Annette Meussling-Sentpali: „Ich rede darüber - anders geht es nicht.“
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Flieder, 20.10.2014

Annette Meussling-Sentpali: „Ich rede darüber - anders geht es nicht.“ Arbeitsbelastung, Ressourcen und Bewältigungsstrategien von beruflich Pflegenden in Thüringer Pflegediensten.
hpsmedia GmbH
(Nidda) 2014.
228 Seiten.
ISBN 978-3-7322-9201-1.
D: 28,80 EUR,
A: 29,70 EUR,
CH: 39,50 sFr.
Reihe: Pflegewissenschaft.
Thema
Die mit der Arbeit in Pflege- und Gesundheitsberufen verbundenen Belastungen werden inzwischen auch öffentlich intensiv wahrgenommen und diskutiert. Dabei steht primär das stationäre Handlungsfeld im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, hier scheinen die Belastungen offensichtlich, plausibel und sind bereits seit Jahren gut beforscht. Oftmals wird das ambulante Handlungsfeld wegen der geringeren Fluktuation auf Seiten der Fachkräfte und der größeren Handlungsautonomie als weniger belastend eingeschätzt. Bislang lagen hierzu kaum Daten vor. Ausgehend von den Ergebnissen einer eigenen empirischen Studie werden in diesem Band unterschiedliche Komponenten der Arbeitsbelastungen aufgearbeitet und diskutiert.
Autorin
Annette Meussling-Sentpali ist ausgebildete Pflegefachkraft mit Weiterbildungen in Anästhesie und Intensivmedizin sowie zur Qualitätsberaterin im Gesundheitswesen. Sie hat Pflegemanagement (Diplom-Pflegewirtin FH) und Pflegewissenschaft (M.Sc.N.) studiert, in Pflegewissenschaft promoviert. Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um ihre Dissertationsschrift. Annette Meussling-Sentpali ist als Referentin tätig im Handlungsfeld von Palliative Care.
Aufbau
Der Band umfasst knapp 200 Textseiten und ist in fünf Kapitel aufgeteilt. Die Benennung der Kapitel erfolgt analog zur wissenschaftlichen Vorgehensweise. Es folgt das Literaturverzeichnis sowie ein Anhang mit Items des Belastungsscreenings TAA – ambulante Pflege, mit Ergebnissen des Belastungsscreenings sowie aus den Gruppendiskussionen.
Inhalt
Annette Meussling-Sentpali erläutert in ihrer Dissertationsschrift die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Belastungen in der ambulanten Pflege in exemplarischer Weise, bezogen auf Pflegende in Thüringer Pflegediensten. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf Art und Ausmaß von Belastungen sowie auf für Pflegende bedeutsame Erklärungsmuster. Weiterhin analysiert sie Entlastungsfaktoren und trägerbezogene Spezifika der Arbeitsorganisation. Ihre Forschungsfragen und Hypothesen werden mit Bezügen zur Arbeitsbelastungsforschung theoriebasiert ausgeführt und anhand von einschlägigen Ergebnissen ausführlich untermauert.
In ihrem Theorieteil rezipiert Annette Meussling-Sentpali Erkenntnisse u.a. aus der NEXT-Studie, aus dem handlungsregulatorischen Modell und dem OTI-Konzept der Forschungsarbeiten an der TU München, dem ERI-Modell sowie aus dem Modell der Salutogenese. Für die Datenerhebung wurden sowohl quantitative (Belastungsscreening TAA – ambulante Pflege) als auch qualitative Verfahren (Gruppendiskussionen) verwendet.
Die Ergebnisdarstellung erfolgt anhand der Forschungsfragen und beleuchtet u.a. sechs zentrale Themen sowie Kategorien aus der Interviewanalyse (S. 110). Die entsprechenden Items sind anhand von Mittelwerten und Standardabweichungen erläutert sowie durch Interviewpassagen aus den Gruppeninterviews belegt.
Diskussion
Die Autorin macht mit diesem Band aufmerksam auf ein zwar bekanntes, aber für das Handlungsfeld der ambulanten Pflege bislang kaum empirisch erforschtes Problem. Die mit der Arbeit in der häuslichen Pflege verbundenen Herausforderungen und Probleme gelten als zeitstabil und noch immer nicht hinreichend gelöst. Insofern ist eine empirische Untersuchung im Feld durchaus zu begrüßen, auch wenn die Art der Darstellung bündiger und vor allem lesefreundlicher sein dürfte. Durch den Titel des Bandes entsteht die Hoffnung auf neue Erkenntnisse aus den Bereichen der Ressourcen und der Bewältigung. Im Ergebnisteil kommen diese Aspekte jedoch im Verhältnis zu den sehr differenziert ausgeführten Belastungsparametern deutlich zu kurz. Dieser Aspekt weist auf ein Kernproblem der Studie hin: Wenn Fachkräfte mit gut entwickelten Instrumenten primär nach den Facetten ihrer Arbeitsbelastungen gefragt werden, dann ist mit dieser Fokussierung eine Setzung erfolgt, die theorie- und forschungsbasiert korrekt und plausibel ist. Dass Pflegearbeit eine in vielerlei Hinsicht anspruchsvolle Tätigkeit darstellt, ist unbestritten. Die gleichwohl vorhandenen positiven Elemente dieser Arbeit wie z.B. sinnstiftende Tätigkeit, Autonomie und Möglichkeiten für anwaltschaftliches Handeln, fach- und beziehungsbezogenes Arbeiten, Arbeitsplatzsicherheit und Abwechslungsreichtum stehen angesichts der Summe der Belastungen im Schatten der Erkenntnisse und reproduzieren somit die Dominanz der Belastungen. Gleichwohl reflektiert Annette Meussling-Sentpali selbstkritisch die Chancen und Grenzen ihrer Studie, u.a. im Hinblick auf die Gelegenheitsstichprobe und den mit diesen Ergebnissen verbundenen Gültigkeitsbereich.
Im formalen Bereich enthält der Band kleine sprachliche Ungenauigkeiten, die Angaben im Literaturverzeichnis sind uneinheitlich. Das Abkürzungsverzeichnis lässt einige der im Text verwendete Abkürzungen (PNG, PQSG, PVG) vermissen.
Zielgruppen
Dieser Band ist vor allem für wissenschaftliche Profis geeignet, die sich auf der Basis einer aktuellen empirischen Arbeit vertieft mit der Problematik der Arbeitsbelastungen in der ambulanten Pflege befassen wollen.
Fazit
Es ist ein Buch mit guten Anregungen und mit verbesserungsfähigen Bereichen. Der Band entspricht der wissenschaftlichen Vorgehensweise einer Dissertation – mit allen Vorteilen und Grenzen. Das forschungslogische Vorgehen ist nachvollziehbar beschrieben. Der Ergebnisteil und Ausblick lässt hingegen Fragen nach einem für LeserInnen ausserhalb der Hochschul- und Forschungslandschaft bedeutsamen anwendungsbezogenen Transfer der Erkenntnisse sowie nach Ansätzen der Bewältigung und Ressourcenorientierung an vielen Stellen offen.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Flieder
Evangelische Hochschule Darmstadt
Fachbereich Pflege- und Gesundheitswissenschaften
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