Jörg Alt: Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex "illegale" Migration
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.09.2004
Jörg Alt: Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex "illegale" Migration. von Loeper Verlag (Karlsruhe) 2004. 524 Seiten. ISBN 978-3-86059-499-5. 29,00 EUR.
Einführung in das Thema des Buchs
Problemangemessene, humane und effiziente Migrationspolitik ist gefordert
Über Ursachen und Folgen von Migration als "Wanderungsprozesse" (Annette Treibel, Migration in modernen Gesellschaften, 1990), als Merkmal von "gesellschaftlichen Defizitwahrnehmungen" (Ingrid Gogolin / Bernhard Nauck, Hrsg., Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung, 2000), in der soziologischen Betrachtung als "Bewegungen von Personen und Personengruppen im Raum, die einen dauerhaften Wohnortwechsel bedingen (Petrus Han, Soziologie der Migration, 2000) und als Bestandteil der "Ausländerpolitik" (Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, 2001), gibt es zahlreiche Arbeiten. Sie stehen im Zusammenhang mit der Einschätzung, dass Migration und Integration eine Herausforderung für Deutschland sei (Klaus J. Bade / Rainer Münz, Migrationsreport 2000). Das 20. Jahrhundert wird immer wieder als das "Jahrhundert der Wanderungen" bezeichnet (Steffen Angenendt, Hrsg., Migration und Flucht, 1997), und damit als eine Herausforderung für die Gesellschaften. Durch die prekäre Normalität, die sich nach Heitmeyer (2002) in der deutschen Mehrheitsgesellschaft entwickelt hat, einerseits in der offensichtlich gesellschaftlich akzeptierten Situation, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, andererseits in der konfrontativen Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung zur "Ethnisierung" von Zugewanderten (T. Badaria u.a., Wider die Ethnisierung einer Generation. Beiträge zur qualitativen Migrationsforschung, 2003), ist offensichtlich im theoretisch-praktischen Diskurs um Gesellschaftsveränderung im Zeichen der Globalisierung völlig außer den Blick geraten, dass die "großen Migrationstheorien", ähnlich wie dies für die "großen" Entwicklungstheorien festgestellt wird (Reinold E. Thiel, Hg., Neue Ansätze zur Entwicklungstheorie, 1999; siehe dazu auch die engagierte Diskussion in der Zeitschrift "Entwicklung und Zusammenarbeit", E+Z), gescheitert sind. Die Erklärungsmodelle, wie "Push- und Pull-Faktoren", reichen heute nicht mehr aus, um der "wachsenden Unwirtlichkeit" (Peter J. Opitz) in vielen Teilen der Welt begegnen zu können. Weil sich also "Migration... im Zuge der Globalisierung der internationalen Arbeitsteilung" entwickelt hat (Regula Weiss, Macht Migration krank? Eine transdiszipline Analyse der Gesundheit von Migrantinnen und Migranten, 2003), sind Aspekte zu beachten, die bisher eher am Rande diskutiert oder tabuisiert wurden.
Ausgangspunkt und Ansatz des rezensierten Buchs
Hier setzt die umfangreiche Dissertationsschrift von Pater Jörg Alt, S.J., an. Der "Jesuiten-Flüchtlingsdienst" engagiert sich bei vielfältigen Fragen zur Migrationsthematik, wie: Abschiebehaft und insbesondere bei der Betreuung von sogenannten "Illegalen". Jörg Alt nennt die Situation, in der sich Menschen befinden, die sich aus vielfältigen Gründen in Deutschland gegen oder ohne gesetzliche Grundlagen aufhalten, als die "Schattenwelt der Illegalität". Dabei geht es ihm in erster Linie um ein Prinzip, das man "Pro Mensch" nennen könnte; z. B. erklärt er bereits in seinem Vorwort, dass er in seinem Buch bewusst darauf verzichtet, eingehendere Details zu Mechanismen und Wegen vorzustellen, "wie man trotz der zunehmenden Zahl an Kontrollen illegale Migrationsprojekte durchführen kann", um nicht noch mehr repressive Maßnahmen zu fördern. Das ist auch der Schlüssel zur Arbeit. Als illegale Migranten bezeichnet er Menschen, die "unerlaubt nach Deutschland einreisen und/oder sich unerlaubt in Deutschland aufhalten"; das heißt, die keine nach deutschem und internationalem Recht gültige Personenpapiere besitzen, die ihnen die Einreise erlauben würde. Unterschieden davon sind "scheinlegale Migranten", die mit scheinbar echten Papieren nach Deutschland einreisen. Seine Untersuchungen ergeben, dass die Anzahl der so genannten "Scheinlegalen" aufgrund der zunehmenden Abschottung der Außengrenzen in Europa und des zunehmenden Kontrolldrucks im Lande zunimmt.
Anlage und Ergebnisse einer Feldstudie
Die Feldstudie, die Teile der bereits 1999 publizierten Arbeit "Illegal in Deutschland" aufnimmt und ausweitet, will insbesondere neues, empirisch erhobenes und aufbereitetes Material zur Lebenssituation "Illegaler" dem öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs zugänglich machen. Durch Kontaktpersonen, die Informationen und Gespräche mit "Illegalen" vermitteln und Experten, die passiv, aktiv oder gestalterisch mit der Situation der betroffenen Menschen zu tun haben, wurden vom Autor die vorgelegten Daten und Fragestellungen ermittelt. Wesentlicher Bestandteil der Erhebungsmethoden bilden dabei die Interviews mit illegal in München und Leipzig lebenden Menschen. Wie nicht anders angesichts der repressiven Stimmung in Deutschland zu erwarten, war eines der wesentlichen Probleme bei den Kontakten mit "Illegalen" ein so genannten "Grundmisstrauen", das der Autor interessanterweise in München intensiver diagnostizierte ("dass der Verfolgungsdruck durch die bayerischen Behörden von ’Illegalen’ und Kontaktpersonen gleichermaßen als sehr ausgeprägt erlebt wird"), als in Leipzig. Hier ist denn auch die Frage nach der Repräsentativität der Studien gestellt: Wenn auch Unterschiede zur "migrationssystematischen Einbindung gewachsener Migrationsbrücken, die lokale Konjunktur und Arbeitsmarktstruktur, ethnische communities" festgestellt werden, so nimmt Jörg Alt doch für sich in Anspruch, mit seiner Arbeit eine "intersubjektive Objektivität" dar zu stellen. Dies wird man ihm bescheinigen können.
Die Studie liefert zahlreiche (neue) Daten und Erkenntnisse, etwa zu den Motiven, also zum "Weg in die Illegalität", zu den Kontakten und Bindungen während der Illegalität in Deutschland, sowie zum "Leben in der Illegalität", die schlicht mit dem Schlagwort "Ausbeutung" bei den vielfältigen (illegalen) Beschäftigungen von "Illegalen" belegt werden können:
- bei der Beschäftigung im gewerblichen Sektor (Bau, Gastgewerbe, Putzkolonnen),
- im privaten Sektor (Alten- und Krankenpflege, Haushaltshilfe, Kinderaufsicht, Putzen, Gärtnern, Sexarbeit);
Hinzu kommen problematische Wohnverhältnisse, eine unzureichende Gesundheitsvorsorge, bis hin zu psychischen Problemen und Abhängigkeiten. Dass die Bewertung der Lebenssituationen von "Illegalen" nicht so einfach ist und die Spanne zwischen Zufriedenheit und Unzufriedenheit von Außenstehenden kaum richtig eingeschätzt werden kann, ist eine jener Erfahrungen, die den Autor davon sprechen lässt, "gefangen in der Migrationsfalle" zu sein. Nach Auffassung des Autors dürfte es unmöglich sein, die sich als "Schattenwirtschaft" auftretenden Globalisierungseffekte ohne veränderte Rahmenbedingungen in formelle Wirtschafts- und Gesellschaftsprozesse zurückführen lassen. Deshalb sei der Jetztzustand - lokal und global - ein schützens- und förderungswerter Zustand. Mögliche Lösungen werden im Rahmen der Globalisierungsdiskussion vielfältig diskutiert; unerlaubte Migration, die wiederum "Illegale" schafft, könne nur dann wirksam geregelt und kontrolliert werden, wenn die Entwicklung von Politikmaßnahmen alle jene einbezogen werden, die diese Maßnahmen betreffen: Herkunfts- und Transitstaaten ebenso wie "Schleuser" oder "Illegale". An Manuel Castells Analyse einer "Netzwerkgesellschaft" ist die Globalisierungsentwicklung geprägt von zweifachen Auswirkungen; globale Wirtschafts-, Finanz- und Handelsverbindungen wachsen immer mehr zu einer Macht zusammen, und die Segmente der Weltgesellschaft, die für diesen globalen Wettbewerbs- und Akkumulationsprozess nicht nützlich sind, werden marginalisiert und ausgegrenzt. "Illegale Migration" stellt sich in diesem Zusammenhang als ein "Netzwerkgeschehen" dar.
Fazit
Damit das Skandalon - "Alle schweigen in der Öffentlichkeit zum Thema" - ein Ende hat, sind Information und Aufklärung die wichtigsten Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben in unserer Gesellschaft. Jörg Alt unterscheidet vier Gruppen in der Gesellschaft:
- Die Engagierten, deren Zahl seiner Meinung nach wächst;
- die Ängstlichen, die Repressionen und Strafen beim Engagement fürchten;
- die Profiteure, die beim jetzigen Zustand gewinnen;
- und die Unwissenden, die sich auch für das Problem nicht interessieren.
Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem "Leben in der Schattenwelt" in unserer Gesellschaft auch eine Bildungsaufgabe für alle Menschen, lokal und global. Eine erste vertrauensbildende Maßnahme wäre nach Meinung des Autors schon, wenn es gelänge, die "Entkriminalisierung humanitärer Hilfe" zu erreichen, genau so wie eine "Entkriminalisierung der Illegalen". Trotz des Autors "Zweifel bezüglich der Sinnhaftigkeit, Energie in ein öffentliches, reformorientiertes Engagement zu investieren", bleibt uns kein anderer Weg, den Zynismus der neoliberalen Globalisierung und den damit verbundenen Auswirkungen auf Menschen, "Legale" und "Illegale", zu überwinden. Dafür hat Jörg Alt einen wichtigen Eckpfeiler in das gesellschaftliche Gebäude gesetzt, das man mit dem Begriff "Perspektivenwechsel" bezeichnen kann. Eine "Pflicht"lektüre für alle Politiker und gesellschaftlich Engagierten, für uns alle also!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 21.09.2004 zu:
Jörg Alt: Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex "illegale" Migration. von Loeper Verlag
(Karlsruhe) 2004.
ISBN 978-3-86059-499-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1672.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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