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Hans Hopf: Die Psychoanalyse des Jungen

Rezensiert von HS-Prof. Dr. Doris Lindner, 22.05.2014

Cover Hans Hopf: Die Psychoanalyse des Jungen ISBN 978-3-608-94775-5

Hans Hopf: Die Psychoanalyse des Jungen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2014. 401 Seiten. ISBN 978-3-608-94775-5. D: 44,95 EUR, A: 46,30 EUR, CH: 59,90 sFr.
Reihe: Fachbuch.

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Thema und Entstehungshintergrund

Soziale Auffälligkeiten und psychische Störungen werden in vielen Diskursen zentral mit einem Geschlecht in Verbindung gebracht. Jungen und männliche Jugendliche, so scheint es, sind in ihrem Aufwachsen und den Anpassungsleistungen an eine sich wandelnde Moderne mit neuen Problemen und Anforderungen konfrontiert. Erfahrungen in der Psychotherapie aber auch Befunde aus aktueller empirischer und klinischer Forschung zeigen und deuten die scheinbar prekär werdenden Bedingungen für Jungen an vielerlei Faktoren, um Verhaltensweisen zu verstehen und für Hilfestellungen im Besonderen und den Austausch im Allgemeinen fruchtbar zu machen. Wenn es um die Entwicklung männlicher Identität geht, steht vor allem die Beziehungstirade Mutter-Vater-Sohn im Zentrum der Analyse und damit auch, bedingt durch die sozialen Veränderungen aber auch durch den Wandel der Familienformen, das Fehlen männlicher Bezugspersonen und die damit einhergehende Rollenunsicherheit. Darüber hinaus lassen Leistungs- und Erziehungsbedingungen in schulischen und institutionellen Kontexten Jungen ‚anders‘ in Erscheinung treten als Mädchen aufgrund ihrer Sozialisationserfahrungen. Die Neigung, Konflikte und innere Unruhe nach Außen zu tragen, lässt Jungen schneller als Unruhestifter und Störenfried erscheinen, was selbst wiederum negative Konsequenzen für den schulischen (Bildungs)Erfolg mit sich bringen kann. Aus psychoanalytischer Sicht zeigen Jungen immer häufiger Probleme mit der Handhabung ihrer Affekte, so werden beispielsweise Verhaltensauffälligkeiten (insbesondere ADHS) oder Lern- und Sprachstörungen bei Jungen ungleich häufiger diagnostiziert. Das Buch umfasst viele Themen, im Mittelpunkt stehen jedoch die Entwicklung männlicher Identität sowie psychische Ursachen von Aggressionen und Affektregulierung, Bewegung und Bewegungsunruhe sowie Aufmerksamkeit und ihre Störungen.

Autor

Hans Hopf (Dr. rer. biol. hum) ist als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut in freier Praxis tätig, darüber hinaus Dozent und Kontrollanalytiker an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart, Freiburg und Würzburg sowie Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck. Geboren 1942 in Teplitz-Schönau, studierte er nach dem Abitur Pädagogik in den Fächern Mathematik und Physik und unterrichtete in Grund- und Hauptschulen. 1987 nahm Hopf sein Studium der Medizinischen Psychologie, Physiologie und Psychiatrie an der Universität Ulm auf und promovierte 1989 an der Fakultät für Theoretische Medizin derselben. Bislang sind zahlreiche Veröffentlichungen von ihm erschienen, so unter anderem im März 2014 das Buch „Schulangst und Schulphobie“, wissenschaftliche Artikel mit den Schwerpunkten Aggression, Traum und spezielle Neurosenlehre bei Kindern und Jugendlichen sowie Beiträge für Rundfunkt und Fernsehen. Im April 2013 erhielt Hans Hopf gemeinsam mit Fritz Mattejat den Diotima-Ehrenpreis der deutschen Therapeutenschaft für sein Lebenswerk.

Aufbau und Inhalt

Das Buch bietet eine sehr umfangreiche und vielfältige Gesamtdarstellung zur Psychoanalyse des Jungen und greift zentrale Themen auf, die anhand zahlreicher Beispiele und Fallsequenzen beleuchtet und interpretiert werden. Neben einer Einführung, ‚Jungen auf der Suche nach ihrer Identität‘, ist das Werk in 11 Hauptkapitel unterteilt und schließt mit einem Epilog sowie Literatur- und Stichwortverzeichnis. Versucht wird der Entwurf einer ‚Entwicklungspsychologie des seelisch gesunden Jungen unter psychoanalytischen Aspekten‘ (S. 15), wie Hans Hopf einleitend schreibt. Dies beinhaltet diffizile Problembereiche, zunächst individuelle Entwicklungen, die das Entstehen von neurotischen Störungen und ihren seelischen Folgen zu erklären versuchen, bedeutet aber auch, gesellschaftliche Einflüsse in der Gesamtanalyse mit zu berücksichtigen (wie etwa die Folgen von Kriegstraumatisierungen auf die Identitätsentwicklung von Jungen). Gefragt werden muss darüber hinaus, was als männliche Identität zu verstehen ist und wie Jungen sie in Abhängigkeit von Bindungs- und Beziehungserfahrungen erlangen. Insbesondere muss auch die Bedeutung der Väter in der Entwicklung der Geschlechtsidentität hervorgehoben werden, denn verschiedene Besonderheiten von Jungen in ihrer Entwicklung zeigen vielfach geschlechtsspezifische Probleme. Neben biologischen Determinanten (Jungen reagieren und verarbeiten bestimmte Phasen ihres physischen und psychischen Wachstums anders als Mädchen), schreibt die Psychoanalyse auch Faktoren aus der sozialen Umwelt des Jungen hohe Bedeutung bei, vor allem den Interaktionen mit primären Bindungspersonen sowie soziokulturellen Determinanten.

So zeichnet Hopf nach seinen einführenden Worten in Kapitel 1 zunächst Bilder der Mutter in unterschiedlichen psychoanalytischen Theorien mit ihrem jeweils differenzierenden Blick auf Erleben nach, so unter anderem Darstellungen von Sigmund Freud, Melanie Klein, C.G. Jung, René A. Spitz oder Margaret Mahler. Darüber hinaus beleuchtet Hopf den Einfluss der Mutter auf die Entstehung von Sexualität und männlicher Identität.

Kapitel 2 widmet sich der Beziehung zwischen ‚Vater und Sohn‘ und seiner Rolle im Erwerb männlicher Identität. Er fragt wird zunächst nach der ‚Bedeutung und Funktion des Vaters innerhalb der Psychoanalyse‘, der ‚Identifizierung sowohl mit Mutter und Vater von Anfang an‘, der Entwicklung von Über-Ich und Ich-Ideal und dem Inzestverbot. Im Anschluss danach zeigt Hopf zentrale kritische Bereiche und Problemfelder für den Entwicklungsverlauf von Psychosexualität und Geschlechtsidentität des Jungen auf und diskutiert sie zusammenfassend im Beziehungsdreieck von Mutter und Vater und der Frage, wie der Junge ‚männlich‘ wird. „Die Frage, was denn männlich ist, führte zur Erschütterung einer Identitätsentwicklung des Jungen und ist bis heute nicht ausreichend beantwortet worden“ (S. 118).

In Kapitel 3, ‚Schaltstellen der Triebentwicklung des Jungen‘, beleuchtet der Autor zunächst den Kastrationskomplex, den Ödipuskomplex und die Beschreibung der phallischen Phasen. Hier geht der Autor u.a. der Frage nach, wie viele phallische Qualitäten ein Junge heute haben darf und resümiert, dass in den Dienstleistungssektoren vor allem ‚weibliche‘ (oknophile) Eigenschaften gebraucht werden: „Ich habe den Eindruck, dass die meisten jungenhaften (philobatischen und phallischen) Tendenzen in der heutigen Pädagogik nicht den gleichen Stellenwert besitzen wie die oknophilen der Mädchen und in einem weiblich dominierten Bildungssystem ‚überwunden‘ werden sollen“ (S. 119).

Kapitel 4, ‚Die Latenz heute‘ und Kapitel 5, ‚Adoleszenz‘, beschreiben die Entwicklungen der Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein auf mehreren Ebenen sowie die Rolle des Vaters im Beziehungsdreieck Mutter-Vater-Kind. Adoleszenz folgt der Phase der Latenz, körperliche Veränderungen wirken direkt auf das psychische Erleben, müssen aber auch im Kontext soziokultureller Prozesse gesehen werden. „Im besten – heute nicht mehr selbstverständlichen – Falle hat die Latenz das Ich soweit gestärkt, dass die Adoleszenz jetzt beginnen kann“ (S. 158). In ‚Die Mutter – zwischen Ernähren und Begehren‘ werden Bindungs- und Beziehungsprobleme der Mutter-Sohn-Dyade und das Fehlen des Vaters erläutert. Hopf sieht diesen Umstand bzw. das ‚Alleinerziehen‘ als ein Faktor der Vulnerabilität von vielen an. An unterschiedlichen Fallsequenzen werden Folgen konflikthafter Beziehungen zur Mutter bzw. ‚Zu lange und zu nahe dem Körper der Mutter ausgesetzt‘ beschrieben. Der Autor zeigt damit, wie Varianten von Männlichkeit im Beziehungsdreieck Mutter-Vater-Kind entstehen und von der Nähe, Distanz zu Mutter und Vater bestimmt und reguliert werden.

Kapitel 7 und Kapitel 8 ‚Das Elternpaar‘ und ‚Brüder und Schwester‘, beschreiben das Angewiesensein sicherer und haltgebender Repräsentanten (Mutter, Vater, Geschwister) für die Bewältigung von Konflikten. Auch Geschwister sind, wie Eltern, durch ein „differenziertes und wechselseitiges wirksames Bindungsprogramm der Liebe verbunden“ (S. 265).

In Kapitel 9, ‚Die Aggressionen des Jungen‘, zeigt Hopf, dass Jungen häufiger Probleme mit der Beherrschung von Affekten haben, dass sie externalisieren und ihre sexuelle Identität gefährdet ist: „So gut wie immer sind Gewalttätigkeiten und Aggressivität bei männlichen Jugendlichen Begleitsymptome von sogenannten dissozialen Störungen“ (S. 292). Erläutert werden die in der Psychoanalyse zentralen Theorien zur Aggression, Todestrieb nach Sigmund Freud und Melanie Klein, narzisstische Wut nach Heinz Kohut und feindselige Destruktivität nach Henri Parens.

Dass Externalisierungen und externalisierende Störungen häufiger bei Jungen auftreten, psychische Störungen deutlich geschlechtsspezifisch sind, führt der Autor im folgenden Kapitel 10, ‚Externalisieren – Bewegung – Räume‘, weiter aus. Erläutert wird die ‚Theorie von Michael Balint über die Entstehung von Objektbeziehungen und ihren Störungen‘, beinhaltet zudem Ausführungen zur ‚Lust an der Bewegung‘ und ‚Gefährliche Objekte, Skills und Sehnsucht nach der Weite‘. Das Kapitel schließt mit Fakten über ‚Jungen und Computergewalt‘.

Daran anschließend bespricht Hopf in Kapitel 11 das Thema ‚Aufmerksamkeit‘, das innerhalb der Psychoanalyse ein zentraler Begriff ist. Neben Begriffsbestimmungen und der Erklärung des psychoanalytischen Verständnisses von Aufmerksamkeit geht Hopf der Frage nach, warum vor allem Jungen unaufmerksam sind.

Im Epilog, ‚Jungen werden männlich‘, resümiert der Autor und fasst seine Gedanken für die Leserin, den Leser zugespitzt in Worte, spannt dann nochmals den Bogen zu dem in der Einleitung bereits angerissenen Thema ADHS und ihren zum Teil kontroversen Debatten: „Jungen werden […] viele Stereotypien zugeschrieben, die um Versagen, Gewalt und Unruhe kreisen […]. Die Diagnose ADHS hat ihnen die Seele endgültig geraubt. Der Junge wird heutzutage zweifach ruhig gestellt, mit Entwertung und mit Medikation.“ (S. 374).

Diskussion

Hans Hopfs umfassendes Werk beinhaltet und beleuchtet vor allem psychoanalytische Erkenntnisse über Jungen, Beziehungen, Wahrnehmungen, Gefühle und unbewusste Prozesse. Ausgehend von der These, dass Jungen als ‚Emanzipationsverlierer‘ überwiegend ‚vaterlos‘ in einer feminisierten Welt aufwachsen, zeigt der Autor in überzeugender Weise, warum Jungen häufiger als Mädchen soziale Auffälligkeiten und psychische Störungen entwickeln. Das Buch richtet sich in erster Linie an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und damit an therapeutische Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken, beschreibt aber auch Möglichkeiten einer adäquaten pädagogischen und erzieherischen Begleitung. In der Tat trägt das Thema durchaus auch interdisziplinäre Züge, an den Schnittstellen Psychoanalyse, Pädagogik, Soziologie aber auch der Philosophie angesiedelt, zeigt es vor allem, dass das Thema kein isoliertes ist und im Kontext des sozialen Lebens betrachtet werden muss, damit auch Überlegungen über die Zukunft antizipiert. Ein Gewinn für die Leserin, den Leser sind vor allem die ausführlichen und zahlreichen Fallsequenzen, die den einzelnen Kapiteln den Feinschliff geben. Im Verlauf des Buches entwickelt Hopf die Bedeutung zentraler Schlüsselbegriffe, Entwicklungslinien, die weitreichend sind und nach und nach den Kern und die Konzeption seiner Ideen veranschaulichen. Die präzisen Ausführungen, Diskussionen von Theorien und empirischen Befunden aber auch Hopfs Erkenntnisse innerhalb der Psychoanalyse beeindrucken durch die Materialfülle, die diesen Band auch problemlos zu einem Nachschlagewerk werden lassen. Der Blick auf das Gesamtwerk mit all seinen Facetten und die behutsame Reduktion auf das Wesentliche sind in den Details angelegt und bieten insgesamt eine eindrucksvolle Perspektive auf die Bedeutung der Arbeit und Bemühungen Hans Hopfs. So lässt der Autor bereits in seinem Vorwort erahnen, dass das Buch keine langen Rechtfertigungen für seine Existenz benötigt: „Um den Jungen die Seele zurückzugeben“ steht vor allem zentral die Entwicklung männlicher Identität im Beziehungsdreieck Mutter-Vater-Kind, den Anspruch einer Entwicklungspsychologie des ‚seelisch gesunden Jungen‘ hat der Autor hier, wie ich meine, mehrfach eingelöst.

Fazit

Mit diesem Band ist es Hans Hopf gelungen, ein faszinierendes Panorama einer psychoanalytischen Gesamtdarstellung über Jungen vorzuführen. Geliefert werden nicht nur neue Erkenntnisse, der Band eignet sich auch sehr gut als Einstieg in bislang neue Wissensgebiete. Eine absolut empfehlenswerte Lektüre.

Rezension von
HS-Prof. Dr. Doris Lindner
Institut Qualitätsmanagement und Hochschulentwicklung
Private Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems
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Es gibt 34 Rezensionen von Doris Lindner.

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Zitiervorschlag
Doris Lindner. Rezension vom 22.05.2014 zu: Hans Hopf: Die Psychoanalyse des Jungen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2014. ISBN 978-3-608-94775-5. Reihe: Fachbuch. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16743.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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