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Andreas Knuf, Ulrich Seibert: Selbstbefähigung fördern (psychiatrische Arbeit)

Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Herriger, 01.07.2001

Cover Andreas Knuf, Ulrich Seibert: Selbstbefähigung fördern (psychiatrische Arbeit) ISBN 978-3-88414-253-0

Andreas Knuf, Ulrich Seibert: Selbstbefähigung fördern. Empowerment und psychiatrische Arbeit. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2000. 300 Seiten. ISBN 978-3-88414-253-0. 22,90 EUR.

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Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-88414-413-8 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Einführung in das Thema

Der Begriff "Empowerment" bedeutet Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, Stärkung von Eigenmacht und Autonomie. Im Mittelpunkt stehen hier die subjektiven Entwicklungsgeschichten von Menschen, denen es gelingt, sich aus einer Situation der Ohnmacht zu befreien und ein Stück mehr Macht für sich zu gewinnen (politische Macht; Kompetenz in der Bewältigung alltäglicher Lebensbelastungen). Empowerment beschreibt somit mutmachende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen. Empowerment - auf eine kurze Formel gebracht - zielt auf die (Wieder)Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags.

Das Empowerment-Konzept, ursprünglich eine Importware aus dem angloamerikanischen Sprachraum, hat in den letzten Jahren auch in unseren Breitengraden eine intensive wissenschaftliche und praktische Rezeption erfahren (vgl. zur Einführung Herriger 1997; Stark 1996; Miller/Pankofer 2000). Es mehren sich Veröffentlichungen, die das Empowerment-Konzept ‚praktisch wenden‘ und konkrete Arbeitsanleitungen geben, mit deren Hilfe es möglich wird, die psychosoziale Praxis in ausgewählten Handlungsfeldern entlang von Empowerment-Leitlinien zu renovieren. So auch der vorliegende, von Andreas Knuf und Ulrich Seibert herausgegebene Sammelband. Sein Anliegen ist es, das Empowerment-Konzept für die (insbesondere stationäre) psychiatrische Praxis fruchtbar zu machen. Empowerment ist den hier versammelten Autoren gemeinsam das programmatische Kürzel für eine psychiatrische Praxis, deren Ziel es ist, die Selbsthilferessourcen von psychiatrie-erfahrenen Menschen im Hinblick auf Krankheitsbewältigung, Alltagsgestaltung und individuelle Vorsorge zu stärken, sie bei der Rückeroberung ihres Alltags zu unterstützen und ihnen Perspektiven der Einflußnahme auf Behandlungsstrukturen, therapeutischen Alltag und gesundheitspolitische Versorgung zu eröffnen. "Selbstbefähigung fördern – so lautet das Anliegen des vorliegenden Buches". Angeleitet wird es von der Frage: "Wie können professionell Tätige das Empowerment ihrer Klienten fördern, begleiten und unterstützen? Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit es Menschen gelingt, sich ihrer ungenutzten, vielleicht auch verschütteten Ressourcen und Kompetenzen (wieder) bewußt zu werden, sie zu erhalten, zu kontrollieren und zu erweitern, um ihr Leben selbst zu bestimmen und ohne expertendefinierte Vorgaben eigene Lösungen für Probleme zu finden?" (S. 5f.).

Gliederung und Inhalt

Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Teile:

    Eingeleitet wird das Buch durch drei kurze Beiträge zur Definition von Empowerment (18ff.), zur konzeptionsgeschichtlichen Herkunft dieses Denkrasters (10ff.) und zum Paradigma einer "subjektorientierten Psychiatrie" ("Nutzer-Orientierung"), die auf Instrumente einer zwangsbestimmten Intervention in die Lebensverläufe psychiatrisch erkrankter Menschen verzichtet und ihr unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellt (20ff.).
  1. Der zweite Teil gilt einer Präzisierung des Empowerment-Konzeptes und der Buchstabierung einer ressourcenorientierten professsionellen Haltung ("Empowerment-Haltung"; 40) für MitarbeiterInnen im Feld der Psychiatrie. Gemeinsam ist den (von den beiden Herausgebern verfaßten) Beiträgen dieses Teils das Bemühen, die Essentials einer veränderten professionellen "Philosophie der Menschenstärken" (Herriger) zu formulieren, die ihren Fokus auf die Förderung von Potentialen der Selbstorganisation und des solidarischen Handelns legt – die sich also von Mustern einer bevormundenden und expertendominierten Hilfe abwendet, die lebensgeschichtlich erworbenen personalen und sozialen Ressourcen ihrer Adressaten fördert und ihre Partizipations- und Entscheidungsrechte unterstützt. Thematisiert werden hier: der Umgang mit Information in psychiatrisch-therapeutischen Settings und das Informationsrecht der Betroffenen; selbstbefähigende und ressourcenstärkende Arbeitsansätze in der Psychose-Therapie; die therapeutische Förderung von Krankheitseinsicht und Orientierung in Phasen der Verwirrung; Konfliktbearbeitung und Mediation im sozialen Umfeld; gefährdete Identität von krankheitsbetroffenen Menschen und Alternativen zu einer entmündigenden Krankenrolle.
  2. Der dritte Teil der Arbeit schließlich versammelt die Beiträge mehrerer Autoren, die an unterschiedlichen Orten in der psychiatrischen Praxis tätig sind und die für ihr jeweiliges Handlungsfeld neue Wege eines empowerment-orientierten Umgangs mit psychisch kranken Menschen vorstellen. Vor allem diese Beiträge aus der Praxis – obwohl nicht durch einen gemeinsamen theoretischen Leitfaden miteinander verbunden – sind mit Gewinn zu lesen. Sie liefern eine Fundgrube von Anregungen und dokumentieren für den Leser nachvollziehbar und beispielgebend die mühsamen kleinen Schritte hin zu einem neuen Paradigma psychosozialen Arbeitens, das psychisch kranke Menschen als "Experten in eigener Sache" ernst nimmt, die Autonomie ihrer Lebensgestaltung achtet und einen machtgleich-partnerschaftlichen Dialog zwischen Betroffenen und beruflichen Helfern etabliert. Themen dieses Teils sind: Organisationsentwicklung und der veränderte institutionelle Zuschnitt einer klinisch-psychiatrischen Station; Nutzermitbestimmung und Partizipation im psychiatrischen Alltag; Empowerment und die Notwendigkeit eines zwangsbestimmten schützenden Eingreifens (insbesondere bei Suizidalität); Selbstbefähigung im Umgang mit Medikamenten und therapeutischen Reglements; Arbeitsansätze der Selbsthilfe von psychiatrie-erfahrenen Menschen; Empowerment-Projekte in den USA. Ein hilfreiches Frageraster zu Empowerment-Prozessen, das insbesondere im Rahmen von Organisationsberatung, Team-Entwicklung und fachlicher Supervision eingesetzt werden kann, beschließt das Buch (278ff.).

Kritische Anmerkungen und abschließende Einschätzung

Die vorliegende Arbeit ist ein Buch geschrieben von Praktikern für Praktiker. Zielgruppe sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Diensten und Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung (Ärzte; Psychologen; Sozialarbeiter; MitarbeiterInnen in pflegenden Berufen), die auf der Suche nach neuen Orientierungen für ihre institutionell-berufliche Praxis sind.

Zwei kritische Anmerkungen sollen diese Rezension abschließen:

  1. Obwohl anregend und mit Gewinn zu lesen, fehlt den Fremdbeiträgen des dritten Teils ein ordnendes Raster. Hier dokumentiert sich ein Nachteil, der auch viele andere Sammelbände charakterisiert: Die Herausgeber haben es versäumt, diese Beiträge aus unterschiedlichen Handlungsfeldern der psychiatrischen Praxis auf ein gemeinsames begriffliches und theoretisches Fundament zu stellen, das es dem Leser möglich gemacht hätte, die jeweilige Umsetzung und Verwirklichung des Empowerment-Konzeptes im Hinblick auf folgende Aspekte zu prüfen und miteinander zu vergleichen: leitendes Menschenbild; methodisches Handwerkszeug und notwendiges Kompetenzprofil der MitarbeiterInnen; Veränderungen des räumlichen Settings, der administrativ-rechtlichen Verfahren und der institutionellen Strukturen. Herausgekommen ist so ein unverbundenes Patchwork von Beiträgen, die den Rückbezug auf ein gemeinsames Empowerment-Verständnis vermissen lassen. In dieser nur additiven Sammlung aber verschwimmen die Konturen dessen, was Empowerment in der psychiatrischen Praxis ist und sein könnte. Das Empowerment-Verständnis, das hier zwischen den Zeilen formuliert wird, reduziert sich auf zwei Stichworte: "partnerschaftliche Kooperation" und "Mitbestimmung/ Nutzerbeteiligung". Daß Empowerment ein weit umfangreicheres und ansprüchlicheres Konzept ist, daß psychiatrische Strukturen nach wie vor von Machtasymmetrien und der Herrschaft der therapeutischen Experten durchzogen sind, daß der Abschied von der Dominanz der Experten und die Aneignung einer Perspektive der Menschenstärken sich an vielfältigen personalen und institutionellen Widerständen stoßen kann – davon in diesem Buch kein Wort.
  2. Der Anspruch, ein Buch von Praktikern für Praktiker zu schreiben, entbindet nicht von der Verpflichtung zu wissenschaftlicher Sorgfalt und Redlichkeit. In den von den beiden Herausgebern verantworteten Teilen 1 und 2 bedienen sich die Verfasser in weiten Passagen anderer Grundlagentexte zum Thema. Ärgerlich ist, daß umfangreiche zitierte oder referierte Fremdtexte (Herriger/Antonovsky/Weik; 33/38/40ff.) es den Herausgebern nicht wert sind, im Literaturteil erwähnt zu werden. Kann man dies noch als herausgeberische Nachlässigkeit interpretieren, so ist aber in besonderem Maße ärgerlich, daß insbesondere das umfangreiche Einleitungskapitel von Knuf (33ff.) nicht mehr ist denn die Paraphrase eines Grundlagentextes (Herriger 1997), dessen Nutzung jedoch ebenfalls an keinem Ort erwähnt wird. Hier sind die Grenzen der wissenschaftlichen Redlichkeit überschritten, und man hätte dem Buch ein sorgfältigeres Lektorat gewünscht. Insgesamt also: ein Buch mit viel Licht und einigem Schatten.

Weiterführende Literatur zum Thema "Empowerment"

  • Herriger, N.: Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Stuttgart 1997
  • Stark, W.: Empowerment. Neue Handlungsperspektiven in der psychosozialen Praxis, Freiburg i.B. 1996
  • Miller, T./Pankofer, S. (Hg.): Empowerment konkret. Handlungsentwürfe und Reflexionen aus der psychosozialen Praxis. Stuttgart 2000

Rezension von
Prof. Dr. Norbert Herriger
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Professor für Soziologie sozialer Probleme, Soziologie der Lebensalter, Theorie der Sozialen Arbeit
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Es gibt 7 Rezensionen von Norbert Herriger.

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Zitiervorschlag
Norbert Herriger. Rezension vom 01.07.2001 zu: Andreas Knuf, Ulrich Seibert: Selbstbefähigung fördern. Empowerment und psychiatrische Arbeit. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2000. ISBN 978-3-88414-253-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/168.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.


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