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Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung

Rezensiert von Prof. Dr. Gert-Holger Klevenow, 16.06.2014

Cover Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung ISBN 978-3-518-58596-2

Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2013. 155 Seiten. ISBN 978-3-518-58596-2. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.

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Thema

Die Leitfrage mit der sich Hartmut Rosa in diesem Essay auseinandersetzt ist die für die Philosophie so alte wie bedeutsame Frage nach „dem guten Leben“, der er sich aus mehreren Gründen von der negativen Seite annähert, mit der umformulierten Frage, „warum wir eigentlich kein gutes Leben haben“.

Der Untertitel „Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“ verrät mehr von seinen Absichten:

  • Die eine, „das moderne Leben“ verständlicher, begreifbarer zu machen, indem er an den Lebenserfahrungen von Menschen spätmoderner Gesellschaften anzuknüpfen sucht. Es geht Rosa dabei um nicht weniger als die „richtigen“ Fragen aufzuwerfen, die im Leben moderner Menschen einen „Widerhall“ finden, die von letzteren als relevant oder bedeutsam erfahren und bewertet werden.
  • Die andere, die Tradition der Kritischen Theorie von Adorno über Marcuse bis Habermas und Honneth neu zu beleben.

Den Ausgangspunkt aller Überlegungen bildet die Auseinandersetzung mit der Zeit, der durch gleichmäßig tickende Uhren mechanisierten Zeit; genauer mit zeitlichen Strukturen, durch die sich moderne Gesellschaften engmaschig organisieren und koordinieren. – Moderne Subjekte machen dadurch die Erfahrung, dass sie „durch weitgehend unsichtbare, entpolitisierte, nicht diskutierte, untertheoretisierte und nicht artikulierte Zeitregime rigoros reguliert, beherrscht und unterdrückt werden.“ (S. 8)

Autor

Hartmut Rosa lehrt seit 2005 Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist seit Oktober 2013 Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Seine vielfältigen Arbeitsschwerpunkte beleuchten die Moderne aus verschiedenen Blickrichtungen, die sich mit Schlagworten wie bspw. Zeitdiagnose, Moderneanalyse, normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Beschleunigungstheorie oder Soziologie der Weltbeziehung belegen lassen.

Entstehungshintergrund

Auf der Basis seiner intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen der Beschleunigung in der Moderne (Habilitation) entwickelt der Autor einen neuen Zugang zum Konzept der Entfremdung, wodurch er es wiederbelebt und erweitert.

Aufbau

Der Essay besteht aus drei Teilen:

  1. Im Teil I geht es um die Beschreibung einer Theorie der sozialen Beschleunigung.
  2. Im Teil II entwirft Rosa Anforderungen an eine Kritische Theorie und entwickelt in der Auseinandersetzung mit den Theorien von Habermas und Honneth eine Ergänzung oder Erweiterung, in deren Zentrum die Beschleunigung steht.
  3. Im dritten Teil entwirft Rosa eine Kritische Theorie der sozialen Beschleunigung.

Inhalt

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der sozialen Beschleunigung: Im Rahmen einer Explikation im Teilkapitel 1, werden drei Phänomene der Beschleunigung beschrieben: die technische, die des sozialen Wandels sowie die des Lebenstempos. Im zweiten Teilkapitel werden die beiden Motoren der Beschleunigung vorgestellt: der „soziale Motor“ des „Wettbewerbs“ sowie der „kulturelle Motor“ der „Verheißung der Ewigkeit“. Sie bilden zusammen mit den drei Phänomenen den „Beschleunigungszirkel“ (S. 44). Im Teilkapitel 3 werden zur Kontrastierung fünf Phänomene der Entschleunigung beschrieben: die natürlichen Beschleunigungsgrenzen, die bspw. durch physikalische Grenzen gezogen werden, Entschleunigungsoasen, dysfunktionale Nebenfolgen der Beschleunigung, wie bspw. Staus auf Autobahnen, intentionale Formen der Entschleunigung (z. B. Pausen, Moratorien) sowie das paradoxe Phänomen der strukturellen und kulturellen Erstarrung, das die „Gestalt eines ‚rasenden Stillstands‘ annimmt.“ (S. 53). Im Teilkapitel vier wägt der Autor die Momente der Be- gegen die Momente der Ent-Schleunigung ab und kommt zu dem Urteil, dass die beschleunigenden Tendenzen überwiegen. Den Abschluss des ersten Kapitels bilden die Veränderungen des menschlichen In-der-Welt-Seins, das durch diese Beschleunigungsprozesse ausgelöst wird und das sich in verschiedenen, vielfach beschriebenen individuellen, familiären und sozialen Phänomenen zeigt. Über diese Phänomene urteilt der Autor, dass sie „weder gut noch schlecht“ sind, aber Veränderungen beschreiben, die bisher in der Sozialphilosophie weitgehend ignoriert worden seien. Ihrer Größe wegen, haben sie das Potential, „soziale Störungen zu erzeugen, die menschliches Leiden und Unzufriedenheit hervorrufen.“ (S. 66)

Im zweiten Teil seines Essays entwickelt Rosa im Teilkapitel 6 Anforderungen an eine „Kritische Theorie“: Dabei benennt er zunächst methodische wie methodologische Aspekte, die auf größere Diskurse verweisen, sowohl innerhalb der Kritischen Theorie selbst als auch in der Auseinandersetzung mit anderen Denktraditionen und -schulen. Inhaltlich knüpft er an Honneth an wenn er als normative Basis für eine Kritische Theorie „… das reale menschliche Leiden…“ (S. 72) vorschlägt. Letzteres kann jedoch nicht aus einer irgendwie gearteten „objektiven“ Außensicht erkannt werden, sondern immer nur aus der Beobachtung und Reflexion sozialer Praktiken; womit er eine Gegenposition zu universalistischen Ansätzen konzipiert; innerhalb der Kritischen Theorie bspw. gegenüber dem Denkansatz von Habermas. Mit diesen methodischen und inhaltlichen Setzungen stellt der Autor in den Teilkapiteln 7 und 8 Verbindungen zu Positionen innerhalb der Kritischen Theorie zu Habermas bzw. Honneth her, um im Teilkapitel 9 die These aufzustellen und zu begründen, dass „… die soziale Beschleunigung die Merkmale einer totalitären Herrschaft (…) aufweist und daher wie jede Form totalitärer Herrschaft kritisiert werden sollte.“ (S. 89)

Im dritten Teil entwirft Rosa eine Kritische Theorie der sozialen Beschleunigung. Dazu nutzt er in den drei Teilkapiteln 11-13 drei verschiedene Zugänge: Im Teilkapitel 11 eine „funktionalistische“ Perspektive, die sich mit Prozessen der „Desynchronisierung“, mit inhärenten Widersprüchen, etc. beschäftigt: So verlaufen verschiedene soziale Prozesse unterschiedlich schnell (z. B.: Überwindung von Raum durch immer schnellere Verkehrsmittel oder die Informationstechnik; dagegen lassen sich Bildungs- und Wachstumsprozesse bisher nur in begrenzter Form beschleunigen; auf der gesellschaftlichen Ebene: Demokratie als ein zeitintensiver Prozess, um so mehr, je divergenter die Positionen sind, die aufeinander bezogen werden sollen; ökonomisch: Die Abkopplung der Finanzströme von der „Realökonomie“), lassen sich in unterschiedlichem Maße beschleunigen und stellen so immer wieder neue Anforderungen an die Koordination dieser Prozesse mit dem Risiko der Desynchronisation. Im Teilkapitel 12 entwickelt Rosa eine „normative“ Sicht: Aufbauend auf dem Paradox, dass moderne, interdependente Gesellschaften einen immens hohen Koordinationsaufwand haben, der aber nicht sichtbar wird, der durch Regeln „aufgehoben“ erscheint, rekonstruiert der Autor die Zeitstrukturen als soziale Macht-Relationen: „Das alltägliche Leben ist zu einem Meer von Forderungen geworden …“ (Gergen 1996: 134), denen sich die modernen Subjekte unterworfen sehen. Zuletzt bezieht der Autor eine „ethische“ Position, aus der Rosa die „Möglichkeit von Glück“ abzuleiten und zu entwickeln sucht. Unter Rekurs auf das Projekt der Moderne, das Autonomie und ethische Selbstbestimmung und damit auch Pluralisierung als fundamentale Werte postuliert und fordert (beginnend in der Renaissance, über die Aufklärung und die französische Revolution), reflektiert der Autor die erlebbaren und beobachtbaren Einschränkungen – die den zentralen Kennzeichen der Moderne inhärent seien, zu ihrer Eigenstruktur gehörten, ohne die es ihre positiven Seiten nicht gäbe; deswegen gäbe es keine einfachen Auswege oder Lösungen. Im abschließenden 14. Teilkapitel belebt er den von Karl Marx in den soziologischen Diskurs eingeführten Begriff der Entfremdung wieder, indem er sechs Facetten sichtbar macht: Die Entfremdung vom Raum, von den Dingen, gegenüber den eigenen Handlungen, von der Zeit sowie vom Selbst, was zu sozialer Entfremdung führt.

In der Schlussbetrachtung ordnet Rosa seinen Entwurf in größere Zusammenhänge ein und skizziert in zwei Absätzen seine Ideenräume, in denen er nach Lösungen für die beschriebenen Phänomene suchen würde: Sie liegen eher im prä-kognitiven oder affektiven Raum, den Rosa durch ein Konzept aus der Musik („Resonanz“) anreichert, um auszudrücken, dass es ihm um eine Veränderung des Weltbezugs oder der Art des In-der-Welt-Sein der modernen Subjekte geht.

Diskussion

Bei der thematischen Breite und der Komplexität der Inhalte, die an konkreten Lebenserfahrungen moderner Individuen anknüpfen, die Rosa in seinem Essay entfaltet, bietet es Anlass zu weitgefächerten Diskursen: Schon alleine das halte ich für sehr wertvoll, in einer Zeit, in der die Zeitregime als quasi naturgesetzlich und damit nicht hinterfragbar erscheinen.

Aus dieser Breite einzelne Aspekte herauszuheben und in den Fokus der Diskussion zu stellen ist daher ein höchst subjektiver, extrem selektiver Vorgang, zumal er in diesem Rahmen auf ein paar wenige Aspekte beschränkt bleiben muss:

  • Ein heute üblicher Weg, mit Komplexität umzugehen und sie zu beherrschen zu suchen, ist die Vereinfachung durch Abstraktion – auch der Autor muss ihn mit seinen analytischen Konzepten beschreiten; indem er aber die konkreten Bezüge immer wieder einbindet, entsteht ein hoher Grad an Komplexion: Das erschwert das Verarbeiten beim Lesen, führt aber zu großen Erkenntnisgewinnen, gerade wenn man dabei weitere Fragen und andere Antworten als der Autor entwickelt.
  • Wie der Autor selbst formuliert, stellt das Essay einen Entwurf dar: Vieles ist noch vage und im Anspruch weitreichend. Suchte man nach Kritikpunkten, so wären sie schnell gefunden. – Mit einer hohen Präzision ginge aber das Anliegen des Autors, „richtige“ oder relevante Fragen zu entwickeln und zu formulieren rasch verloren.
  • In vielen Lebensbereichen haben wir uns in der Spätmoderne angewöhnt, unliebsame Phänomene als Symptome zu behandeln, für die man nach einer spezifischem Lösung sucht: Auch der Essay enthält Beispiele dafür aus dem kulturellen und sozialen Bereich. Üblicherweise führen solche Symptombehandlungen, in der Sprache der Ökonomen formuliert, zu Effizienzsenkungen. Der Autor entfaltet dagegen eine Analyse, die sich den Prozessen und Eigengesetzlichkeiten der Moderne stellt – und bietet so eine Basis, um nach effektiveren und effizienteren Veränderungen zu suchen.

Fazit

Eine geistvolle, sehr anregende Analyse der Spätmoderne, mit der es Rosa gelingt, disparate (negative) Erfahrungen moderner Subjekte, wie bspw. Termindruck, Fremdbestimmung, Vereinzelung, Versagensängste oder gar seelische Erkrankung, unter einer zentralen Perspektive zu analysieren und in Kontakt zueinander zu bringen. Dadurch entsteht eine – wenn auch komplexe – klare(re) Gestalt der Faktoren und Einflussgrößen, die ein „gutes Leben“ in der Spätmoderne beschränken – eine einfache Lösung bietet der Autor nicht, aber vielfältige Anregungen, über diese Begrenzungen ins Gespräch zu kommen, um daraus Lösungen zu entwickeln.

Rezension von
Prof. Dr. Gert-Holger Klevenow
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) z. Zt. Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) University of Applied Labour Studies Mannheim
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Es gibt 4 Rezensionen von Gert-Holger Klevenow.

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ISSN 2190-9245