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Bernhard Nolz, Wolfgang Popp (Hrsg.): Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.10.2014

Cover Bernhard Nolz, Wolfgang Popp (Hrsg.): Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung ISBN 978-3-643-12092-2

Bernhard Nolz, Wolfgang Popp (Hrsg.): Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung. Jüdische Autorinnen und Autoren in der neueren deutschen Literatur. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2014. 312 Seiten. ISBN 978-3-643-12092-2. 29,90 EUR.
Friedenskultur in Europa ; Bd. 5.

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Erinnern als Humanum

Die Entwicklung der Kompetenz, sich erinnern zu können, wird als unverzichtbare, für eine humane Existenz notwendige Bildungs- und Erziehungsaufgabe verstanden: „Der Mensch existiert im wesentlichen Teilen aus Erinnerungen an Gewesenes, das für ihn, für seine Entwicklung, für sein Menschsein Bedeutung hat“. Im Diskurs um Bildungs- und Erziehungsprozesse hat eine Erinnerungskultur persönlichkeits- und identitätsstiftende Funktionen (Astrid Erll, Gedächtnis- und Erinnerungskulturen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php; Christian Gudehus, u.a., Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12904.php). Dabei vollzieht sich das Erinnern in vielfältigen Ausprägungen. Wir erinnern uns an Situationen, Vorfälle und Orte (Pim den Boe u.a., Hrsg., Europäische Erinnerungsorte. 3. Europa und die Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13336.php); Erinnerungen werden durch Erzählungen und Literatur vermittelt.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Geschichte als Erzählung, Berichterstattung und durch literarische Erzeugnisse gilt im Allgemeinen als die bedeutsamste Form der Fähigkeit, sich erinnern zu können. Eine auf Aufklärung und demokratischem Bewusstsein basierende Erinnerungskompetenz liegt der Friedenserziehung zugrunde, wie sie z. B. von der UNESCO-Empfehlung „über die Erziehung zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit und zum Frieden in der Welt sowie die Erziehung zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ vom 19. November 1974 gefordert wird (Deutsche UNESCO-Kommission, Empfehlung zur „internationalen Erziehung“, 2. Aufl., Bonn 1990, 37 S.).

An der Universität Siegen gibt es seit vielen Jahren das „Zentrum für Friedenskultur“, das von dessen Geschäftsführer Bernhard Nolz und dem Didaktiker für Deutsche Literatur, Sprache und ihre Didaktik, Wolfgang Popp, geleitet wird. Aus der Arbeit ist die „Initiative Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF)“ hervorgegangen. Als Diskussionsforum der Initiative dient die Vierteljahreszeitschrift „et cetera ppf“. Bernhard Nolz und Wolfgang Popp reagieren mit ihrem Buch „Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung“ auf die eindringlich und immer wieder vorgebrachten Mahnungen, die Taten des NS-faschistischen Massenmords nicht zu vergessen, auf die Enttäuschungen, dass nach fast 80 Jahren nach dem Holocaust die heutige Jugend die Erinnerung an den NS-Faschismus im allgemeinen als etwas Vergangenes, nicht (mehr) zum aktuellen Leben Gehörendes betrachtet.

Weil aber Erinnerungsfähigkeit und -verantwortung nicht automatisch von Generation zu Generation weiter getragen wird, sondern ethische und moralische Herausforderung ist, muss immer wieder versucht werden, sie zu erzeugen und bewusst zu machen. Literarische Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden, von Zeitzeugen und jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern bieten eine Möglichkeit an, sich bewusst zu werden, dass die Shoa eine Gräueltat ist und bleibt, für die auch „Nachkommen der NS-faschistischen Täter leben müssen“.

Aufbau und Inhalt

Es ist weder der erhobene Zeigefinger, noch die Drohgebärde, schon gar nicht der Vorschlaghammer, die die ausgewählten Texte der jüdischen Autorinnen und Autoren kennzeichnet; vielmehr sind es eindrückliche Aussagen von Überlebenden, die bei aller Vielfalt und den persönlichen Geschichten und Schicksalen eines verbindet: Die Bindung an die deutsche Literatursprache, ihrem „Sprachzuhause“, etwa bei Hilde Domin, aber auch der „Sprachzerbrechlichkeit“, bei Ilse Eichinger, und der „Sprachmehrdeutigkeit“ bei Paul Celan. Es sind Texte von bekannten jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die Eingang in die Schulbücher gefunden haben; von Geehrten und Preisträgern; aber auch von mittlerweile Unbekannten und Vergessenen.

Wolfgang Popp stellt das Gedicht „Der Fels wird morsch, dem ich entspringe“ von Else Lasker-Schüler (1869 – 1945) vor und setzt sich mit dem Werk der jüdischen Autorin auseinander; ebenso mit ausgewählten Gedichten von Nelly Sachs (1891 – 1970). Er stellt Schicksal und Werk des Exilanten Hermann Kesten (1900 – 1996) vor. Mit dem Aufschrei „Mein aus Verzweiflung geborenes Wort“ drückt Rose Ausländer (1901 – 1988) den Zwang aus, „dass ihr Überleben des Holocaust ganz existentiell von ihrem Schreiben, vom Zwang Gedichte zu verfasen, abhing“. Mit der Verzweiflung „Meine Krankheit heißt Auschwitz“ formulierte Grete Weil (1906 – 1999) ihre Motive, als Schriftstellerin tätig zu sein. Der Arzt und Schriftsteller Hans Keilson (1909 – 2011) beschreibt sein Leben als Jude zwischen Schmähungen und Ehrungen: „… ein Tropfen Liebe würzt das Hassen“; trotz allen Hassens und Verfolgens aber gibt es etwas, das Hermann Adler (1911 – 2000) bekennen lässt: „… stärker aber ist die Liebe“. Denn es ist das „Dennoch“, das viele überlebende Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegen die Unmenschlichkeit anschreiben ließ: „Abel steh auf, damit es anders anfängt“, so hat Hilde Domin (1912 – 2006) ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht. Auch der Theaterschriftsteller Peter Weiss (1916 – 1982) bekennt: „Meine Ortschaft – Auschwitz“. Der Zumutung „Schreiben nach dem Holocaust“ stellt sich auch die 1921 geborene und in Wien lebende Schriftstellerin Ilse Aichinger. Schließlich ist es Erich Fried (1921 – 1988), der mit „Höre Israel“ zu historischen und aktuellen Fragen von Recht und Unrecht, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Angst, Zweifel und Zuversicht Position bezieht.

Der Künstler, Schriftsteller und Lehrer Olaf neopan Schwanke fordert auf, das Werk von Gertrud Kolmar (1894 – 1943) neu zu entdecken. Ihre eindringlichen und ausdrucksstarken Gedichte sollten dazu beitragen, dass außer „Nur Nacht hört zu“, ihre Klagen zu Aufrufen zu einem humanen Leben werden können.

Der Siegener Literaturwissenschaftler Nils Wilkinson fragt, wie man angesichts der Erfahrung des Holocaust sprechen und schreiben könne: „Heimgeführt Silbe um Silbe“, wie es in dem Gedicht „Unten“ von Paul Celan (1920 – 1970) heißt.

Clarissa Kempken verweist mit der Erinnerung „Ich trug den gelben Stern“ auf das Lebensschicksal und literarische Werk der 1922 geborenen deutsch-israelischen Journalistin und Schriftstellerin Inge Deutschkron. Ihr Leben in Israel und ihre Wurzeln in Deutschland ankern zwischen den aktuellen Bedrohungen ihres Landes und dem Bemühen, die Erinnerung an den Holocaust dort wie hier wach zu halten.

Bernhard Nolz notiert den Ausspruch des 1926 in Leipzig geborenen und heute in Berlin lebenden Schriftstellers Edgar Hilsenrath: „Solange ich rede, bin ich noch nicht tot“. Und er spricht in seinem literarischen Werk über das Überleben und das Frieden machen, als wichtigste Aufgabe der Menschen an. „… die Geschichte vom gezeichneten, tief verletzten Menschen“ erzählt auch der 1928 in Reinbek bei Hamburg geborene und heute in Paris lebende französisch-deutsche Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt; und der 1929 geborene Schriftsteller Günter Kunert. Mit seinen Erinnerungen – „Obwohl im Heimatland, fühlte man sich in der Fremde“ – seiner Verzweiflung und seinem Pessimismus – „Ich bin ein Sucher / Eines Weges… / Für mehr / Als mich“ – erinnert Günter Kunert an die Exilschriftstellerinnen und -schriftsteller und erhofft sich, dass Ignoranz, Hass und Unmenschlichkeit auch durch ihre Mahnungen überwunden werden könnten. Mit der Hoffnung „Weiter leben“ drückt die 1931 in Wien geborene und heute in den USA und Göttingen lebende US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen als Jüdin aus.

Fazit

Erinnerungskultur braucht Boden! Die Grundsätze, wie die notwendige Erinnerung an den Holocaust, seinen Ursachen und Wirkungen als selbstverständliches Bildungsziel einer demokratischen und friedenspädagogischen Aufklärung in das Bewusstsein der Menschen gebracht werden kann, müssen implementiert werden in den Bildungs- und Erziehungsprozess humanen Denkens und Handelns. Literarische Zeitzeugenberichte können dafür eine Basis bilden. Die im Band „Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung“ ausgewählten, dokumentierten und interpretierten Texte sind didaktische und methodische Materialien, um ein Gerüst zu bauen gegen Faschismus, Imperialismus und Rassismus (vgl. dazu auch: Helmut Ortner, Hitlers Schatten, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/16052.php).

Angesichts der anscheinend zunehmenden Tendenzen von Antisemitismus, und zwar nicht nur durch Ewiggestrige und rechtsradikale Kräfte, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, bei Alten und Jungen, Männern und Frauen, ist es angezeigt, die Intelligenz des Erinnerns und Verantwortens wach zu halten!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245