Alexander Glück: ADHS. Wie lebhafte Kinder für krank erklärt werden
Rezensiert von Dr. Thomas Damberger, 28.04.2014
Alexander Glück: ADHS. Wie lebhafte Kinder für krank erklärt werden.
Manuscriptum Verlagsbuchhandlung
(Waltrop) 2013.
93 Seiten.
ISBN 978-3-937801-89-6.
D: 9,80 EUR,
A: 10,10 EUR,
CH: 14,90 sFr.
Reihe: Edition Sonderwege bei Manuscriptum.
Thema
Alexander Glück befasst sich im vorliegenden Buch in essayistischer Form mit dem Thema ADHS. Er beleuchtet das Phänomen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, ohne dabei den Anspruch zu erheben, ADHS, ihre Ursachen und Zusammenhänge als solche erklären zu wollen. Ihm geht es vielmehr um eine Aufklärung bezüglich der „Hintergründe, die dazu geführt haben, daß heute Verhaltensweisen als krankhaft verfolgt werden, die jahrhundertelang als völlig normal galten“ (15).
Autor
Alexander Glück, Magister Artium, studierte Buchwesen, Politikwissenschaft und Deutsche Volkskunde. Seit 1996 lebt er in Österreich, verfasst Beiträge u.a. für die Wiener Zeitung, Die Presse, Der Standard, Neue Zürcher Zeitung, Basler Zeitung, Buchhändler heute, Stern und Frankfurter Rundschau und ist Autor zahlreicher Sachbücher.
Aufbau und Inhalt
Das 96 umfassende Buch ist in acht Teile gegliedert.
Im 1. Teil („Was dieses Buch nicht ist“) empfiehlt der Autor ausdrücklich, die Lektüre nicht als Ratgeber zu verstehen. Seine Überlegungen entstammen, so Glück, der Feder eines Nicht-Fachmanns, der Erfahrungen aus dem privaten Umfeld mit Recherchen zum Thema und einem gesundem Urteilsvermögen kombiniert (8).
In Teil 2 („Einleitung“) widmet sich der Autor in fragender Haltungen dem, was aus seiner Sicht gemeinhin als ADHS bezeichnet wird. Dabei verdeutlicht er, dass es ihm nicht darum geht, Verhaltensmuster schönzureden oder die Existenz der unter der Diagnose ADHS begriffenen Auffälligkeiten zu negieren, sondern darum „einer Tendenz entgegen[zu]wirken, daß mit diesem Etikett der Bedürftigkeit all diejenigen stigmatisiert und kategorisiert werden, die für sich genommen kerngesund wären, wenn man sie nur ließe“ (16). Glück plädiert mit seinen Überlegungen für einen Perspektivenwechsel. Nicht das problematische bzw. problematisierte Kind soll im Mittelpunkt stehen, sondern die „wirklichen Ursachen im familiären, sozialen, schulischen und gesamtgesellschaftlichen Umfeld“ (22).
Im 3. Teil („Die Karriere einer Unterstellung“) präsentiert der Autor einen historischen Abriss. Ausgehend von einer 1970 erschienenen Publikation der Autor/innen Trapmann, Liebefrau und Rotthaus mit dem Titel „Auffälliges Verhalten im Kindesalter – Bedeutung, Ursache, Korrektur“, in der die häufig auftretende motorische Unruhe bei Kindern in erster Linie als Reaktion auf Umgebungseinwirkungen verstanden wird, sieht Glück mit der Etablierung der Bezeichnung MCD (Minimal Cerebral Dysfunction) eine Fokussierung frühkindlicher leichter Hirnschädigungen als Ursache für Verhaltensauffälligkeiten (28ff). Die MCD wurde in den 1990 Jahren durch die ADHS sukzessive abgelöst, geblieben ist die Konzentration auf das störungsbeladene Kind bei gleichzeitiger Marginalisierung der Umweltfaktoren.
Diesem Komplex widmet sich Glück im 4. Teil („ADHS: mögliche Erklärungen“). Mögliche Ursachen für die Diagnose ADHS sieht Glück im sich verändernden Medienkonsum, seien es Computerspiele oder Filme. Dabei geht es weniger um den Konsum als solchen, sondern darum „in welcher Weise die Reizverarbeitung im kindlichen Gehirn beeinflußt wird, wenn man ihm regelmäßig rasant geschnittene Filme zeigt“ (46). Hier werden implizit Bezüge zu Christoph Türckes unlängst erschienener „Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ deutlich. Eine weitere Ursache sieht Glück in einer ungünstigen symbiotischen Beziehungsstruktur zwischen Mutter und Kind. Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff, auf den der Autor sich explizit bezieht, hat diese Beziehungsstörung bereits 2008 einem breiten Publikum vorgestellt. Eine dritte Ursache vermutet Glück darin, dass „die Gesellschaft insgesamt weniger Verständnis für kindliche Aktivität aufbringt“ (48). Indem er im weiteren Verlauf die Pathologisierung von Verhaltensweisen, die ehemals als normal galten, anspricht, greift Glück auf eine Argumentationsfigur zurück, die der US-Amerikaner Francis Fukuyama 2002 in „Das Ende des Menschen“ herausgearbeitet hat. In der Tat erweist es sich als problematisch, in einem Umfeld längere Zeit Aufmerksamkeit an den Tag zu legen, in dem das genauer Gegenteil nahezu permanent gefordert wird. Ständig summt ein Gerät, und wir „fallen […] ihm reflexhaft anheim […] Wenn irgendwo Aufmerksamkeitsstörungen festzustellen sind, dann sollte man sich einmal fragen, ob in unserer Zeit überhaupt noch irgendwelche Dinge konsequent zu Ende gebracht werden“ (51).
Im 5. Teil („Psychodroge Ritalin“) thematisiert Glück die aus seiner Sicht gängige Praxis der allzu schnellen medikamentösen Behandlung der mangelnden Aufmerksamkeit. Problematisch erweist sich aus Sicht des Autors die schnelle Wirksamkeit von Methylphenidat. In der Tat werden Kinder unter Einfluss von Ritalin und Co ruhiger, aber gerade „weil es die meisten Kinder ruhiger macht, ersetzt dieser Wirkeffekt die Diagnose“ (61). Die Vergabe von Ritalin stellt ohne Zweifel einen Eingriff in die Funktionsweise des kindlichen Körpers dar. Die Ziele mögen edel sein, denn die meisten Eltern handeln vermutlich in der Überzeugung, letztlich zum Wohl des Kindes beizutragen. Tatsächlich wird, so Glück, kaum der Umstand angesprochen, dass „[m]illionenfach […] in die Würde heranwachsender Menschen und in ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen [wird], indem auf physiologische Weise Aspekte ihrer seelischen Persönlichkeit gedämpft oder ganz abgeschaltet werden.“ (62f.). Hier wird in vielen Fällen nicht therapiert, sondern geformt, und das Ziel dieses Formens scheint der angepasste Mensch zu sein. Ob es sich um ein Anpassen an eine menschliche oder gar an eine inhumane (Um-)Welt handelt, bleibt offen.
Teil 6, überschrieben mit „Die Biologisierung abweichenden Verhaltens“, widmet sich der bereits thematisierten Fokussierung auf das Kind und dessen fehlerhafte, an biologische Dispositionen festgemachte Funktionsweise. Erneut greift der Autor seine Forderung nach einem Perspektivenwechsel auf: „Man tut seinem Kind (und sich selbst) sicher keinen Gefallen, wenn man das Problem nicht als Ganzes betrachtet, und dazu gehören nun einmal auch die Eltern und sonstigen Bezugspersonen des Kindes.“ (71). Die Verhaltensweise des Kindes zu pathologisieren entbindet das Kind überdies von seiner Verantwortung. So ist das Kind eigentlich in Ordnung, nur der Körper funktioniert nicht richtig. Ihn gilt es daher medikamentös zu richten (und zuzurichten). In Verbindung mit einer symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Kind wird dann mit der Befreiung des Kindes von Verantwortung zugleich auch die Mutter ent-schuldigt (vgl. 81).
Der anschließende 7. Teil („Mögliche Ursachen unruhigen Verhaltens“) fasst das mangelnde Bewusstsein der Verantwortung der Erziehenden noch einmal pointierter. Die rein biologischen Ursachen für ein Aufmerksamkeitsdefizit werden vom Autor nicht abgesprochen, in den meisten Fällen ist es aber, so Glück, der Einfluss der direkten Umgebung, der für die Diagnose ADHS verantwortlich ist. Kinder senden Signale, die es wahrzunehmen und ernstzunehmen und eben nicht zu sedieren gilt (87).
Im 8. Teil („Zum Schluß“) weist Glück auf sich verändernde Beziehungskonstellationen hin, in denen er eine mangelnde Struktur und damit eine fragwürdige Antwort auf das Sicherheitsbedürfnis von Kindern sieht. Ungewöhnlich scharf formuliert Glück seine Kritik, indem er schreibt: „Das Erspinnen immer neuer und immer kruderer Beziehungs- und Verwandtschaftsvariationen, zu dessen zwangsläufigen Folgen es gehört, daß Kinder in nichtbewährten Strukturen aufwachsen, entspringt einem Zeitgeist der galoppierenden Egomanie. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn unsere Kinder irritiert und seltsam auf den Zerfall verläßlicher Strukturen reagieren.“ (90f.).
Diskussion
Das vorliegende Buch zeichnet sich durch ein bemerkenswertes Maß an Ehrlichkeit aus. Hier gibt ein Autor ganz offen zu, dass er kein Fachmann ist. Weder pädagogisch, noch psychologisch oder medizinisch vorgebildet, widmet sich Alexander Glück einem mittlerweile glücklicherweise fragwürdig gewordenen Phänomen. Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom kann im Grunde genommen nur begriffen (vielleicht sogar verstanden) werden, wenn es aus interdisziplinärer Perspektive inklusive einem gesundem Urteilsvermögen beleuchtet wird. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler wird ADHS eher als kulturell-indizierte Störung verstehen, der Mediziner eher als biologische Dysfunktion, der Sozialwissenschaftler eher als soziales Konstrukt und der Pädagoge eher als Erziehungsdefizit. Verkürzt wäre es, nur eine der vielen möglichen Perspektiven herauszugreifen, wenngleich es Fälle gibt, in denen nur eine Erklärung zutreffend ist. Das Phänomen ADHS ist hingegen vielseitig. Der Autor greift mehrere Perspektiven auf, arbeitet sie aber nur selten und oft sehr verkürzt heraus. Nun handelt es sich bei „ADHS. Wie lebhafte Kinder für krank erklärt werden“ nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, auch nicht um einen Ratgeber, sondern viel eher um ein essayistisch verfasstes Sachbuch. Dennoch sind Glücks Überlegungen vom Duktus getragen, dem Leser den Rat zu geben, sich nicht auf eine einseitig naive Pathologisierung des Kindes mit anschließender medikamentösen Behandlung einzulassen. Der Autor will also doch ein stückweit aufklären. Und in der Tat gelingt es ihm aufzuzeigen, dass es andere Gründe für ADHS geben kann. Diese anderen Gründe werden genannt. Hergeleitet, genauer analysiert oder miteinander in Beziehung gesetzt werden sie hingegen nicht. Misst man den Autor an seinem eigenen Anspruch, jene Hintergründe zu erklären, „die dazu geführt haben, daß heute Verhaltensweisen als krankhaft verfolgt werden, die jahrhundelang als völlig normal galten“, tritt im Anschluss an die Lektüre eine gewisse Unzufriedenheit an den Tag, denn wirklich erklärt werden diese Hintergründe nicht. Dazu verbleiben die Überlegungen insgesamt zu sehr auf der Oberfläche und erweisen sich alles in Allem als zu undifferenziert. Die mangelnde Differenziertheit wird auch in der Struktur des Buches deutlich. Die einzelnen Abschnitte befassten sich auch mit dem, was in der Überschrift genannt wird, sind aber inhaltlich nur selten voneinander abgetrennt. Um mögliche Ursachen unruhigen Verhaltens geht es in vielen Teilen, um mögliche Erklärungen der ADHS auch.
Fazit
An Fachleute richtet sich das Buch sicherlich nicht. An interessierte Laien nur dann, wenn sie eine Bestätigung für ihre Vermutung suchen, dass ADHS nicht nur eine biologische Störung des Kindes darstellt. Ob ihm die Begründung dieses Nicht-Nur ausreicht, bleibt dem Leser überlassen.
Rezension von
Dr. Thomas Damberger
Professur für Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung an der Freien Hochschule Stuttgart
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Zitiervorschlag
Thomas Damberger. Rezension vom 28.04.2014 zu:
Alexander Glück: ADHS. Wie lebhafte Kinder für krank erklärt werden. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung
(Waltrop) 2013.
ISBN 978-3-937801-89-6.
Reihe: Edition Sonderwege bei Manuscriptum.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16723.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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