Helmut Willems, Dieter Ferring (Hrsg.): Macht und Missbrauch in Institutionen
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 21.07.2014
Helmut Willems, Dieter Ferring (Hrsg.): Macht und Missbrauch in Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven auf institutionelle Kontexte und Strategien der Prävention.
Springer VS
(Wiesbaden) 2014.
244 Seiten.
ISBN 978-3-658-04296-7.
D: 34,99 EUR,
A: 35,97 EUR,
CH: 44,00 sFr.
Reihe: Research.
Thema
„Während sich die öffentliche Debatte über sexuellen Missbrauch weitgehend auf die Frage nach möglichen Entschädigungen für die Opfer konzentriert, bleiben für die wissenschaftliche Diskussion doch eine Reihe offener Fragen. Dies betrifft die Suche nach den Ursachen und organisatorischen Risikofaktoren für das Auftreten solcher Missbrauchsfälle ebenso wie die Identifikation geeigneter Maßnahmen zur Vermeidung und Prävention. Der Sammelband thematisiert nicht nur den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, sondern in einem weiteren Fokus auch die Frage von Macht und Machtmissbrauch in unterschiedlichen institutionalen Kontexten (wie etwa in Pflegebeziehungen in Altenheimen, in Gefängnissen etc.).“ (Klappentext)
Herausgeber
Dr. Helmut Willems ist Professor für Soziologie und Jugendforschung an der Universität Luxemburg und stellvertretender Leiter der sozialwissenschaftlichen Forschungseinheit INSIDE.
Dr. Dieter Ferring ist Professor für Entwicklungspsychologie und Psychogerontologie an der Universität Luxemburg und Leiter der sozialwissenschaftlichen Forschungseinheit INSIDE.
Aufbau und Inhalt
I. Grundlegende Perspektiven und Einordnung
Dieter Ferring und Helmut Willems betiteln ihren einführenden Artikel mit „Macht und Missbrauch in Institutionen. Konzeption, Begriffsbestimmung und theoretische Perspektiven“. Sie beleuchten darin die Thematik des Buches unter soziologischer und psychologischer Perspektive.
„Sexueller Kindesmissbrauch in Deutschland. Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ ist der Titel des Beitrages von Christine Bergmann. Sie ist die ehemalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, beschreibt ihre Arbeit, liefert beeindruckende Zahlen und leitet daraus einige politische Folgerungen ab.
II. Institutionelle Kontexte und Phänomenologie
Mit dem Thema „Heimerziehung als Exempel für Macht und Missbrauch in Institutionen. Mit der Heimerziehung in den 1950/60er Jahren in Westdeutschland“ befasst sich Christian Schrapper. Er beschreibt anhand von zwei historischen Beispielen die problematische Geschichte der Heimerziehung der frühen Bundesrepublik. Er zeigt damit die Gefahren von Übergriffen und Machtmissbrauch durch professionelle Helfer in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe auf, die eigentlich unter staatlicher Aufsicht stehen.
„Macht und Missbrauch in Familien“ überschreibt Günter Krampen seinen Artikel. Im Einzelnen geht es ihm um die Prävalenz und Phänomenologie von Machtmissbrauch und Gewalt in Familien, anschließend entwickelt er dazu Modelle und erläutert Risikofaktoren. Schließlich folgen Ursachen und Faktoren von Machtmissbrauch und Gewalt in Familien, die Krampen in einem biopsychosozialen Bedingungsmodell zusammenfasst. Einige Aspekte von Prävention, Familienhilfe und Therapie schließen den Artikel ab.
Um „Aspekte des Machtmissbrauchs in Pflegeheimen“ geht esWolfgang Billen. In seinem bedrückenden Beitrag greift er ein Tabuthema erster Ordnung auf. Wenn von Fixierungsmatten als „Kuscheldecken“ gesprochen wird, ist nicht nur die Wortwahl skandalös, es sind dies auch die Zahlen, die Billen vorlegt. Es beruhigt dabei nicht, dass es in anderen Ländern (hier: Luxemburg) mit mehr Geld im Pflegesystem noch schlechter aussieht. Und auch die elektronischen Überwachungssysteme sind keineswegs weniger totalitär. Bleiben nach Meinung des Autors andere Lösungen: öffentliches Bewusstsein schaffen, Offenheit und Transparenz in Einrichtungen einfordern, Wertvorstellungen der Pflegekräfte verbessern, Burn-out verhindern … – die Lösungsvorschläge des Autors sind so allgemein und in ihrer Lösungsqualität „verbraucht“, dass sie wohl eher geeignet sind, die eigene Zukunft als alter Mensch in düstersten Farben zu sehen.
Heinz Kindler schreibt über „Sexuelle Übergriffe in Schulen“. Er stellt eine Reihe von Studien zur Verbreitung sexueller Gewalt an Schulen vor. Eine ausführlich dargestellte Untersuchung wurde von seinem eigenen Haus, dem Deutschen Jugendinstitut, durchgeführt. Die Quintessenz dieser (mit allem Vorbehalt gegenüber Hellfeld-Studien zu betrachtenden) Erforschung sieht Kindler darin, „dass verschiedene Arten von Verdachtsfällen auf sexuelle Übergriffe häufig genug auftreten, um es zu rechtfertigen, dass Schulen auf solche Situationen vorbereitet sein sollten.“ (S. 121). Die Dunkelfeld-Studien zeigen u. a. Prävalenzraten von institutionellem Missbrauch von 0,38 % (S. 121) oder einer Rate von unter 1 % bei Berichten über erzwungenem Sex (S. 122). Der Artikel schließt mit einer ausführlichen Befassung mit Konzepten zur schulischen Prävention.
Mit „Cyberbullying – Missbrauch mittels neuer elektronischer Medien“ befasst sich Georges Steffgen. Er beschreibt es als eine spezifische Form von Bullying: „Dieses wird als aggressives Verhalten angesehen, welches vorsätzlich und wiederholt von Einzelnen oder Gruppen mit Hilfe von elektronischen Kommunikationsmitteln gegen Opfer eingesetzt wird, um diese zu verletzen oder zu schädigen.“ (S. 135). Dies können versendete Fotos oder Videos, E-Mails oder bösartige Nachrichten auf Webseiten sein. Das aufgezeigte Ausmaß von auftretenden Cyberbullying-Vorfällen ist gewaltig (in einer USA-Studie 38,3 % der befragten Jugendlichen). Auch hier sind die Präventionsvorschläge sehr allgemein („unterstützendes soziales Umfeld herstellen“) – zu allgemein, als dass sie unmittelbar umsetzbar wären.
III. Perspektiven und Ansätze der Prävention
Mechthild Wolff betitelt ihren Beitrag: „Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Institutionen. Perspektiven der Prävention durch Schutzkonzepte“. Ihre Grundthese lautet: „Um zu verstehen, warum und wie Phänomene des Machtmissbrauchs gegenüber Abhängigen stattfinden können, muss die Täter-Opfer-Institutionen-Dynamik erst verstanden werden. Es geht um das soziokulturelle Zusammenwirken zwischen personengebundenen, organisationsbezogenen und systembezogenen Faktoren, die Institutionen selbst in den Blick nehmen müssen.“ (S. 157). Sie zeigt dies an zwei Beispielen extern angelegter Reflexionsprozesse in „lernenden Organisationen“.
Strategien des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – GesamtverbandbeschreibtNorbert Struck in seinem Artikel „Die Prävention sexualisierter Gewalt.“ Kernstück seines Beitrages ist die Beschreibung der Strategien seines Verbandes (insbesondere Erstellung einer Arbeitshilfe „Schutz vor sexualisierter Gewalt in Diensten und Einrichtungen“).
Mit Möglichkeiten und Ansätzen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung beschäftigt sich Werner Tschan in seinem Beitrag „Nachhaltige Prävention sexualisierter Gewalt in Institutionen“. In Kapitel 1 und 3 beweist der Autor seine Erfahrung in der Gestaltung von Aus- und Weiterbildungssettings, sowohl im „akademischen Kontext“ als auch in einem „Ausbildungszyklus für Führungskräfte“. Er beschreibt Ausbildungsinhalte und notwendige Voraussetzungen bei den Trainern und Teilnehmern. In Kapitel 2 schiebt er einen Exkurs zum Thema „Institutionen als Hochrisikobereiche“ ein, wo er die These vertritt: „Getarnt durch ihre berufliche Tätigkeit setzen die Täter-Fachleute ihre kriminelle Energie um“ (S. 181), und „Täter-Fachleute leiden nicht primär an einer wie auch immer gearteten Krankheit, sondern sie leiden an einer Störung ihres Beziehungs- und Sexualverhaltens.“ (S. 183).
Bettina Janssen gibt in ihrem Artikel „Prävention stärken“ einenÜberblick über Maßnahmen der Deutschen Bischofskonferenz gegen sexualisierte Gewalt. Mit dem Ziel einer „Kultur der Achtsamkeit“ hat die Katholische Kirche eine Vielzahl von Aktivitäten initiiert: Leitlinien, Rahmenordnungen für ihre Einrichtungen, Präventionsbeauftragte, institutionelle Schutzkonzepte (z. B. Regelungen für die Personalauswahl), Fortbildungen, Fachtagungen, Gespräche mit Betroffenen, eine Hotline und eine mit unabhängigen Kriminologen besetzte Arbeitsgruppe zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Nicht zuletzt wurde ein Fond bereitgestellt, mit dem Präventionsprojekte finanziert werden sollen.
Die „Möglichkeiten der Gefängniskontrolle durch einen externen Beauftragten“ beschreibt Michael Walter. Nach einem Tötungsdelikt in der Jugendstrafanstalt Siegburg schuf die damalige Justizministerin die Institution eines „Ombudsmannes“, die dann zu einem „Justizvollzugsbeauftragten“ ausgebaut wurde. Walter schreibt: „Als gegenwärtiger Inhaber dieses Amtes blickt der Verfasser des folgenden Beitrags auf das Vollzugsgeschehen.“ Aus seiner Erfahrung werden viele strukturelle Probleme von Praktikern klar erkannt: „Sie [die Praktiker, W.K.] haben im Berufsalltag nur häufig nicht die Möglichkeiten, für Abhilfe zu sorgen. Die hierarchische Anordnung der Verwaltung schafft Abhängigkeiten, unter denen Mängel hingenommen werden, etwa deshalb, weil die Kritik aus unterschiedlichen Gründen für das eigene berufliche Fortkommen hinderlich wäre. Demgegenüber können Worte, die nicht entsprechenden Einschränkungen unterliegen, befreiend wirken. Eindrücke aus dem Vollzugsalltag können an die politisch Verantwortlichen, die ministerielle ‚Hausspitze‘, weitervermittelt werden, ohne Filterungen, Färbungen oder Beimischungen spezifischer Interessen des zwischengeschalteten Apparats, weil kein Dienstweg eingehalten werden muss.“ (S. 217).
Mit dem Artikel „Institutionelle Selbstverpflichtung. Ein Ansatz zur situations- und einrichtungsbezogenen Prävention“ von Ulla Peters wird der Band abgeschlossen. Sie stellt die Frage, „warum es in Luxemburg besonders schwerfällt, sich der Geschichte des Machtmissbrauchs in pädagogischen Kontexten zu stellen.“ (S. 234). Sie referiert anschließend Ideen zur Prävention von Zartbitter e. V., Amyna e. V. und aus einer Fachtagung.
Diskussion
Das Bändchen leistet einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der emotional und bisweilen auf niedrigem Niveau geführten Debatte um Machtmissbrauch, sexuellen Missbrauch und Gewalt in Einrichtungen, in denen professionelle Helfer agieren. Es sind bedrückende, z. T. beängstigende Befunde in einem Bereich der Gesellschaft, in dem man diese Täter nicht vermutet. Sehr anerkennenswert ist die breite Palette der beschriebenen Arbeitsfelder: Kinderheim, Pflegeheim, Schule, Gefängnis. Die meisten Artikel sind auch mit reichhaltigen Literaturhinweisen ausgestattet, die bei besonderem Interesse problemlos ein Weiterlesen möglich machen. Es ist insbesondere sehr informativ zu lesen, was sich in Sachen Prävention seit 2010 getan hat. Die vielfältigen Konsequenzen, die etwa die katholische Kirche oder der DPWV gezogen haben, sind aller Ehren wert, auch wenn sie nicht im entferntesten so intensiv wahrgenommen werden wie die schrecklichen Anlässe.
Einige kleinere kritische Anmerkungen seien dennoch gestattet:
- Die Herausgeber gehen in ihrem einleitenden Artikel von Max Webers Machtbegriff aus und bringen das Phänomen der „sexualisierte(n) Gewalt in pädagogischen Kontexten“ in die definitorische Nähe „der Autoritätsmacht als einer institutionalisierten Form von Macht“ (S. 14). Hier scheint der Begriff „Macht“ doch in verhängnisvoller Nachbarschaft zu dem, was eigentlich mit „Gewalt“ beschrieben werden sollte. Wenn das (Macht-)Verhältnis zwischen Klient und Helfer auf „Willensdurchsetzung“ auf der einen und „Fügsamkeit“ auf der anderen Seite reduziert wird, ist der gedankliche Schritt nicht weit, dass (Autoritäts-) Machtausübung für sich genommen schon Missbrauch impliziert. Unabhängig davon, dass schon Hannah Arendt (1990) eine notwendige Differenzierung zwischen Macht und Gewalt vorgenommen hat, hinter die man kaum zurück kann, steht doch die Frage im Raum, wie ohne eine (recht verstandene) legitime Machtausübung pädagogische und politische Prozesse professionell gestalten werden sollen (siehe etwa den Macht-Begriff von Staub-Bernasconi, Überblick in: Sagebiel 2007).
- Wenn es um Gewalt und Machtmissbrauch in Institutionen geht, stehen die professionellen Helfer im Mittelpunkt. Die Familie als informelles Hilfesystem (Artikel von Krampen) passt gar nicht unter diese Kategorie, Cyberbullying (Artikel von Steffgen) nur bedingt. Hinzuzufügen ist, dass beide Artikel dennoch lesenswert und äußerst informativ sind.
- Dagegen wäre man dankbar gewesen, etwas über die Situation in der aktuellen Heimlandschaft zu hören, besonders da sich an ihr ja die gegenwärtige Diskussion entzündet. Es ist zwar historisch interessant, die Bedingungen der 50er- und 60er-Jahre zu kennen, aber der Verweis „Anstalten bleiben Anstalten, auch wenn sie sich modernisiert haben“ (Schrapper, S. 64), stillt das auf Aktualität bezogene Interesse nur sehr bedingt.
- Angesichts der offenkundigen Probleme in Psychiatrien und insbesondere in Einrichtungen des Maßregelvollzugs („Fall Mollath“) wäre es dringend notwendig gewesen, den psychotherapeutischen und medizinischen Bereich einzubeziehen. Dieser Problemzusammenhang ist nicht ganz neu, schon Schmidbauer (1997) hat darauf hingewiesen.
- Ein analytischer Artikel über Bedingungszusammenhänge von Helfergewalt, etwa in Fortführung dessen, was Tschan beschrieben hat („Institutionen als Hochrisikobereiche“), wäre nicht schlecht gewesen.
Fazit
Wir haben es mit einem sehr lesenswerten Buch zu tun, das in kompakter und fachlich ansprechender Form aktuelle Arbeitsfelder beleuchtet, in denen Gewaltverhältnisse zwischen Professionellen und Klienten anzutreffen sind. Es ist aktuell und liefert viele wissenschaftliche Grundlagen. Das Buch bietet außerdem Ansatzpunkte für die Prävention und zeigt sowohl, was schon geschieht, als auch, was noch geschehen kann.
Literatur
- Arendt Hannah: Macht und Gewalt, München-Zürich 1990
- Sagebiel Juliane: „Macht in der Sozialen Arbeit“. In: Fachlexikon der sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, S. 625
- Schmidbauer Wolfgang: Wenn Helfer Fehler machen. Liebe, Missbrauch und Narzissmus, Reinbek 1997
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Wolfgang Klug. Rezension vom 21.07.2014 zu:
Helmut Willems, Dieter Ferring (Hrsg.): Macht und Missbrauch in Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven auf institutionelle Kontexte und Strategien der Prävention. Springer VS
(Wiesbaden) 2014.
ISBN 978-3-658-04296-7.
Reihe: Research.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16773.php, Datum des Zugriffs 15.10.2024.
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