbau des Buches entspricht einer wissenschaftlichen Arbeit: Nach einer Einleitung werden in zwei Kapiteln die theoretischen Grundlagen und der aktuelle Forschungs- und Diskussionsstand dargestellt. Ausführlich werden unterschiedliche Theoriekonzepte und deren Ausbaufähigkeit erläutert. Im Anschluss werden die eigenen Untersuchungen zu den Themenbereichen „Kinderwunsch“, „Fertilitätsintention“ und „Familiengründung und -erweiterung“ beschrieben. Der letzte Teil endet mit einem zusammenfassenden Fazit.
Inhalt
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die europaweit sinkende Fertilitätsrate. Sie liegt in der Schweiz aktuell bei 1,49 Kinder pro Frau und somit deutlich unter der bevölkerungsstabilisierenden Rate von 2,1 Kinder pro Frau. In Deutschland ist diese Rate sogar noch geringer, sie liegt bei 1,34 (Fürnkranz-Prskawetz et al., 2012). Kinderkriegen ist damit zu einem seltenen Ereignis geworden. Kinder sind jedoch für verschiedene Aufgaben einer Gesellschaft verantwortlich, z.B. für die soziale Sicherung der Alten. Daher sind individuelle und kontextuelle Beweggründe für oder gegen die Umsetzung eines Kinderwunsches von großer Wichtigkeit.
Generatives Verhalten, also die Intention und Umsetzung des Kinderwunsches, wird durch vielfältige Faktoren beeinflusst: durch individuell-ökonomische Aspekte (direkte und Opportunitätskosten), soziale, psychologische und durch kulturell-kontextuelle Faktoren. Ziel von Häberling ist es, erstmals für die Schweiz ein umfassendes Theoriekonzept dieser Einflüsse zu erstellen und alle relevanten Faktoren in ihrer Komplexität zu untersuchen. Hierbei unterscheidet sie zwischen drei Stufen des generativen Verhaltens: Der Kinderwunsch, die Fertilitätsintention und die Familiengründung und -erweiterung.
Als Kinderwunsch wird der basale Wunsch nach Nachkommen definiert. Es geht dabei nicht um ein konkretes Verhalten oder einen Plan, sondern lediglich darum, ob Individuen ein Bedürfnis aufweisen, Kinder zu bekommen. Der Wunsch stellt damit die unterste Stufe im Prozess des generativen Verhaltens dar. Als Fertilitätsintention wird die Absicht verstanden, den Kinderwunsch umzusetzen. Die Intention ist somit kraftvoller als der Wunsch und stärker mit tatsächlichem Verhalten verbunden. Familiengründung und -erweiterung sind die letzten Schritte im Prozess des generativen Verhaltens. Damit wird die Gründung oder Erweiterung einer Familie und somit die Umsetzung des Wunsches und der Intention verstanden.
Im „Überblick über den Forschungsstand“ wird von der Autorin kritisiert, dass bislang vor allem die psychologische Bedürfnisbefriedigung und der ökonomische Nutzen im Forschungsfokus standen. Die psychologische Ansätze beziehen sich auf intrinsische Werte (u.a. Erziehungsverhalten der Eltern, Zusammensetzung der Herkunftsfamilie, Identitätsstiftung durch Kinder). Die ökonomischen Ansätze untersuchten Ausbildungsniveau, Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit. Bislang wurden nur wenige familial-soziale Aspekte wie Zusammenhänge zwischen Partnerbeziehung und Familiengründung untersucht. Ebenso gibt es keine große Anzahl von Studien, die sich mit dem Einfluss von gesellschaftlichen Normen und Werten auseinandergesetzt haben. Einige wenige Studien haben darüber hinaus eine umfassendere Analyse angestellt, in denen sie mehrere Determinanten erforschten. Die vorliegende Arbeit ist jedoch die erste, die den Prozess des generativen Verhaltens mit allen Faktoren der verschiedenen Studien für die Schweiz zu erklären versucht.
Im nächsten Kapitel werden ausführlich Konzepte für generatives Verhalten erläutert. Die Autorin schildert die „theory of planned behaviour“ sowie weitere allgemeine Motivationskonzepte und Kalkulationsmodelle. Es endet mit der Aufstellung von zehn Hypothesen, die sie in den folgenden Kapiteln verifizieren bzw. falsifizieren wird. Zu diesen Hypothesen gehören das Alter als Einflussfaktor, extrinsische Werte von Kindern (Beziehung von Kindern zu übergeordneten Zielen wie Normen und Werte), intrinsische Werte (z.B. direkt mit Kindern in Beziehung stehende Faktoren z.B. Bedeutung der Familie, subjektive Gesundheit), ökonomische Faktoren (Vermögen sowie Opportunitätskosten von Kindern), Zugang zu sozialem Kapital (z.B. kostensenkende Ressourcen in Form eines unterstützenden sozialen Umfelds) sowie Traditionalität versus Progessivität und familienpolitische Leistungen.
Die folgenden drei Kapitel beschreiben die durchgeführten Analysen und Berechnungen für den Kinderwunsch, die Fertilitätsintention und die Familiengründung und -erweiterung. Es werden jeweils zunächst Daten und Forschungsmethoden erläutert und die Ergebnisse mit den Hypothesen abgeglichen. Diese Unterkapitel sind für diejenigen ohne Kenntnisse von demographischen Kalkulationen sehr sperrig zu lesen und sicherlich im Detail nicht für jedermann verständlich. Lesenswert sind jedoch die Zwischenfazite, mit dem diese Kapitel enden. Hier werden für jede Stufe des generativen Verhaltens die entsprechenden Hypothesen überprüft. Hier wird, im Gegensatz zu vielen anderen Arbeiten, auch das generative Verhalten von Männern berücksichtigt.
Das letzte Kapitel, das Fazit, ist in meinen Augen das Kernstück des Buches – zumindest für Nicht-Demografen. Es ist mit neun Seiten recht kurz, aber fasst die komplette Arbeit mit ihrer Komplexität hervorragend zusammen. Häberling legt nochmals dar, weshalb generatives Verhalten zu den rare events zählt. Sie stellt hierzu den Vergleich zu einer umgekehrten Kaskade an: Rund ein Drittel der Befragten hegt einen Kinderwunsch, nur rund 10% zeigen eine Fertilitätsintentionen auf und lediglich 2% bekamen in dem Untersuchungszeitraum tatsächlich ein Kind. Dabei gab es keine Personen, die ihren Kinderwunsch umgesetzt hatten, ohne zuvor eine Intention oder einen Wunsch nach Kindern zu äußern. Diese prozesshafte Entwicklung beschreibt sie daher als Hinweis auf geplantes Ereignis, das nicht nur durch biologische Triebe gesteuert ist, sondern im gesellschaftlichen Kontext stattfindet und durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird.
Als Determinanten für die erste Stufe (Kinderwunsch) beschreibt sie den intrinsischen (z.B. Kindheitserfahrungen, die vor allem Frauen positiv beeinflussen) und extrinsischen (z.B. finanzielle Ressourcen) Wert von Kindern. Ökonomische Bedingungen seien jedoch nur als Opportunitätskosten für karriereorientierte Frauen relevant: je höher diese Opportunitätskosten ausfallen, desto geringer sei der Kinderwunsch ausgeprägt. Männer, die grundsätzlich geringere Opportunitätskosten tragen, und Frauen, die diese Kosten bereits (mit einem ersten Kind) tragen, seien davon kaum betroffen. Sie schließt daraus, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen nach wie vor nicht vollziehbar ist.
Auf der nächsten Stufe (Fertilitätsintention) determinieren individuell-ökonomische Strukturen das generative Verhalten. Auch hier sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein wichtiger Faktor, vor allem, wenn eine Person (überwiegend Frauen) mit hohen Opportunitätskosten zu rechnen hat. Ein weiterer relevanter Faktor ist das Vorhandensein einer Partnerin bzw. eines Partners, denn eine generative Entscheidung basiere auf einer Partnerschaft, und eine Person ohne Beziehung würde die Stufe der Intention nicht mehr nehmen. Häberling schlussfolgert weiter, dass Männer mit einer traditionellen Einstellung eher eine Absicht äußern als progressiv eingestellte Männer, für Frauen hingegen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorrangig ist. Daher fordert sie, dass diese beiden Bereiche familienfreundlich gestaltet werden müssen, denn sonst verharren Paare im intentionslosen Zustand und nehmen nicht die letzte Stufe.
Die letzte Stufe (Familiengründung und -erweiterung) wird maßgeblich von den beiden ersten beeinflusst. Lt. Häberling wird der gesamte Prozess über alle drei Stufen geplant und geschieht nicht willkürlich. Sie zeigt auch hier nochmals geschlechtsspezifische Unterschiede auf: Während Frauen ihre Familie aufgrund geringerer Opportunitätskosten für weitere Kinder eher vergrößern, ist dies für Männer nicht der Fall. Wenn diese mehr arbeiten und über größere finanzielle Mittel verfügen, gründen und erweitern sie eher ihre Familie. Auch hier wirkt sich ein familienfreundliches Umfeld positive aus: In ländlichen und periurbanen Gemeinden wird die letzte Stufe eher umgesetzt. Darüber hinaus erweitern finanziell sicher gestellte Männer eher ihre Familie (z.B. diejenigen in den reichen Gemeinden der Deutschschweiz). Staatliche Unterstützungen hingegen werden als nicht einflussreich beschrieben.
Häberling sieht ihre Arbeit als durchaus erweiterbar an. Sie spricht sich dafür aus, in zukünftigen Studien weitere Makroindikatoren wie Steuerbelastungen oder Arbeitgeberleistungen sowie auf der Mikroebene psychologische Faktoren zu berücksichtigen. Sie geht davon aus, dass staatliche Unterstützungsleistungen in der Schweiz – wie auch in einigen anderen Ländern – keinen Einfluss auf das generative Verhalten haben. Dennoch beschreibt sie diese Leistungen nicht per se als unwichtig, sondern lediglich für die Erhöhung der Fertilitätsrate als einflusslos für die Schweiz. Verbessert werden müssen hingegen Maßnahmen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für Frauen ebenso wie für Männer, auch für diejenigen in Leitungspositionen. Sie spricht sich auch für eine Überarbeitung des gesellschaftlichen Familien- und Mutterbildes aus: Mutterschaft sollte nicht mehr automatisch mit Teilzeitarbeit assoziiert werden, und die beiden Lebensbereiche Elternschaft und Beruf sollten fusionierbar werden. Hierzu gehören ihrer Meinung nach mehr Tagesschulen, bessere Öffnungszeiten von Betreuungseinrichtungen und flexiblere Arbeitszeiten. Neue Familienformen wie Alleinerziehende, Patchworkfamilien und Gay Parenthood sollten ebenfalls gefördert und gestärkt werden. Insgesamt sollten die Maßnahmen darauf abzielen, generatives Verhalten frühzeitig zu fördern, damit der negative Einfluss des Alters nicht zu einer Aufhebung der Realisierung des Kinderwunsches führt.
Diskussion
Als Leserin, die sich seit vielen Jahren mit dem Themenbereich des unerfüllten Kinderwunsches befasst, haben mich die umfassende Darstellung des Phänomens des generativen Verhaltens und die komplexen Analysen beeindruckt. Die ausführliche Darstellung in den ersten Kapiteln und vor allem das Fazit zeigen nachvollziehbar das Prozesshafte des Kinderwunsches und das komplexe Zusammenspiel von vielen Faktoren, die letztendlich dazu führen, dass dieser umgesetzt wird – oder auch nicht. Das Fazit überrascht zwar nicht, aber die kompakte Zusammenfassung der Studienergebnisse und die Schlüsse der Autorin sind einleuchtend und sehr verständlich beschrieben. Die Analysen und demographischen Berechnungen des Methodenteils sind für Fachkräfte ohne Kenntnisse von Statistik und demografischen Berechnungen eher mühsam nachzuvollziehen.
Spannend war die Erwähnung neuer Familienformen (Patchworkfamilien, vor allem jedoch Gay Parenthood) zum Schluss. Hier hätte ich erwartet, dass diese bereits zu einem früheren Zeitpunkt zumindest erwähnt worden wären; dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar werden diese zahlenmäßig kein großes Gewicht haben (in Deutschland geht man beispielsweise davon aus, dass in rund 5000 gleichgeschlechtlichen Familien mindestens 7300 Kinder leben (Eggen, 2010)), es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass deren Zahl in den nächsten Jahren steigen wird. Hinzu kommen sog. „Solo-Mütter“, also Alleinstehende, die ihren Kinderwunsch ohne Partnerschaft umsetzen. Dieses Phänomen wird bei Häberling ausgeblendet, wahrscheinlich da die Zahl dieser Familien noch weniger ins Gewicht fällt. Sie geht in ihren Annahmen immer davon aus, dass generatives Verhalten im Rahmen einer Partnerschaft stattfindet. Da sie sich in ihrem Fazit explizit für neue Familienformen ausspricht, wäre die Erwähnung dieser Entwicklung angemessen gewesen.
Häberling betont das Alter als wichtigen Faktor für das generative Verhalten, vor allem das Alter der Frauen, da deren reproduktives Fenster aus biologischer Sicht eingeschränkter ist als das von Männern. Mittlerweile wird in Fachkreisen und zum Teil auch in der Laienpresse jedoch von medizinischen Maßnahmen berichtet, die die reproduktive Phase einer Frau deutlich verlängern. Hierzu gehören die Eizellspende (in der Schweiz, wie auch in Deutschland und Österreich verboten, allerdings reisen viele Wunscheltern dafür ins Ausland (Thorn, 2008)) und das sog. „social freezing“, ein Verfahren, bei dem bei einer jungen Frau wie im Rahmen einer künstlichen Befruchtung Eizellen gewonnen werden und diese für eine Befruchtung im späteren Alter kryokonserviert werden (von Wolff, 2013). Letzteres muss noch als innovatives Verfahren bezeichnet werden, und es gibt noch wenige Kinder, die nach diesem Eingriff geboren wurden. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese medizinischen Maßnahmen ein weiterer Faktor für generatives Verhalten darstellen werden und es wäre daher sinnvoll, diese in demographischen Analysen miteinzubeziehen. Das schmälert jedoch das Fazit von Häberling nicht: Der Kinderwunsch ist am einfachsten umzusetzen, wenn das Paar jung ist und ausreichend Unterstützung für ein Leben mit Kindern erfährt.
Fazit
Das Buch ist für alle lesenswert, die sich mit demographischen Entwicklungen und Hintergründen des Phänomens „Kinderwunsch“ auseinandersetzen möchten und komplexe Analysen und Darstellungen nicht scheuen.
Literatur
- Eggen, B. (2010). Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ohne und mit Kindern: Soziale Strukturen und künftige Entwicklungen. In D. Funcke & P. Thorn (Hg.), Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern. Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform (pp. 37-60). Bielefeld: Transkript.
- Fürnkranz-Prskawetz, A., Jaschinksi, I., Kreyenfeld, M., Sobotka, T., Philipov, D., Benardi, L., et al. (2012). Demograpische Analyse der Fertilitätsentwicklung. In G. Stock, H. Bertram, A. Fürnkranz-Prskawetz, W. Holzgreve, M. Kohli & U. Staudinger (Eds.), Zukunft mit Kindern. Fertilität und gesellschaftliche Entwicklugn in Deutschland, Österreih und der Schweiz (pp. 116-198). Frankfurt: Campus Verlag.
- Thorn, P. (2008). Reproduktives Reisen – eine Expertise für den Pro Familia Bundesverband. 14.04.2014, from http://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/Fachpublikationen/expertise_reproduktives_reisen.pdf
- von Wolff, M. (2013). „Social Freezing“: Sinn oder Unsinn? Schweizerische Ärztezeitung, 94(10), 393-395.
Rezension von
Dr. phil. Petra Thorn
Dipl. Sozialarbeiterin,Dipl. Sozialtherapeutin.
Tätig in eigener Praxis für Paar- und Familientherapie; Arbeitsschwerpunkte: Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch, Familienbildung mit Spendersamen
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