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Ralf Koerrenz, Benjamin Bunk (Hrsg.): Armut und Armenfürsorge

Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Hoburg, 06.10.2014

Cover Ralf Koerrenz, Benjamin Bunk (Hrsg.): Armut und Armenfürsorge ISBN 978-3-506-77794-2

Ralf Koerrenz, Benjamin Bunk (Hrsg.): Armut und Armenfürsorge. Protestantische Perspektiven. Verlag Ferdinand Schöningh (Paderborn) 2014. 134 Seiten. ISBN 978-3-506-77794-2. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 27,50 sFr.
Reihe: Kultur und Bildung - Band 5.

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Thema

Die Wiederkehr der Armut und die Reflexion der Bedingungen und Gründe dafür zählen seit einigen Jahren zu den großen sozialwissenschaftlichen Themen der Forschung. Neben soziologischen und theoretischen Abhandlungen steht dabei immer wieder die historische Armutsforschung im Mittelpunkt. In die Reihe der historisch orientierten Beiträge ist auch der hier zu würdigende Band der Herausgeber Ralf Koerrenz und Benjamin Bunk einzuordnen, der die Veröffentlichung einer an der Universität Jena gehaltenen Vortragsreihe darstellt. Die Leitfrage des Bandes besteht in dem Ansatz einer „historischen Rekonstruktion“ (S. 9), die durch einen Durchgang durch historische Epochen gewonnen werden soll. Letztlich ist der Band dem Konzept einer sozialen Ideengeschichte verpflichtet. Dabei beschränken sich die Herausgeber bewusst auf die Geschichte „protestantischer Deutungsmodelle und Gestaltungsoptionen“ (S. 9) und bekennen sich im Angesicht der komplexen Gesamtmaterie zum Mut der Lücke.

Die Auswahl der Themen setzt in der biblischen Doppelgestalt der hebräischen Tradition einerseits und der diakonischen Weiterführung des Neuen Testamentes andererseits an, beschreibt dann die historischen Hauptströmungen von Reformation und Pietismus, wobei der letzte Beitrag des Bandes die soziale Frage des 19. Jahrhunderts und die Entstehung der Diakonie als protestantische Reaktion auf die Industrialisierung nochmals programmatisch im Gesamtkonzept verankert. Die Konzeption des Bandes weist somit eine innere Logik und Geschlossenheit auf, die sich aus der gewählten protestantischen Perspektive auf das Themenfeld „Armut und Armenfürsorge“ ergibt.

Inhalte

Als exemplarisch sind in etwa zu Anfang des Buches auch die Erwägungen zu den hebräischen Grundlagen der Diakonie im Beitrag des Mitherausgebers Ralf Koerrenz zu nennen. In biblisch-jüdischer Perspektive konzentriert sich Koerrenz auf den Zusammenhang von Armut, Recht und Gerechtigkeit (S. 16). Die Leitfrage der Armut wird aus der heutigen Zeitanalyse heraus als „Ausdruck für fehlende Gerechtigkeit“ (S. 16) gesehen. Interessant ist in den „Annäherungen“ des Beitrages die Rückbindung der aktuellen EKD-Überlegungen zur Gerechtigkeit auf das hebräische Deutungsmodell von Wirklichkeit (S. 17f). Schöpfungswirklichkeit und Rechtsordnung sind die beiden zentralen Kategorien, von denen aus das Soziale im hebräischen Kontext gedeutet wird. Für Koerrenz bildet das hebräische Sozialrecht die Kategorie, von der aus Armut beleuchtet werden muss. Es geht ihm in biblischer Perspektive um das „Postulat eines Rechts der Besitzlosen“ (S. 22). Koerrenz fragt immer wieder nach der theologischen Achse zur Beurteilung von Armut und stößt hierbei immer auf den Schöpfungsgedanken: Er konstituiert Gleichheit zwischen Menschen und begründet daraus ein „anwaltschaftliches Eintreten“ (23) für die Armen. Armut im hebräischen Kontext heißt also Ermöglichung einer gerechten Teilhabe unter Menschen, was sich auf das durch Gott selbst gesetzte Recht beruft. Die zentrale Erkenntnis von Koerrenz besteht in der Tatsache, dass die hebräische Sicht die sozialen Bedingungen von Armut nicht aus dem Blick verliert. Sein Ergebnis lautet: In jüdischer Perspektive kommt Armut „im Bereich der Politik zur Geltung“. (31) Dazu kommt ein zweites: der Umgang mit Armut bildet einen Baustein „für ein Gelingen sozialen Lebens“ (32).

Ebenfalls in biblischer Perspektive zeichnet der Beitrag von Klaus Scholtissek im Anschluss exemplarisch die Linie des Neuen Testamentes nach, indem er sich einerseits auf das diakonische Profil der Sendung Jesu (S. 38) konzentriert und andererseits den Begriff der Diakonie nach Paulus beschreibt. Ausgehend vom eigenen Sendungsbewusstsein versteht der Apostel sein Amt als Dienst an der Versöhnung. Es gelingt dem Autor aber nur wenig, die innere Verbindung von Diakonie und Armut in der Gesamtlinie des Neuen Testamentes überzeugend zu ziehen, so dass das Fazit am Schluss etwas blass bleibt: „Im christlichen Handeln verschränken sich Hilfsdienst und Heilsdienst“. (S.46)

An das eigentliche Thema des Bandes, nämlich einer Rekonstruktion von Armut in dezidiert protestantischer Perspektive, knüpfen dann wieder die zwei folgenden historischen Beiträge an, die trotz des exemplarischen Charakters in der Auswahl der Zeitepoche einen paradigmatischen Charakter haben. Christopher Spehr widmet sich der Epoche der Reformation und Thomas Kuhn der Zeitspanne des Pietismus. In beiden Zeitepochen kommt dem Thema der Armut eine hervorgehobene Stellung zu und beide eignen sich daher für eine exemplarische historische Rekonstruktion. Was sind nun aber die spezifischen Strategien gegen Armut beider Epochen und wie kommt es zur Ausprägung einer Armenfürsorge – dann auch mit protestantischem Vorzeichen? Ein reformatorisches Profil zeichnet sich jenseits fürsorglicher Institutionen in einer theologisch begründeten Abwehrhaltung gegen die „Disziplinierung des Bettelns“ ab, wie sie die obrigkeitliche Ordnung vorsah. Wichtig ist der Hinweis von Christopher Spehr, dass mit der Reformation das Thema Armut mit dem Begriff der Arbeit konnotiert wird, denn die fatale Konnotation von Armut als Folge eines Müßigganges begegnet im Armutsdiskurs bis in die jüngste Gegenwart. Dezidiert Position bezieht der Autor dann bei der Forschungsfrage nach dem weiterführenden Beitrag der Reformation in der Betrachtung der Armut. Er sieht gegen die Forschungstradition von Tennstedt/Sachße die Neuorientierung der Armenfürsorge als Bestandteil der Reformation (S. 62) und verankert diese einerseits theologisch in der Rechtfertigungslehre und andererseits politisch in der Stadtöffentlichkeit und einer territorialen Neuordnung. Anhand der Städte- und Kastenordnungen betont der Autor, dass die Armenversorgung in evangelischem Verständnis in die Neugestaltung des städtischen Lebens mit einbezogen und der „gemeine Kasten zum Mittelpunkt des kommunalen Fürsorgewesens ausgebaut“ wird (S. 64). Die Reformation bildet einen Katalysator öffentlicher Fürsorge und in der Dimension eines öffentlichen Bewusstseins für soziale Notlagen wird wohl der eigentliche Beitrag der Reformation zu sehen sein.

Als einer zweiten diakonischen Zeitepoche nimmt Thomas Kuhn den Pietismus in den Blick. Wie Christopher Spehr bezieht sich auch Thomas Kuhn auf die Armenordnungen der Zeit und knüpft an dem Gedanken der frühneuzeitlichen Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung an, die er als „pädagogische Disziplinierung“ bezeichnet. Sie findet im frühen Pietismus bei Francke eine erfolgreiche Ausprägung. Auch hier steht im Focus des Beitrages die Frage nach dem spezifisch protestantischen Profil im Zugang zur Armut. An Francke hebt der Autor hervor, dass dieser neben theologischen Argumentationen soziale und ökonomische Begründungen in seine Theologie integrierte. Der Fortschritt in der Betrachtung der Armut ist nach Kuhn bei Francke ein dreifacher: er analysiert die Ursachen von Armut, disqualifiziert diese nicht und integriert Armut in ein eschatologisches theologisches Konzept, (78) zu der dann letztlich noch der Aspekt der Pädagogisierung hinzukommt. Als Gesamtziel der religiös motivierten Sozialpraxis bei Francke macht Kuhn ein doppeltes aus: Es geht um die Optimierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Realisierung des Reiches Gottes (79). Auf einen relativ neuen Aspekt der frühen Neuzeit weist Kuhn dann im weiteren Verlauf seiner Überlegungen hin, nämlich das sog. volksaufklärerische Handeln der Pfarrer, die als Bewegung zur Verbesserung der Lebensumstände ein dezidiert protestantischer Beitrag einer Sozialfürsorge im Wandel sind. Damit macht er zwei Typen sozialer Argumentation aus, nämlich das pietistische und das aufklärerische Modell. Der Fortschritt der Armenhilfe in der frühen Neuzeit liegt nach Kuhn in den parallel verlaufenden Erkenntnissen, dass der Mensch für den Mitmenschen sozial verantwortlich ist und gesellschaftlich konkrete Maßnahmen gegen die Armut ergriffen werden können. (81) Einen dritten und letzten Aspekt thematisiert Kuhn, indem er an die Begriffsgeschichte anknüpft und fragt, mit welchen Begriffen Armenfürsorge in der frühen Neuzeit belegt wird. Hier kommt er zu dem interessanten Ergebnis, dass vor allem in öffentlichen Texten wie Predigten und Katechismen seit dem 18. Jahrhundert immer deutlicher von den Tugenden der Barmherzigkeit die Rede ist; der Terminus „Diakonie“ aber dezidiert erst bei Wichern auftritt (S.91)

Unter der Rubrik „aktuelle Herausforderungen“ bezieht sich Benjamin Bunk auf den Faktor Globalisierung und unternimmt in seinem Beitrag den methodologischen Versuch einer Verknüpfung historischer und gegenwärtiger Problemlagen. Er benennt dieses Verfahren als „reflexive Distanzierung“ (97), die im Rahmen einer „postkolonialen Hermeneutik“ (98) einen inneren Bezug zwischen Globalisierung und Armenfürsorge herstellen soll. So will er verschiedene Strategien der Armutsbewältigung miteinander vergleichen, indem er die Globalisierung als Bedingung und Armut als Herausforderung beschreibt. Die Methodik der Querverbindung ist sicherlich im Rahmen der Armutsforschung ein interessanter Aspekt und ergänzt die seit Jahren praktizierte Methodologie des Vergleichs der nationalen Wohlfahrtsmixes, wie sie seit Esping-Andersen üblich sind. Am Ende wird sich diese Form der Vergleichsmethodik an ihren Ergebnissen messen lassen müssen. Am Beispiel von Johannes Falk wird eine dezidiert protestantische Linie aufgenommen, die den Aspekt der Pädagogisierung wie er auch bei Thomas Kuhn vorkam weiterverfolgt. Im Vordergrund steht nun bei Bunk die von Johannes Falk in seinen Texten gegebene Armutsanalyse, deren Kern in einer Verfallstheorie einerseits dem Vorhandensein des Krieges gesehen wird (105). Für Bunk steht dann bei Johannes Falk an zentraler Stelle das Prinzip der Einzelfallhilfe, das geradezu für den Autor zum Grundprinzip sozialer Arbeit in der Moderne geworden ist. Armutsbewältigung steht nach Bunk unter dem Paradigma der „Optimierung der einen Fortschrittsgeschichte“ (107). Der eigenen Methodologie folgend wird nun der historischen Rekonstruktion von Armut bei Johannes Falk das gegenwärtige Konzept der brasilianischen Landlosenbewegung kontrastiert. Sie wird von Bunk als eine „soziale Bewegung“ definiert, die einerseits mit dem Prinzip der Selbsthilfe und andererseits politisch agiert, indem sie ihre demokratischen Rechte einfordert (113). Deutlich wird hier das gesellschaftsverändernde Element einer politisch motivierten Armenfürsorge. Vor diesem Hintergrund werden dann die Strukturunterschiede beider Modelle benannt, die man durchaus mit den Systemtermini Stabilisierung und Reform beschreiben kann. Aus diesem Blickwinkel wird dann natürlich die systemstabilisierende Einzelfallhilfe im Modell von Johannes Falk so beschrieben, dass sie dem Anspruch einer zeitgemäßen Armenfürsorge nicht mehr gerecht wird (115), weil sie an sich über keine politische Dimension verfügt. Hier setzt dann zum Schluss der Autor seine Position an, dass eine Armenfürsorge unter globaler Betrachtung gesellschaftlich orientiert sein und auf deren Veränderung zielen muss.

Im letzten Beitrag des Buches von Michael Haspel, der das Gesamtkonzept produktiv weiterentwickelt und auf die Entstehungszeit der Diakonie im 19. Jahrhundert anwendet, kommt der Band dann zu seinem Abschluss. Mit der Zuordnung von Protestantismus und Sozialer Frage, wie sie seit den grundlegenden Arbeiten von Gunter Brakelmann seit den 60er Jahren gestellt ist, versucht der Autor einen eigenständigen Beitrag in der sehr diffizilen und für die Diakoniewissenschaft zentralen Forschungsfrage zu leisten. Im Zentrum steht hierbei die Überlegung nach den Gründen für die dynamisch verlaufende soziale Institutionalisierung, die spätestens im 19. Jahrhundert zur Entfaltung kam. Es geht Michael Haspel um die Formen, in denen der Protestantismus eigene Strategien sozialer Problematiken entwickelt und Lösungen bereit stellt. Hierzu stellt er in einem ersten Schritt dar, dass die Dynamik ökonomischer Prozesse und eine strukturelle Massenarmut traditionelle Fürsorge überforderte (121). Allerdings sei es verkürzt, dann lediglich auf die Interventionsstrategien zu schauen, wie sie durch Wichern bekannt wurden, zumal diese theologisch problematisch und moralisch aufgeladen seien. An zweiter Stelle nennt er die neu entstehenden „Akteursgruppen“, durch die der Protestantismus (125) einen neuen „Prototyp“ sozialer Interventionsstrategien herausgebildet habe. Allerdings wird seiner Meinung nach übersehen, dass bereits nach dem Ende des 30jährigen Krieges die traditionellen Strukturen der Sozialen Hilfe überfordert waren. Hier benennt er das Forschungsdefizit, dass für das 18. Jahrhundert weitgehend wenig Arbeiten zur Sozialgestalt vorliegen. In Bezug auf das Thema Armut stellt Haspel deshalb heraus, dass die Zahl der sog. „sesshaften Armen“ in dieser Zeit anstieg (128). Durch den zahlenmäßigen Anstieg ist das etablierte System des Armenkastens überfordert. Die öffentliche Fürsorge, deren Teil die Kirche darstellte, konnte die strukturell veränderten Anforderungen nicht erfüllen (129). Dies machte das Eingreifen des absolutistischen Staates notwendig, der die kommunale Armenfürsorge unter territoriale Aufsicht stellte. Damit ist das Auseinanderbrechen einer Allianz von Staat und Kirche in Hinsicht auf Sozialstrategien und die Aufteilung von Kompetenzen auf der kommunalen Ebene besiegelt. In der zeitlichen Verschiebung historischer Prozesse nach vorne, d.h. in die Übergänge frühbürgerlicher Gesellschaft liegt aus meiner Sicht die Stärke im Beitrag bei Haspel.

Fazit

Aus der Sicht der Leserschaft liegt hier ein interessanter Band mit vielen historischen Detailinformationen vor, der am Ende von Seiten der Herausgeber vielleicht noch eine Zusammenfassung verdient hätte, die den Gedanken einer sozialen Ideengeschichte der protestantischen Sicht auf das Phänomen Armut kurz unter dem Aspekt punktueller oder paradigmatischer Wendepunkte oder Fortschritte beschreibt.

Rezension von
Prof. Dr. Ralf Hoburg
Hochschule Hannover, Lehrgebiet Sozialwirtschaft und Theorie des Sozialstaats
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Es gibt 14 Rezensionen von Ralf Hoburg.

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ISSN 2190-9245