Manfred Faßler: Das Soziale (menschliche Selbstorganisation)
Rezensiert von Dr. Georg Singe, 18.06.2014
Manfred Faßler: Das Soziale. Entstehung und Zukunft menschlicher Selbstorganisation. Wilhelm Fink Verlag (München) 2014. 285 Seiten. ISBN 978-3-7705-5635-9. D: 44,90 EUR, A: 46,20 EUR, CH: 59,90 sFr.
Thema
Die Abhandlung thematisiert die evolutions- und kulturgeschichtliche Entwicklung des Sozialen bis in die derzeitige Situation der netztechnologischen Märkte, in denen das Soziale zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor transformiert wird und in denen sich alle Akteure immer wieder neu strategisch positionieren müssen. Die Dynamik dieser Selbstorganisation des Sozialen wird interdisziplinär aus biologischen, paläoanthropologischen, politischen, philosophischen, soziologischen und medienwissenschaftlichen Forschungen reflektiert.
Autor
Prof. Dr. phil. Manfred Faßler lehrt an der Goethe- Universität in Frankfurt am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie. Er ist ausgewiesener Experte für die gesellschaftskulturelle Bedeutung der Neuen Medien und hatte bereits 2008 und 2009 mit seinen Publikationen „Der infogene Mensch“ (2008) und „Nach der Gesellschaft“ (2009) die Entstehung, Geschichte und Gegenwart der informationellen Intelligenz des Homo sapiens samt der entsprechenden Sozialformen in den Mittelpunkt seiner soziologischen und anthropologischen Forschung gerückt.
Entstehungshintergrund
Nachdem in einem ersten Kapitel als Vorwort (S. 9-34) die Grundprämissen der Abhandlung dargestellt werden, beschreibt der Autor in einem zweiten Kapitel (S. 35-66) sehr lebendig den Werdegang und die zentralen Leitideen der vorliegenden Publikation auf dem Hintergrund vieler Fachgespräche des Autors mit Raimar Zons, dem Gesamtleiter des Wilhelm Fink Verlages und Professor für Literaturwissenschaften an der Universität Paderborn.
Aufbau und Inhalt
Der Aufbau gliedert sich in fünf weitere Kapitel.
Zum einen werden im dritten Kapitel (S. 67-94) die Zusammenhänge biologischer und sozialer Evolution und die dahinter stehenden Programme beleuchtet. Ein Grundverständnis des Sozialen im Hinblick auf die Selbstorganisation wird entfaltet. Dabei wird „das Soziale 1.er Ordnung“ vom „Sozialen 2.er Ordnung“ (S. 77f) unterschieden und an der Entwicklungsstufe des Übergangs zur Zeichensprache festgemacht, aus der sich dann die entsprechenden Gesellschaftsformen ergeben. Dabei ist das Soziale jeweils „ein Modellkonsens über Einsatz, Verteilung und Anhäufung von Energie-, Nährstoff- und Informationsressourcen“. Die dem Buch zugrunde liegende zentrale Idee des „Sozialen 3.er Ordnung“, als „digitale, weltweit verstreute und vernetzte Sozial-Habitate“ (S. 33) wird immer wieder in allen Kapiteln von den unterschiedlichen Gesichtspunkten her entfaltet.
So wird im vierten Kapitel (S. 95-144) die phylogenetische Perspektive der Entwicklungsgeschichte des Sozialen in den Mittelpunkt der Reflexion gerückt und die These der Überwindung der klassischen Differenzierung zwischen Individuum und Gesellschaft begründet, indem die Koevolution zwischen Natur und Kultur als treibende Kraft der Selbstorganisation des Sozialen bestimmt wird. Im zentralen fünften Kapitel (S. 145- 182) wird nun unter der Überschrift „Das mediale Selbst“ die derzeitige Periode der Selbstorganisation des Sozialen in digitalen Netzwerken als Situation „des netztechnisch verteilten Projekt-Sozialen, der Online-Offline-Habitate“ (S. 151) beschrieben. Dies erfordert neue kreative koevolutive Anpassungsprogramme des Individuums auf kognitiver, emotionaler und geistiger Ebene.
Faßler bestimmt 33 Merkmale des medialen Selbst, das in all seinen Facetten „zum Experiment, zur riskanten Investition (spekulatives Zukunftsbild), zum Projekt“ (S. 170) wird. Die Bedeutung dieses neuen medialen Selbst im Hinblick auf die Vergesellschaftung wird im sechsten Kapitel unter der Überschrift „Das Gesellschafts-Imago. Erflogsgeschichte?“ beschrieben (S. 183-228). Mit soziologischen Ansätzen wird die neue Situation beleuchtet, dass sich Menschen aus ihrer analogen Welt heraus in die netztechnisch fragile Welt der „Online-Offline-Beziehungen“ (S. 205) begeben. Die weitere Entwicklung wird nicht auf dem Hintergrund der in der Moderne beschrieben Differenzierung zwischen Individuum, Gesellschaft, Politik und Ökonomie zu analysieren sein, sondern auf der Basis des empirischen Gegensatzes „von institutioneller Gesellschaft und Netzwerken kollaborativer, kooperativer Projekte“ (S. 205).
Im letzten, siebten Kapitel (S. 229-274) gibt Faßler einen Ausblick auf die Herausforderungen der Zukunft. Der Gedanke des „atopischen Sozialen“ von Helmut Willke wird aufgegriffen und vor allem auch auf dem Hintergrund ökonomischer Prozesse analysiert. Gemäß der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des neuen medialen Selbst werden von den entsprechenden Akteuren Rahmenbedingungen geschaffen, in denen das Soziale in den Dimensionen netztechnischer Märkte patentiert und in Wertschöpfungsketten eingebaut wird. „Unsere Epoche wird die Geburt einer neuen Empirie und Vision des Sozialen erleben, deren Grundlage die kollaborative Infrastruktur von Dingen und Dingprogrammen, Menschen und Menschprogrammen sein wird“ (S. 273), um zum Beispiel mit einem digitalen Grundgesetz, wie es Heuer & Tranberg (2013) formuliert haben, die „Unantastbarkeit des digitalen Ichs“ zu schützen.
Diskussion und Fazit
Für den Gedankengang des Buches ist es wichtig, die klassische Differenzierung des Sozialen zwischen den Kategorien Individuum und Gesellschaft aufzulösen, und den Wandel der Gestalt des Sozialen in die neuen Formen der digitalisierten Welt hinein nachzuvollziehen. Dieser Wandel des Sozialen vollzieht sich in Prozessen seiner Selbstorganisation und ist als evolutives Phänomen ausgehend von den biologischen Grundprämissen der Menschheitsgeschichte nur interdisziplinär zu beschreiben. „Ich stelle mich damit … auf die biologisch-theoretische Seite der Gruppenselektion“, denn nur so ist es möglich, von einer „Evolution des Sozialen“ zu sprechen (S. 15). Dieses biologische Grundverständnis prägt den gesamten Gedankengang und ermöglicht eine interdisziplinär fundierte und kreativ gestaltete Fundierung der These der Selbstorganisation des Sozialen.
Manfred Faßler ist es mit dieser Publikation gelungen, ein höchst anregendes Grundsatzwerk zu der Frage der Selbstorganisation des Sozialen vorzulegen und Grundsatzfragen der Gestaltungsspielräume in der medialen Welt datentechnisch geprägter Netzwerke im Hinblick auf die humane Gestaltung des Sozialen zu formulieren. Dabei ist klar, dass das Soziale in seinen dynamischen Zuständen unabhängig von der Gesellschaftsform ein jeweiliges Zufallsprodukt darstellt, das in seinen Bestandteilen nur beobachtet aber nicht im Hinblick auf ein Modell sozialer Ordnung hin entworfen werden kann. Der Mensch ist gefordert, sich selbst neu zu entwerfen und „Lebenserwartungen nicht durch den Staat fürsorglich garantiert zu sehen, sondern im anthropologischen Prinzip der kollaborativen Anpassung, überall, zu jeder Zeit, mit jedem hervorzubringen“ (S. 274). Dieser Abschied von Modellen des Sozialen als „kohärent-vernünftige Ordnungen“ (S. 274) mag schwer fallen, doch gelingt es dem Autor, in seiner Prägnanz und Anschaulichkeit die Leserin und den Leser in den Bann dieser neuen Sicht auf das Soziale zu ziehen.
Rezension von
Dr. Georg Singe
Dipl.-Sozialarbeiter, Dipl.-Theologe, Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut (DGSF)
Dozent an der Fakultät I für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Soziale Arbeit der Universität Vechta
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Zitiervorschlag
Georg Singe. Rezension vom 18.06.2014 zu:
Manfred Faßler: Das Soziale. Entstehung und Zukunft menschlicher Selbstorganisation. Wilhelm Fink Verlag
(München) 2014.
ISBN 978-3-7705-5635-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16745.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.
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