Melanie Oechler, Holger Schmidt (Hrsg.): Empirie der Kinder- und Jugendverbandsarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Titus Simon, 25.02.2015

Melanie Oechler, Holger Schmidt (Hrsg.): Empirie der Kinder- und Jugendverbandsarbeit. Forschungsergebnisse und ihre Relevanz für die Entwicklung von Theorie, Praxis und Forschungsmethodik. Springer VS (Wiesbaden) 2014. 303 Seiten. ISBN 978-3-658-01474-2. D: 39,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 37,50 sFr.
Thema
Die Herausgeber haben einen anspruchsvollen Band zusammengestellt, in welchem nach einer knappen Einleitung in zwei langen Texten auf mehr als 130 Studien und Berichte eingegangen wird, die empirische Forschung zur Kinder- und Jugendverbandsarbeit aus über 100 Jahren zum Gegenstand haben. Dem folgen in zwei nachfolgenden Teilen sieben weitere Beiträge, die sich Praxisbezügen sowie forschungsmethodischen bzw. -praktischen Überlegungen zuwenden.
Autorin und Autor
Melanie Oechler und Holger Schmidt arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter an der TU Dortmund und haben in den letzten Jahren bereits mehrere Publikationen zu empirischen Herangehensweisen an Kinder- und Jugend(verbands)arbeit veröffentlicht.
Die Herausgeber betonen in ihrer Einleitung den Zusammenhang zwischen derartigen metaanalytischen Auswertungen und der Möglichkeit, Forschungserkenntnisse sowohl in historischer Perspektive als auch mit einem auf die Inhalte gerichteten Blick betrachten zu können.
Aufbau und Inhalt
In zwei großen Blöcken werden im Teil I die empirischen Erkenntnisse zur Kinder- und Jugendverbandsarbeit dargestellt.
Wibke Riekmann und Alf-Tomas Epstein beschreiben auf 80 Seiten die Empirie der Jugendverbandsarbeit bis 1990. Die mehr als 75 Jahre umfassende Epoche unterteilen sie, den historischen Ereignissen dieser Zeit folgend, in mehrere Phasen. Zur frühen Arbeit evangelischer und katholischer Jünglingsvereine sowie zum Wandervogel sind lediglich deskriptive Texte, jedoch keine empirischen Ergebnisse überliefert. So gilt als erste im engeren Sinne empirisch zu nennende Studie Cora Berliners 1914 begonnene Untersuchung zu den „Wirkungsmöglichkeiten“ und zum „Wesen“ der jüdischen Jugendbewegung.
Für die kurze Weimarer Epoche liegen mehrere statistische Erhebungen vor, von denen Bondys 1922 veröffentlichte Untersuchung zur Lage der proletarischen Jugend diejenige ist, die auch Jahrzehnte später noch Beachtung findet. Er arbeitet bereits mit qualitativ und quantitativ ausgerichteten Fragesettings sowie mit teilnehmender Beobachtung, die er damals „nichtexperimentelle Beobachtung“ nennt.
Wenig bekannt ist die auf Jugendverbandsarbeit ausgerichtete empirische Forschung während der NS-Zeit. Diese war stark gelenkt. Thematisch bezieht sie sich auf Führertum und die gewünschten Sozialisationsleistungen von Jungvolk und HJ.
Die nachfolgenden Darstellungen zur Empirie der Jugendverbandsarbeit zwischen 1945 und 1990 stellen zum Teil Bekanntes in den Mittelpunkt. Nach 1990 erfolgte in zahlreichen Publikationen eine umfangreiche Aufarbeitung zur Jugendarbeit und -politik im untergegangenen Staat. Dabei werden nochmals jene Studien skizziert, die eine relativ hohe Unzufriedenheit der Jugendlichen mit der FDJ und die nur im geringen Maße politisch motivierte Übernahme von Funktionen in FDJ und GST skizzieren.
Für das Gebiet der Bundesrepublik fehlen jene Studien, die von den Besatzungsmächten in den Nachkriegsjahren zur Wirkung ihrer auf Demokratisierung ausgerichteten Jugendprogramme erstellt wurden. In den 1950er Jahren dominerten Veröffentlichungen über die „skeptische Generation“, die Distanz der Nachkriegsjugend zu Staat und Organisationen. Die erste Studie, die sich ausschließlich auf Jugendverbandsarbeit bezog, wurde erst 1961 von Gerhard Wurzbacher vorgelegt, der die Arbeit der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands im gesellschaftlichen Wandel analysierte. Auch die bekannteste Jugendhilfepublikation jener Jahre, Mollenhauers Forschungen über die Sozialisationsleistungen eines Jugendverbandes, bezieht sich auf die evangelische Jugend.
Die westdeutsche Empirie der Jugendverbandsarbeit zwischen 1970 und 1990 stellt die „Krise der Jugendverbände“ und deren abnehmende Bindekraft in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Hinzu kommen neue Themenstellungen: Ehrenamtlichkeit, Bedürfnisorientierung und emanzipatorische Ansätze in der Jugend- und Jugendverbandsarbeit. Allen voran zu nennen sind Arbeiten von Lindner, Damm und Sack. Und im Jahrzehnt vor der Wende stellen – endlich – Niklaus, Trauernicht und andere die Rolle der Mädchen in Jugendverbänden in den Fokus ihrer Forschung. Und dennoch vermerken Wibke Riekmann und Alf-Tomas Epstein am Ende ihrer anschaulichen Zusammenstellung lapidar: „Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums (1990; ts) ist die Forschung über Jugendverbandsarbeit angesichts der in den Studien formulierten hohen Erwartungen an Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungseffekte wenig ausdifferenziert“.
„Jugendverbände im Spiegel der Forschung“ benennen Tina Gadow und Liane Pluto ihre knapp hundertseitige Analyse der empirischen Studien zwischen 1990 und heute. Die Zäsur an dieser Stelle wird mit dem politischen Umbruch sowie mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes begründet. Ferner konstatieren sie ab diesem Zeitpunkt eine veränderte Haltung gegenüber empirischer Forschung sowie eine weitaus höhere Forschungsproduktion.
Unverändert entstand ein großer Teil der Studien – wie schon früher – aus verbandlichen Interessen. Neu hinzu kamen allerdings Impulse aus dem Berichtswesen, der Jugendhilfeplanung und den sich rascher ändernden Förderstrukturen. Die Fülle des Materials ist schwer zu systematisieren. Eine Vielzahl von Forschungsfragen stand im Raum. Zu den wichtigsten gehörten: Reichweite der Jugendverbände? Wer wird erreicht? Ost-West-Unterschiede? Geschlechterunterschiede? Regionale Unterschiede? Erreichen Jugendverbände Migranten? Wachsende Bedeutung oder Stagnation? Wie vollziehen sich Ein- und Ausstiege? Zeitaufwand und Dauer der Mitgliedschaft? Ehrenamtlichkeit, Kompetenzerwerb und Sozialisationsfunktion von Verbänden sind weitere wichtige Forschungsthemen. Vereinzelt stellt sich auch die traditionelle Frage nach der Bedeutung der jeweiligen Gruppe oder Gemeinschaft. Studien jüngeren Datums konstatieren, dass rund 44% der Jugendverbände mit Schulen kooperieren. Dabei überrascht, dass in Ostdeutschland sogar 60% der Verbände mit Schulen zusammenarbeiten, während dies im Westen nur von einem guten Drittel (36%) praktiziert wird.
Die nachfolgenden Abschnitte des Buches sind nicht durchgängig von Bezügen zur Empirie geprägt. Vielmehr ging es den Herausgebern und Autoren um die Bearbeitung ergänzender Fragestellungen und Themen.
Den Teil II des Bandes eröffnet Birgit Jagusch mit einem Aufsatz zur interkulturellen Öffnung der Jugendverbände. Nach einer übersichtlichen Beschreibung von Methoden und Ansätzen interkultureller Öffnung seit den 1980er Jahren sind zwei Zugänge von besonderem Interesse: Projekte, die gezielt dem Empowerment von Vereinen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (VJM) dienen und solche, die die Kooperation dieser VJM mit etablierten Vereinen und Verbänden fördern.
„… aber komm mir nicht mit Papierkram“ nennt Peter-Ulrich Wendt seine Reflexionen über die Verortung von Fachkräften der Jugendverbände zwischen Beziehungsarbeit und Organisation. Skizzen über die fortschreitende Professionalisierung münden in das Aufgreifen der Kernfrage: Was müssen Profis kennen und wissen? Seine Antworten stellen die Kompetenz zur Rezeption und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Persönlichkeit (der Hauptamtlichen) als Teil der Profession sowie Steuerungskompetenz bezüglich der Organisation und ihr innenwohnender Kommunikation in den Vordergrund. Gefordert ist ein Maximum an Professionalität. Dies auch deshalb, weil sich das notwendige Handeln in der Jugendverbandsarbeit nicht selten aus Situationen ableitet, „die als Unikate unwiederherstellbar (nicht standardisierbar) sind“.
Benedikt Sturzenhecker fokussiert in seinem Beitrag mit dem Titel „Anspruch, Potential und Realität von Demokratiebildung“ zunächst auf die im § 12 SGB VIII angelegten Mitbestimmungspotentiale. Dem wurden die Jugendverbände mit ihrem Anspruch „Werkstätten der Demokratie“ zu sein, vermehrt seit den 1960er Jahren gerecht. In der Gewinnung diesbezüglicher Erkenntnisse rekurriert er auf die oben skizzierte Sekundäranalyse von Tina Gadow und Liane Pluto. Der feststellbare Milieucharakter von Jugendvereinen erbringt Chancen und Risiken für die vereins- bzw. verbandsinterne Demokratiebildung. Bei (leicht) abnehmender Relevanz von Jugendverbänden leisten diese in den letzten Jahren wirksame Beiträge zur Entwicklung jener Fähigkeiten, die für eine demokratische Praxis besonders bedeutsam sind.
Verbunden mit der Frage, ob Jugendverbände sich auf dem Weg zu inklusiven Gestaltungsprinzipien befinden, sieht Gunda Voigts Inklusion als besondere jugendverbandliche Herausforderung. Diese hat im Prinzip immer bestanden. Spätestens mit der Veröffentlichung des 13. Kinder- und Jugendberichts wurde Inklusion – zumindest theoretisch – zu einer stärker formulierten wie auch anspruchsvollen Forderung erhoben. Als schwierig gestaltet sich ein empirischer Nachweis von Inklusion bzw. auf wenigstens ansatzweise Bemühungen. Beschriebene – eigens öffentlich geförderte -
Praxisprojekte lassen das Bemühen einzelner Verbände erkennen, machen aber auch deutlich, dass vielfach die Auseinandersetzung mit den „Widersachern in den eigenen Reihen“ zu den besonderen Herausforderungen gehört.
Mit (kritischen) Anmerkungen zu Bildungsverständnis und Bildungspraxis schließt Nanine Dalmas den zweiten Teil dieses Bandes ab. Sie bearbeitet mehrere Problemebenen. Jugendverbandsarbeit und deren Bildungsbezüge sind älter als die aktuelle Bildungsdebatte. Zudem sind Begriffe wie Bildung und Erziehung im Zeitverlauf wandelnden Deutungen unterworfen. Ferner weist die Autorin darauf hin, dass auch um den aktuellen Bildungsbegriff Auseinandersetzungen und Kämpfe um Deutungshoheit ranken. In ihren historischen Betrachtungen wird deutlich, dass Jugendverbände unterschiedlich schnell, aber meist erst nachfolgend, zugewiesene bzw. zeitgenössische Bildungsverständnisse in ihre Arbeit und ihr Verbandverständnis integriert haben. Dies geschieht in der Regel selektiv. Verbandskonforme Bildungsinhalte werden häufiger übernommen. Andere bleiben außen vor.
Zwei Beiträge zum forschungsmethodischen und -praktischen Vorgehen in der Kinder- und Jugendarbeit konstituieren den dritten und abschließenden Teil dieses Bandes.
Andreas Thimmel fragt in seinem Aufsatz nach dem Verhältnis von Forschung und Praxis in der Jugendverbandsforschung. Er geht dabei auf „klassische“ Probleme zwischen Praxis – meist finden sich hier die Beforschten – und Forschern ein. Rekurrierend auf die „jüngeren Klassiker“ der Sozialarbeitswissenschaft betont er Diskontinuität und einem Mangel an gemeinsamer Tradition. Die nachfolgenden – an sich durchaus nachvollziehbaren – Reflexionen über Praxisforschung weisen nur einen geringen Bezug zu den besonderen Herausforderungen der Kinder- und Jugendverbandsarbeit auf. Erst mit der abschließenden Darstellung der Charakteristika kommt es anhand von beispielhaften Darstellungen wieder zu einer Annäherung an den Themenschwerpunkt des Bandes.
Abschließend betrachtet Eric van Santen methodologische und methodische Herausforderungen der Forschung zu Jugendverbänden. Eingangs nähert er sich der nicht eindeutig zu beantwortenden Frage: „Was ist Jugendverbandsforschung?“ Die Untersuchungsgegenstände variieren im selben Maße wie die historischen Kontexte, Ideologien, Forschungsverständnisse und -methoden. In nochmaliger Durchsicht der Übersichtsbeiträge von Wibke Riekmann und Alf-Tomas Epstein sowie Tina Gadow und Liane Pluto erarbeitet er jene Aspekte heraus, die Jugendverbandsforschung in besonderer Weise kennzeichnen. Trotz der nicht unerheblichen Anzahl an Studien konstatiert der Autor eine ao hohe Heterogenität von Entstehungs- und Verwertungszusammenhängen, dass eine „Beurteilung unter rein wissenschaftlichen Kriterien unfair erscheint“. Er plädiert für eine kontextspezifische Kinder- und Jugendforschung, die Auskunft über entwicklungs- und sozialisationsfördernde institutionelle Rahmungen der Kinder- und Jugendverbandsarbeit geben kann.
Diskussion und Fazit
Der vorliegende Band besitzt eine schlüssige Gliederung. Zwei zeitlich einander nachgeordneten chronologischen Beiträgen über die breit gestreute Forschung zur Kinder- und Jugendverbandsarbeit folgen in einem zweiten Teil ausgesuchte Vertiefungen. Forschungstheoretische, methodologische Reflexionen runden die Textsammlung ab. Innerhalb der Forschungsgeschichte zur Kinder- und Jugendverbandsarbeit ist dies der erste Versuch, alle relevanten deutschsprachigen Forschungsveröffentlichungen zusammenfassend und deutend darzustellen. Auch wenn in den diesbezüglichen Übersichten die eine oder andere Studie fehlt, ist dieses anspruchsvolle Vorhaben weit gediehen. Die in zwei zeitlich geordneten Anhängen veröffentlichten Studienübersichten sind ein hilfreiches Nachschlagewerk. In der Natur der Sache liegt es, dass die begleitend aufgenommenen Aufsätze unterschiedliche Relevanz und Reichweiten besitzen. Neben Antworten auf Forschungsfragen und zum Forschungsstand erhält die Leserschaft mit diesem Buch auch ein höchst interessantes Kompendium zur Geschichte der Jugendverbandsarbeit der letzten 100 Jahre.
Rezension von
Prof. Dr. Titus Simon
lebt in Wolfenbrück, einem Weiler mit 140 Einwohnern; lehrt zu ausgesuchten Themen in Magdeburg und St. Gallen und schreibt kritische Heimatromane.
Es gibt 7 Rezensionen von Titus Simon.